In Bewegung: Die neue Rassismus-Debatte

Analyse

Dass ein weißer Polizist den Schwarzen George Floyd nicht mehr atmen ließ, hat vieles in Bewegung gebracht. Nicht nur auf den Straßen in den USA. Groß erscheint die Entschlossenheit vielerorts, mit Rassismus aufzuräumen. Auch in Deutschland hat die Dekolonisierungsbewegung einen Schub erhalten. Auf der anderen Seite: Widerstände. Generalverdachtsvorwürfe von Seiten der Polizei. Seit einem Monat stecken wir inmitten einer neuen Rassismus-Debatte. Die Frage ist: Was kommt danach?

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Politologin, Journalistin und Moderatorin Hadija Haruna-Oelker

Nach dem Attentat von Hanau haben wir verpasst, über Rassismus zu sprechen. Endlich passiert es, könnte man also sagen. Oder Corona sei Dank, weil das Thema dadurch zwar verdrängt wurde, aber vielleicht genau deshalb jetzt so viel mehr Raum bekommen hat als erwartet, weil in Krisen viele Menschen empathischer und offener werden. Doch stellt der gewaltsame Tod George Floyds und die Folgen der Proteste Menschen auch vor Herausforderungen. Zu verstehen und zu berichten, wozu es an Expertise mangelt, weil sich gesellschaftlich kaum bis nie vertieft mit dem Thema Rassismus beschäftigt wird. Wir sind sprachlos, weil wir uns zu wenig mit dem Kolonialrassismus, seiner Geschichte, Sprache und ihren Bildern auseinandergesetzt haben. Veraltet ist hierzulande der Kenntnisstand über den Rassismusdiskurs der vergangenen Jahrzehnte. Daraus speist sich die Unsicherheit, wenn es um die Auseinandersetzung mit Schwarzem Leben in Deutschland geht.

Neue Rassismus-Debatte: Ist es dieses Mal anders?

Beim Versuch, jetzt mit Rassismus aufzuräumen, wird nun vielerorts diskutiert und aussortiert. Ran an die Strukturen, aber wie ist die Frage? Ein neues Polizeigesetz in Bremen will Racial Profiling verbieten. Das Logo eines Reisherstellers und ein Gemälde im Frankfurter Städel landen ebenso auf den Prüfstand wie alte Flaggen, Denkmäler und Straßennamen. Unternehmen diskutieren über mehr Diversität in den eigenen Reihen. Talkshows und Sonderschwerpunkte besetzen nach harscher Kritik ihre Gästeliste erstmals wiederholt mit Schwarzen Menschen, die über strukturelle Probleme sprechen. Nach Corona wird in den Redaktionen Rassismus das Top-Thema 2020.

Die neue Rassismus-Debatte schwappt seit knapp einem Monat übers Land und viele Schwarze Menschen müssen sich in diesem Strudel erst einmal sortieren. Es geht in dieser Debatte auch erstmalig primär um sie. Sie alle gelten plötzlich als Expert*innen für Rassismus, obgleich die Erfahrung damit einen nicht dazu macht. Wer spricht und zu welchem Aspekt, von denen es unzählige gibt, wenn es um das Thema geht? Die Böden werden überall aufgerissen und allerorts bräuchte es Schulungen, um die komplexen Zusammenhänge, die Infrastruktur des Rassismus zu verstehen. Es zeigt sich wieviel Nachholbedarf es gibt, auch wenn das, was wir inhaltlich diskutieren nicht neu ist. Aber es hat sich etwas verändert.

Nach Tausenden von Erfahrungsberichten, die unter Hashtags wie #schauhin oder #metwo in den vergangenen Jahren getrendet haben, scheinen dieses Mal mehr Menschen davon bewegt zu sein. Nach den ersten Wochen der Erkenntnisfindung, dass es Rassismus wirklich auch in Deutschland gibt, wird das Thema nicht nur breiter im Mainstream diskutiert als zuvor. Auch die Stimmung der von Rassismus Betroffenen hat sich verändert. Das Schlagwort Rassismusporno erzählt davon, dass sie es leid sind, ihre Geschichten wieder und wieder zu erzählen, als müssten sie Zeugnis ablegen.

So drehten manche von ihnen den Spieß einfach um. "Erzählt ihr jetzt mal", riefen die Journalist*innen Malcolm Ohanwe und Josepine Aparaku Nicht-Betroffene dazu auf, sich mit dem eigenen Weißsein zu beschäftigen und ihre Privilegien in Frage zu stellen. Die Buchtitel von Alice Hasters "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" und Tupoka Ogettes "Exit Racism" schnellten in der Bestseller-Liste nach oben. Sie sind gerahmt von Vorreitern wie das bereits 2008 erschienene "Deutschland Schwarz Weiß" oder das 1986 erschienene Basiswerk der Schwarzen Bewegung in Deutschland "Farbe bekennen - Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte".

Schwarze Lebensrealitäten und Racial Profiling

Der Einsatz Schwarzer Menschen in Deutschland, ihre Leben sichtbar zu machen, hat eine lange Geschichte. Ein Grund, warum der jetzt gestartete Afrozensus diese nun aufzeigen will. Noch bis Mitte August können Schwarze Menschen an der Erhebung teilnehmen. Gebündelt werden Erfahrungen von über 200 Jahren in zum Teil fünfter Generation in Deutschland. Doch fehlt die Präsenz Schwarzer Menschen in allen Diskursen der Öffentlichkeit, in Forschung und Politik. Es geht um Ausschlüsse und Fragen von Teilhabe in den verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen: Im Bereich Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnraum, Politik, Kunst und Kultur, Medien oder entwicklungspolitischer Zusammenarbeit. Es geht um Geschichten, die in Filmen oder in Medien oft stereotypisierend erzählt oder nicht erzählt werden. Der Sachverhalt ist komplex, anstrengend und schmerzhaft. In dieser Rassismus-Debatte kommt einiges zusammen und es geht dabei auch um politische Machtkämpfe, was die Polizei-Debatte zeigt.

Dazu ein Blick zurück, als vor etwa acht Jahren hierzulande noch wenige den Begriff "Racial Profiling" überhaupt kannten. Der quasi Präzedenzfall eines Kasseler Studenten, der wegen einer rassistisch motivierten Personenkontrolle gegen die Bundespolizei klagte und vor dem Oberverwaltungsgericht Koblenz gewann, machte das Thema bekannt. Vereine wie die der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und die Kampagne Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) trugen es in den Mainstream. Diesem Fall folgten weitere Klagen. Über die Jahre wurden Einzel-Studien und Bücher zu rassistisch motivierter Polizeigewalt in Deutschland verfasst. Auch in der Wissenschaft entstand ein Forschungszweig.

Oury Jalloh verbrannte 2005, gefesselt auf einer Matratze, in einer Dessauer Polizeizelle. Foto: BLM-Demonstration in Saarbrücken, Juni 2020.

Wissenschaftler*innen wie Vanessa Thompson oder Daniel Loick arbeiten im Bereich Polizeiforschung und prägten den Begriff des Polizierens (policing) als postkoloniale Praxis in der deutschen Migrationsgesellschaft. Es geht dabei um die Polizei als Institution, ihre Gesetze und Praktiken, aber auch um die gesellschaftliche Ebene und die Frage, für wen die Polizei Sicherheit und Schutz bedeutet und für wen nicht. Die Journalistin Margot Overath beobachtet den Fall um den Tod von Oury Jalloh in Dessau 2005 seit über zehn Jahren, produzierte mehrere Features und resümiert seinen Fall in einer aktuellen Podcastreihe anlässlich seines 15-Jährigen Todestages als Prüfstein der deutschen Justiz, ihr Vorwurf: Vertuschung.

Das Polizeiproblem ist strukturell

Zu viele Einzelfälle und ungeklärte Polizeiskandale wie der Fall in Hessen unter dem Schlagwort NSU 2.0., Unklarheiten über mögliche rassistische und rechtsextreme Netzwerke, das Ermittlungsversagen bei den Morden des NSU. Knapp zweihundert dokumentierte Fälle Schwarzer Menschen, die in Polizeigewahrsam gestorben sind. Racial Profiling, Beleidigungen, Gewalt. Auch die Polizeihochschulen haben in den letzten Jahren damit begonnen, ihre Ausbildung und so genannte Cop Culture, also das Funktionieren ihrer Gefahrengemeinschaft, kritisch zu reflektieren. Eine unbedingte Solidarität und ein Code of Silence, ein Schweigegelübde innerhalb einer werterelativen Polizeikultur kann problematisch werden, erklärte beispielsweise der Polizist und Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, Rafael Behr. Zum Beispiel dann, wenn sich rassistisch gesinnte Gemeinschaften darüber finden und in Whats App-Gruppen zusammentun, wie es in Frankfurt am Main der Fall war. Oder wenn der Corps-Geist Polizist*innen zum Schweigen verpflichtet, um keine Ausgrenzung zu erfahren und unabhängige Ermittlungsstrukturen fehlen, die verantwortlich handelnden Polizist*innen die Sicherheit geben könnten, das Richtige zu tun.

Inzwischen sind sich viele darüber einig, dass es auch in der Polizei eine Dekolonisierung bräuchte, die einen Kulturwandel einleiten würde. Eine Polizeipraxis, die sich nicht nur damit beschäftige, wie man bei einer Fahndung vorzugehen habe, sondern mehr nach dem Warum einer Maßnahme frage. Zum Beispiel zu hinterfragen, warum ein Schwarzer Mann niedergestreckt werden muss, indem man ihn dabei vom Fahrrad wirft und ob bei der Indizienlage nicht eine sich selbst bestätigende Verdachtsschöpfung stecken könnte, erklärt Behr. Dann hätte der beschriebene Fall im April dieses Jahres in Hamburg vielleicht vermieden werden können, bei dem es sich um einen Schwarzen Altenpfleger und keinen Drogendealer gehandelt hatte. Ein Mensch, der nun verletzt mit einem Trauma zurückbleibt.

Diskursverschiebung und die Frage, wer Deutsch sein kann

Doch sind die Meinungen sich als Polizei und Justiz mit dem Thema kritisch auseinanderzusetzen gespalten. Auf der einen Seite die Einsicht und Befürworter einer breiten vom Bund getragenen Studie, die auch auf europäischer Ebene schon lange gefordert wird und kürzlich angekündigt wurde. Auf der anderen Seite die Absage ebendieser Studie durch Innenminister Horst Seehofer, der keinen Bedarf sieht und sich lieber an der Satire einer taz-Kolumnist*in abarbeitet und ihre Arbeit in Verbindung mit den Vorfällen von Stuttgart setzt. Fast perfekt wurde damit der Versuch einer Diskursverschiebung anstatt das Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit zu schützen und sich zu fragen, warum die Polizei das Vertrauen in bestimmten Bevölkerungsgruppen verloren hat. Die Debatte um Ermittlungen zur Migrationsgeschichte der Tatverdächtigen unter dem #Stammbaum heizt den Konflikt weiter an.

Viele erinnert das Aufleben dieser Stereotype des vermeintlich kriminellen Ausländers an die Folgen der Debatte um die Silvesternacht von Köln. Sie geschah inmitten der großen Aufnahme von Schutzsuchenden, um die humanitäre Aktion mit "fehlgeleiteter Flüchtlingspolitik" zu diffamieren. Das Thema verschob sich und der Phänotyp des vergewaltigenden Muslims wurde gesetzt und via Polizeisprech der so genannte "Nafri" (Nordafrikanischer Intensivstraftäter) etabliert. Dieses Bild wurde medial mit kolonialrassistischen Titelseiten Schwarzer Hände auf weißen Frauenkörpern in der Süddeutschen und dem Focus inszeniert. Und wenig hinterfragt, dass man die Herkunft und Religion niemandem ansehen kann.

BLM-Demo in Tilburg, Niederlande, Juni 2020

Wer ist Deutsch und wie sieht Deutschsein aus? Wer ist Ausländer und wer fremd in diesem Land? Das Attentat von Hanau hat gezeigt, wie falsch der Begriff "Fremde" für die Opfer ist. Dass zeitgleich zu den BLM-Protesten das Innenministerium in ihrer Statistik über Hasskriminalität die Kategorie „Deutschfeindlich“ als neue statistische Kategorie einführt, um einen Gegensatz zu Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit zu schaffen, aber nicht über Rassismus zu sprechen, zeigt die Problematik und den fehlenden Kenntnisstand in der aktuellen Auseinandersetzung. Darauf hinzuweisen, dass es auch Rassismus gegen weiße Menschen gäbe, entlarvt, wer als "Deutsch" und zugehörig gesehen wird und wer nicht. Zudem stammt der Begriff "Deutschenfeindlichkeit" aus dem rechten Spektrum, diese Begriffsnähe müsste bekannt sein.

Dekolonisierung unseres Denkens und der Institutionen

Eine Logik von Rassismus ist es, die eigene Macht zu verteidigen. Das zu verändern, braucht den Willen sich damit auseinanderzusetzen. Wie können wir uns dekolonisieren, fragen deshalb jetzt viele Initiativen, Unternehmen und Medienhäuser. Wissenschaftler*innen sprechen gar von einer zweiten Dekolonisierung, bei der es nicht mehr nur um die historische Verantwortung geht, sondern um eine Dekolonisierung unseres Denkens. Knapp 135 Jahre nach der Berliner Afrika- oder Kongo-Konferenz, bei der Europa über die Aufteilung des Kontinents entschied und 100 Jahre seit Ende des deutschen Kolonialreiches wächst zwar das Interesse am Thema, aber vorrangig in den Museen und Feuilletons. Dort zeigen sich historisch etablierte Machtverhältnisse, die bis heute weitergegeben werden. Ein Beispiel dafür ist die anhaltende Diskussion darüber, ob man das N-Wort noch sagen darf. Dabei könnte sich diese Frage längst erübrigt haben, wenn es einen breiten Konsens darüber gäbe, dass er geschichtlich erwiesen für die absolute Abwertung Schwarzer Menschen steht.

Viele hoffen nun, dass diese Rassismus-Debatte der Anstoß für einen längerfristigen Perspektivenwechsel ist, weil eine echte Demokratie keine Homogenität braucht. Nicht ohne Grund haben die BLM-Demonstrationen auch in Deutschland eine neue Debatte über das Thema Diversity entfacht. Einem Begriff, der nur in einer differenzierten Deutung erklärt, dass es in dieser Gesellschaft eine Intersektion, also eine Überschneidung verschiedenster Diskriminierungsmerkmale gibt. So geht es schlussendlich um mehr als die Perspektive Schwarzer Menschen, sondern um den Zusammenhang und die Verschränkung verschiedener Ungleichheitsverhältnisse: um queere, behinderte, Schwarze, migrantische, muslimische und jüdische Menschen oder als solche gelesene. Rom*nja und Sinti*zze. Arm und reich. Die Antidiskriminierungs-Expertin Saraya Gomis rät nicht nur unser Denken in Normen zu überwinden und uns auf lokale Gegebenheiten zu begrenzen, sondern den globalen Kontext mitzudenken und neben der individuellen Sensibilisierung Institutionen aller Art für das Thema zu professionalisieren.

Das Anderssein nicht ändern und mit Vielheit umgehen lernen. Als Ziel stellen wir uns vor: Eine geschrumpfte Mehrheit, die der Vielfalt der Gesellschaft gewichen ist, so dass es keine Minderheit mehr gibt, die durch eine vermeintliche Mehrheit Ablehnung erfährt. Eine Gesellschaft der Vielen, wie sie vielerorts schon verkündet wurde.