Um Missverständnisse beim Buchstabieren bspw. des eigenen Namens zu vermeiden, nutzen wir die so genannte Buchstabiertafel. Aus dieser hatten die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung jüdische Namen getilgt – aus „D wie David“ wurde „D wie Dora“. Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung Baden-Württembergs Dr. Michael Blume hat sich beim zuständigen Deutschen Institut für Normung (DIN) erfolgreich für die Rückkehr zur amtlichen Tafel aus der Weimarer Republik eingesetzt. Wir freuen uns, dass mit der vorübergehenden Rückkehr zur alten Buchstabiertafel ein wichtiges Signal im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gesetzt werden kann. Susan Schulz, geschäftsführende Bildungsreferentin der Stiftung MV, sprach im Vorfeld der vom 9. Oktober bis 7. November bis stattfindenden Jüdischen Kulturtage in Rostock mit dem Religionswissenschaftler.
Herr Dr. Blume, wie reagierte das Deutsche Institut für Normung auf Ihren Vorstoß, die jüdischen Namen wieder in die Buchstabiertafel aufzunehmen? Wie lange dauerte die Umsetzung, bis Sie sich freuen konnten?
Tatsächlich hat das DIN-Institut erstaunlich schnell und positiv auf meinen Vorstoß von 2019 für eine Entnazifizierung der Buchstabiertafel reagiert. Denn man hatte dort die Zuständigkeit für die DIN 5009 geerbt - und trotz aller Empörungswellen, Kommissionen und sogar Verfassungsklagen um deutsche Rechtschreibreformen hatte es noch niemand gewagt, die Nazi-Eingriffe von 1933 bis 34 rückgängig zu machen! Es dauerte dann einige Monate bis zur Einsetzung der Arbeitskommission, zu der ich eingeladen wurde und die trotz Pandemie digital tagte. Schon das Nebeneinander der wiederhergestellten Weimarer Tafel und der neuen Städtenamen-Tafel im Sommer 2021 war ein Erfolg. Nun werden noch alle Änderungsvorschläge beraten und bis nächstes Jahr sollte der Prozess abgeschlossen sein.
Hat die Verwendung von „Dora“ oder „Nordpol“ statt „Nathan“ etwas mit Antisemitismus zu tun, worum ging es Ihnen?
Die Alphabetisierung bildet die Grundlage nicht nur unserer Zivilisation und das Judentum war die erste Religion des Alphabetes. Der Noahsohn Sem – eigentlich „Schem“ = Name – begründete nach der jüdischen Tradition ausdrücklich keine Sprachgruppe oder gar „Rasse“, sondern im heutigen Jerusalem die erste Schule in Alphabetschrift. Aus der Thora-Zeile, der Mensch sei „im Bilde Gottes“ geschaffen, entsteht auch der zentrale, deutsche Begriff der Bildung! Das Hebräische braucht auch keine Buchstabiertafel, da im Hebräischen die Buchstaben noch symbolische Bedeutungen haben: Aleph ist Rind, Beth ist Haus. Wer das weiß, versteht das Judentum besser. Es ist nämlich eine Religion des Lesens, eine Religion der Bildung, bei der das geschriebene und gesprochene Wort ganz große Bedeutung haben. Die Nazis und Antisemit:innen wollten jüdisches Leben und jüdische Bildung zerstören und jedes Zeichen von ihr, selbst in der Buchstabiertafel, ausradieren. Deswegen sehe ich jetzt die Reform der Buchstabiertafel als eine gute Aufarbeitung von Geschichte und freue ich mich auch über Ihr Interesse!
Was entgegnen Sie Menschen, die den Austausch der Namen übertrieben finden, weil sie die bislang offiziell gültigen Namen schließlich seit der Kindheit kennen und verwenden?
Dass es selbstverständlich niemandem verboten ist, auch weiterhin die alten Namen zu verwenden. Hier soll niemand nachträglich umerzogen werden, sondern lediglich ein Angebot gemacht werden, sich bewusst mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. Schließlich feiern wir ja gerade auch 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.
Warum hat man es wenige Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, als die Buchstabiertafel schon einmal überarbeitet wurde, versäumt alle jüdischen Namen wieder aufzunehmen?
Das habe ich mich oft gefragt und erahne inzwischen die Antwort. An Gewohnheiten von Menschen zu kratzen löst unheimliche Widerstände aus, gerade wenn es um weithin verdrängte Themen wie den Faschismus geht. Wir kriegen sehr viel Post wütender, älterer Männer und ein Germanistik-Professor aus Bayern ließ uns sogar via Zeitung „Prügel“ ankündigen. Erinnerungen an NS-Traditionen empfinden viele Deutsche als schmerzhaft und unangenehm. Ich verstehe das, glaube jedoch, wir sollten da durch und auch diese Abgründe überwinden, freiwillig und ohne Zwang.
Wo haben die Nationalsozialisten noch - vielleicht uns unbewusste - Spuren hinterlassen, die es zu überwinden gilt?
Im Gegensatz zu den meisten Demokrat:innen hat das NS-Regime die Macht von Medien und Namen sehr schnell erfasst und genutzt. Nicht nur die Buchstabiertafel und Gesetzestexte, auch die Alltagssprache wurde nationalsozialistisch durchformt! Denken wir nur an verharmlosende Begriffe wie „Reichskristallnacht“ statt „Reichspogromnacht“! Besonders häufig begegnet mir, übrigens auch bei Linken, die rassistische Vorstellung, der Semitismus werde genetisch vererbt. Dann sagen zum Beispiel BDS-Aktivist:innen gegen Israel: „Araber können doch gar keine Antisemiten sein, weil sie selber Semiten sind.“ Gruselig, bis heute.
Inzwischen gibt es vom Deutschen Institut für Normung einen Vorschlag für eine neue Buchstabiertafel mit Städtenamen, die zur öffentlichen Kommentierung bereitsteht und Mitte 2022 eingeführt werden soll. Sind Städtenamen eine gute Alternative?
Mein Erstvorschlag war, nur die wiederhergestellte Weimarer Tafel wieder einzuführen. Aber die Fachleute wiesen darauf hin, dass die Namen oft sehr altertümlich und im Übrigen fast ausschließlich männlich sind. Eine neue Namenstafel hätte sich völlig verheddert. Daher werde ich nun auch selbst neben den schönsten Namen auch Städte verwenden, um schnell und sicher buchstabieren zu können.
Im Festjahr 2021 und während der Jüdischen Kulturtage in Rostock soll die Vielfalt jüdischen Lebens sichtbar und erlebbar gemacht und ein Zeichen gegen Antisemitismus gesetzt werden. Was wünschen Sie sich für das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“?
Ich wünsche mir, dass das Judentum in Deutschland weder dämonisiert noch bemitleidet, sondern respektiert wird. Vielleicht mag jemand zusätzlich zur Buchstabiertafel auf YouTube auch unseren Film „Jung und Jüdisch in Baden-Württemberg“ anschauen? Hier kommen junge, jüdische Menschen aus unserem Ländle zu unserer gemeinsamen Zukunft zu Wort. Auf dieses Miteinander kommt es mir an!
Lieber Herr Dr. Blume, haben Sie vielen Dank für das Interview und v.a. für Ihre Initiative.