Deutschlands Städte sind gespalten. Auf der einen Seite die Verfechter/-innen autogerechter Verkehrsplanung – auf der anderen Pionier/-innen einer neuen, alternativen Mobilität.
Wie lässt sich der Weg hin zur urbanen Mobilitätswende einschlagen? Wie nutzen wir öffentliche Räume?
Darüber diskutierten Anne Klein-Hitpaß, Projektleiterin für Städtische Mobilität bei der Agora Verkehrswende, Michael Obert, Bürgermeister a.D. der Stadt Karlsruhe sowie Florian Schmidt, Bezirksstadtrat für Berlin -Friedrichshain-Kreuzberg.
Anne Klein-Hitpaß erläuterte die Arbeit von Agora Verkehrswende. Ziel der Organisation ist es, Deutschland im Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses zur Verkehrswende zu führen. Agora Verkehrswende bietet dabei im Rahmen des Netzwerks Urbane Verkehrswende und darüber hinaus Städten, Organisationen und weiteren Akteuren die Möglichkeit, sich zu vernetzen und in den Bestrebungen für eine Verkehrswende voneinander zu lernen.
Laut Klein-Hitpaß beginnen aktuell in vielen Städten Diskussionen über öffentlichen Raum und die Frage, wie wir diesen nutzen. Die Bereitschaft, über eine Verkehrswende zu diskutieren, sei vielerorts zunehmend vorhanden. Selbst traditionelle Verbände, wie Industrie- und Handelskammern seien zum Teil Veränderungen gegenüber offen eingestellt. Dabei sei es wichtig, dass sich Handelnde in der Kommunikation über die Motivation der Verkehrswende nicht auf den Klimaschutz begrenzen. Es gehe auch um die Steigerung der Lebensqualität, saubere Luft, Lärmschutz und Staureduktion.
Die Bestandsaufnahme ergebe, dass das Auto noch immer im Mittelpunkt der Mobilität steht. Dies zeige insbesondere die Rechtsgrundlage des Verkehrs, festgelegt in der Straßenverkehrsordnung, die deutlich auf den motorisierten Individualverkehr zugeschnitten ist. Das Autoprivileg manifestiere sich aber auch in einem Gewohnheitsrecht pro KFZ. So werden Radweg- oder Zweite-Reihe-Parken vielfach als Bagatelldelikt wahrgenommen und auch nicht angemessen geahndet. Hier gelte es seitens der Kommunen gegen dieses Unrechtsbewusstsein vorzugehen und seitens des Gesetzgebers den Rechtsrahmen anzupassen.
Ferner hat sich Agora Verkehrswende mit der Frage beschäftigt, wie man Menschen auf den Weg der Verkehrswende mitnimmt. Insbesondere in der Frage der notwendigen Flächenumverteilung stünden viele KFZ-Halter vor Verlustängsten. So seien mehr Mut und weniger Schärfe in der Diskussion notwendig. Oftmals sei mutige Kommunalpolitik einem „Shitstorm“ ausgesetzt. Deshalb gelte es, Bündnisse mit lokalen Organisationen zu schmieden und gemeinsam die Richtung auszuloten, um das aktuell offene Fenster für die Verkehrswende zu nutzen.
Florian Schmidt stellte zunächst das Engagement des Berliner Bezirks Friedrichhain-Kreuzberg für die urbane Verkehrswende vor. Der Bezirk verfolgt die Strategie einer Verkehrswende im Amt und „von unten“. Die Radinfrastruktur wird dabei als Zugpferd genutzt. Weitere Eckpunkte sind die Barrierefreiheit für den Fußverkehr, sowie verkehrsberuhigte und autofreie Kieze als Orte der Auseinandersetzung.
Zwar sei es wichtig, in der Frage der Verkehrswende mit so vielen Beteiligten wie möglich in den Dialog zu treten und Bündnisse zu bilden, um Partizipation zu ermöglichen und sich des Rückhalts sicher zu sein, aber laut Schmidt müssen diese Prozesse klar abgesteckt sein und letztlich sei es im Rahmen einer politischen Mehrheit auch legitim, verkehrliche Maßnahmen trotz Skepsis oder Ablehnung in Teilen der Bevölkerung umzusetzen.
Schmidt setzt auf eine aktive Zivilgesellschaft vor Ort, die Modellprojekte und Umgestaltungen im Sinne eines „Systemwechsels auf Kiezebene“ unterstützt, sowie eine umsetzungsstarke Verwaltung. Letzteres erfordere insbesondere Aufstockungen beim für den Umweltverbund zuständigen Personal, ein konsequentes Umdenken und ein Ende von autoideologischen Blockaden. Jahrzehntelang seien Verkehrsverwaltungen zu stark auf das Auto fokussiert gewesen.
Schmidt ermutigte lokale Akteur/-innen, sich nicht von Negativpresse beeinflussen zu lassen und hielt an der Losung fest, Maßnahmen auch auf Kosten von Autoparkplätzen umzusetzen.
Michael Obert, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Karlsruhe erläuterte, wie seine Stadt zur Fahrradstadt wurde. So sei Karlsruhe in Mobilitätsfragen schon immer sehr fortschrittlich gewesen und habe erkannt, dass Verkehrsplanung vor allem Angebotsplanung ist. Erst durch ein entsprechend attraktives Angebot sei es möglich, Menschen zum Umstieg auf einen anderen Verkehrsträger zu bewegen. Entsprechend sei Karlsruhe auch beim Radverkehr vorgegangen. Im Rahmen eines 20-Punkte-Programms hat sich die Stadt 2005 das Ziel gesetzt, den Radverkehrsanteil von 16% auf 25% im Jahr 2015 zu steigern. Die Besonderheit: Das Konzept wurde ohne Widerstand einstimmig im Stadtrat beschlossen. Auch Entscheidungen zur Umsetzung des Konzepts wurden und werden laut Obert stets einstimmig gefällt.
Die Zahlen belegen, dass die Steigerung des Radverkehrsanteils maßgeblich auf Kosten des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) erreicht wurde. Karlsruhe hat laut Obert einige natürliche Vorteile, die das Fahrrad zu einem optimalen Verkehrsträger machen. So zeichnet sich die Stadt durch eine flache Topografie, einen kompakten Stadtkern und einen hohen Anteil fahrradaffiner Studierender aus.
Die Einstimmigkeit des Karlsruher Fahrradförderung zeichne sich dadurch aus, dass sich 2011 im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplans die IHK, Umweltorganisationen und die Parteien einstimmig auf ein Szenario für stadtverträglichen Verkehr geeinigt haben. Begleitet werden die Prozesse zudem von einer radaffinen Lokalpresse. Obert betonte, es sei wichtig, insbesondere die Akteur/-innen zusammenzubringen, von denen man Gegenwind erwarte, und auf eine Veränderung ihrer Sichtweise durch frühes Ausräumen von Sorgen hinzuwirken.
In der Umsetzung des Verkehrsentwicklungsplans habe die Stadt Karlsruhe konsequent die Fahrradinfrastruktur verbessert - angefangen mit einfachen Maßnahmen, wie die beidseitige Befahrbarkeit von Einbahnstraßen, sodass alle Beteiligten schnell die Wirksamkeit des Konzeptes wahrnehmen konnten.
Aktuell sei zunehmend auch der parkende MIV im Fokus. So sei eine Verkehrswende noch nicht erreicht, solange das Auto noch im öffentlichen Raum untergebracht sei. Laut Obert wurde das Gehwegparken zu lange von offizieller Seite geduldet. Schließlich habe man sich seitens der Stadt für die Umsetzung eines Programms unter dem Titel „faires Parken“ entschieden, das das Gehwegparken konsequent unterbinden soll. Hierbei habe es zwar anfangs Widerstände bei Teilen der Bürger/-innen gegeben, doch die gewonnene Lebensqualität nach Umsetzung der Maßnahme habe zu einem Abebben des Protests geführt. Er vermutet zum Teil Gewöhnungsaspekte als Ursache für Widerstände gegen Maßnahmen der Verkehrswende, die sich aus dem Weg räumen lassen, wenn die Vorteile einer Umgestaltung für die Menschen erlebbar sind.
Auch Bezirksbürgermeister Schmidt betonte, dass die Umsetzung von Verkehrswendemaßnahmen stets ein höchst emotionales Thema sei und viel Gegenwind komme. Eigentliche politische Partner verurteilten Projekte allein aus politischem Kalkül, und die Presse inszeniere häufig Proteste. Doch in Beteiligungsveranstaltungen vor Ort wünschten sich viele Menschen radikale Schritte in Richtung Verkehrsberuhigung und autoarmer Mobilität. Deshalb sei es häufig sinnvoll, die Repräsentativität von Widerstand gegen entsprechende Maßnahmen zu hinterfragen. Zwar hält er es für sinnvoll, Partner mitzunehmen und in einen Konsensprozess zu gehen, aber es sei schwierig, wirklich alle mitzunehmen.
Frau Klein-Hitpaß erklärte, dass Agora Verkehrswende ähnliche Probleme, wie sie Friedrichshain-Kreuzberg kennengelernt hat, überall im Land feststellt. Irgendwann stelle sich immer Gegenwind ein. Der Dialog werde stets schnell ideologisch und ein Teil der Menschen sei immer negativ eingestellt, während auf der anderen Seite einige Pionier/-innen den Fortschritt ankurbeln. Wichtig sei es aber, sich die „schweigende Mehrheit“ von 65% in der Mitte anzuschauen.
Herr Obert ergänzte, dass es beispielsweise über den Fußverkehr möglich sei, alle Menschen mitzunehmen. Selbst die „eingefleischtesten Automenschen“ müssten auch zu Fuß gehen. Ferner sei es sinnvoll, nicht nur aus der Perspektive der Umwelt zu argumentieren, sondern auch die gewonnene Lebensqualität herauszustellen. Letztlich sei es wichtig zu hinterfragen, ob die Lautesten in einer Stadt wirklich die Mehrheitsposition einnehmen, denn eine lebenswerte Stadt sei schließlich im Interesse aller Menschen.
Frau Klein-Hitpaß betonte, dass es wichtig sei, Mobilitätsplanungen vor ihrer Umsetzung öffentlich zu begleiten und allen Menschen Partizipation zu ermöglichen. Dies sorge für eine höhere Akzeptanz und gebe die Möglichkeit, bei eintretenden „Shitstorms“ auf den für alle offenen Beteiligungsprozess zu verweisen.
Herr Schmidt vertrat hingegen die Meinung, dass Beteiligungen nur dort sinnvoll seien, wo die Menschen auch inhaltlich etwas beisteuern könnten. Auch bei richtungsweisenden Mobilitätsplänen seien politische Entscheidungen ohne große Partizipation druch das demokratische Mandat der Wahl legitimiert.
Hinsichtlich des Potenzials des Wandels weg vom Auto in Deutschland merkte Frau Klein-Hitpaß an, dass aufgrund des Renteneintritts geburtenstarker Jahrgänge aktuell gar mit einem Verkehrszuwachs gerechnet wird. Junge Menschen scheinen zwar weniger autoaffin, doch häufig entstehe beispielsweise mit dem Hinzutreten von Kindern mit der Zeit doch ein Bedürfnis danach. Aus Klimaschutzgründen hätten wir aber kaum mehr Zeit, die große Transformation im Verkehrssektor weiter hinauszuzögern.
Schmidt ergänzte, dass die Autoliebe in Deutschland viel mit unserer gegenwärtigen Lebenskultur zu tun habe. Es sei eine klare Vision eines autoarmen Lebens in der Stadt notwendig, um die Menschen zu begeistern.