Als Radiomoderator der WDR-Sendung Köln Radyosu versorgte Yüksel Pazarkaya in den 1960er Jahren türkische Migrant:innen mit Informationen aus der Heimat und aus Deutschland. In seinem Essay beschreibt der Schriftsteller und Übersetzer die Erfahrungen der ersten Generation türkischer "Gastarbeiter:innen" vom Anwerbeabkommen 1961 über den Anwerbestopp 1973 bis hin zur Wiedervereinigung.
Aus Izmir kommend, mit Umsteigen in Athen, landete ich im Februar des Jahres 1958 in Frankfurt am Main. Es war ein regnerisch kalter Tag. Ein ungewohnter Geruch machte mir bewusst, dass ich jetzt in einem anderen Land war. Karnevalstage bestärkten diese Wahrnehmung. Vorm Antritt meines Studiums an der Universität Stuttgart, damals hieß sie noch Technische Hochschule, kam ich zum Auslands- und Dolmetscherinstitut in Germersheim am Rhein, um Deutsch zu lernen. Das Institut mit rund tausend überwiegend deutschen Student:innen war eine Art Biotop, das mich davor verschonte, ins kalte Wasser zu springen, ehe ich die deutsche Sprache einigermaßen beherrschte. Ich mietete ein Zimmer bei einer Bauernfamilie am Rande der Kleinstadt. Sehr sanft und schonend fand ich allmählich in die deutsche Gesellschaft hinein. Außer mir waren rund dreißig Studenten aus der Türkei, die ebenfalls Deutsch lernten, ehe sie an verschiedenen Universitäten ihre technisch- naturwissenschaftlichen Studien aufnahmen.
Im Nachkriegsdeutschland waren einige hundert türkische Studentinnen und Studenten, einige Diplomaten, vereinzelte Geschäftsleute und versprengte Abenteurer, von denen ich einen in Germersheim kennenlernte. Er hatte aus Abenteuerlust auf einem Schiff angeheuert und kam so nach Bremen. Von dort trat er sein Abenteuer in deutschen Landen an.
Obwohl sie im Ersten Weltkrieg Verbündete waren, entsprach die Türkei in der Vorstellung der Deutschen dem Bild in Goethes Faust, „weit hinten“ weg... Im Germersheimer Studentinnen-Milieu hörte ich zwar gelegentlich den Namen Atatürk, doch damit erschöpfte sich das Wissen über mein Land. Immer wieder wurde ich dagegen mit der Frage konfrontiert, wo mein Fez sei und ob ich auch einen Harem besäße.
Kaum vier Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland sollte sich dieses Bild allmählich verändern. Am 30. Oktober 1961 wurde das Abkommen von Ankara zur Vermittlung türkischer Arbeiterinnen und Arbeiter von beiden Staaten unterzeichnet. Und sogleich begann die Vermittlung von Arbeitskräften. Dafür wurde vor allem in Istanbul eine Kommission von Deutschen und Türken gebildet, die die zu vermittelnden Menschen gesundheitlich musterte.
Der an Fahrt aufnehmenden Wirtschaft fehlten nach dem Krieg Arbeitskräfte. Als erste Gastarbeiter:innen waren ab 1955 Italiener:innen gekommen. Sie wurden von Anfang an von der Bevölkerung emotional auf Distanz gehalten. Schon früh, beispielsweise in einer Erzählung von Marie-Luise Kaschnitz (1962), wurde die Entfremdung literarisch behandelt. Vor den Italiener:innen waren viele deutsche Vertriebene aus den verlorenen Ostgebieten auf Ablehnung gestoßen. Italiener:innen traten an ihre Stelle, die nicht in allzu ferner Zeit von den Türkinnen und Türken abgelöst werden sollten. Doch der Empfang der ersten Gruppen mit Pauken und Trompeten zum Beispiel auf dem Münchener Hauptbahnhof weckte zunächst die Neugier in der Bevölkerung und bremste die Ausgrenzung. Sie begann mit naiven Neckereien. In Jochen Ziems Schauspiel „Nachrichten aus der Provinz“ (1966) tritt zum ersten Mal ein junger türkischer Arbeiter auf, gegen den gestichelt wird. Deutsche Gleichaltrige nennen ihn „Atatürk“ und haben ihren Spaß mit ihm. Erst mit der Wirtschaftskrise und steigenden Arbeitslosigkeit von 1966/67 wendet sich das Blatt gegen die türkischen „Gastarbeiter:innen“. Ihnen wurde die Rolle des Sündenbocks zugewiesen, Türkenwitze traten an die Stelle von Italienerwitzen.
Sprachleerer Raum
Die Türk:innen der ersten Generation fanden in Deutschland keine türkische Gemeinde vor, abgesehen von einigen hundert Student:innen, aus denen sich die Dolmetscher:innen rekrutierten. Manche Firmen stellten auch Dolmetscher:innen ein, um mit den neuen Arbeiter:innen aus der Türkei kommunizieren zu können. Sie waren nicht nur sprachlos, sondern sie hatten auch keine Kenntnisse von der Lebensart, von Ess- und Trinkgewohnheiten, von den Regeln und Gesetzen des Landes, von der Alltagskultur.
Sie waren mit einem Jahresvertrag gekommen, mit der Option, den Vertrag für ein weiteres Jahr zu verlängern. Nach Vertragsende sollten sie zurückkehren und je nach Bedarf neue Arbeiter:innen angeworben werden. Daher wurden die meisten in primitiven, provisorischen Baracken untergebracht. An Wochenenden war der Hauptbahnhof ein beliebtes Ziel bei ihnen. Die sich hinstreckenden Schienen waren in ihrer Vorstellung mit der Heimat verbunden. Am Hauptbahnhof trafen sich Landsleute und milderten ein wenig ihre brennende Sehnsucht und Einsamkeit.
Anders als die verbreitete Annahme kamen sie nicht alle aus ländlichen Gebieten Anatoliens. Lehrer:innen, Bankangestellte und Vertreter:innen anderer Berufsgruppen waren unter ihnen. Sie erhofften sich von einer vorübergehenden Arbeits- und Lebenserfahrung in Deutschland eine bessere Zukunft. Sie erwarben die Alltagssprache durch ihre Lernerfahrung und ihre gute schulische Ausbildung relativ schnell. Doch die Mehrzahl kam aus allen möglichen Regionen Anatoliens. Sie hatten geringe Schulkenntnisse und keine Erfahrung mit dem städtischen Leben, geschweige denn mit der Industriearbeit. Als jemand, der aus einer kosmopolitischen Großstadt kommt, machte ich erst in Deutschland Bekanntschaft mit den Menschen, die aus den verschiedenen ländlichen Regionen Anatoliens stammen.
Nach einem oder zwei Jahren Arbeit in Deutschland sollten sie in die Türkei zurückgeschickt und durch neu Angeworbene ersetzt werden. Doch nicht nur die Arbeitgeber wollten sie nicht entlassen, sondern auch die Gewerkschaften und Behörden waren gegen ihre Rücksendung in die Türkei. Denn sie waren nicht nur angelernt, sondern sie waren fleißig, genügsam, bescheiden und anpassungsbereit und -fähig. Damit wurde der erste Schritt zu ihrer Einwanderung getan.
Bedenkt man die fehlenden Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für ihr Leben und Arbeiten in Deutschland, bedenkt man, dass man sie als Wanderarbeiter in einem Provisorium halten wollte und ihnen sprachlich, sozial und kulturell keinerlei Angebote machte (ausgenommen die tägliche, legendäre Hörfunksendung des WDR als Informationsquelle und Orientierungshilfe: Köln Radyosu) und die Wirtschaft und Gesellschaft dennoch nachdrücklich ihr Bleiben in Deutschland wünschten, waren die Menschen der ersten Generation mutige Held:innen.
Erst als sich 1966/67 die erste Konjunkturabschwächung der Nachkriegszeit einstellte, wurden zehntausende von ihnen mit blauen Briefen in die Türkei zurückgeschickt, mit dem Versprechen ihrer Firmen, sie bei einer Wiederbelebung der Konjunktur erneut nach Deutschland zu holen. Tatsächlich wurden sie bei der Konjunkturerholung teilweise wieder zurückgeholt.
Das Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 wurde bewusst mit einer Türkei abgeschlossen, in deren republikanischer Verfassung als unabänderliches Prinzip der Säkularismus beziehungsweise Laizismus verankert war. 1963 folgte dann auch das Assoziierungsabkommen mit der damaligen EWG. Diese beiden wichtigen Umstände wurden später bei den Integrationsdebatten kaum beachtet.
Die Zahl der türkischen „Gastarbeiter:innen“ in Deutschland wuchs in kurzer Zeit. Im März 1964 kam der damalige Arbeitsminister und spätere Ministerpräsident Bülent Ecevit zu Verhandlungen nach Deutschland. Auf großen Versammlungen machte er sich ein Bild von der Lage der türkischen Arbeiter:innen vor Ort. Vor rund tausend Landsleuten erklärte er in Stuttgart, dass die Zahl der Türk:innen in Deutschland auf 140.000 angewachsen sei und wollte mit der deutschen Regierung über eine weitere Vermittlung von Arbeiter:innen aus der Türkei verhandeln. So wuchs die Zahl innerhalb eines Jahrzehnts über eine Million.
In den sechziger Jahren schrieb ich eine Reihe von Gedichten über das Befinden und Empfinden von Menschen der ersten Generation im neuen fremden Land. Als deren Titel wählte ich die authentischen Eigennamen der Menschen. Ein Beispiel:
HALIL GÜZEL
durstende sonne deine erde
stößt dich und mich nach deutschland
der deutsche das bier die wolke sind eins
durst wird durch bier erst schön
du trinkst es nicht trinkst es nichtist dies des leids widerspruch
ein klagelied anstimmen wege entlang
oh kind oh schwester ein klagelied wege entlang
lachen auch einmal einen weg lang
mich freuen auch einmal einen weg lang
einen weg langdu bist schön der durst nicht
fein und uralt lachst du uralt und fern
mein großvater seist du nimm an du seist mein vater
in dir gewinne ich gestalt mit trockener zunge und sonne
lang währt diese dürre nicht in der zeitvielleicht ist dies des leids widerspruch
ernten ein feld voller hoffnung
oh kind oh schwester felder voller hoffnung
lachen auch einmal einen weg lang
mich freuen auch einmal einen weg lang
einen weg langdu lernst das w das a
lern das wasser
– lernst – wirst lernen
schön das wasser schön der durst schön
durst wird durch anatolisches wasser erst schönda ist des leids widerspruch
Frauen voran
Mit dem Anziehen der Konjunktur ab 1968 wurden aus der Türkei vornehmlich Frauen angeworben. Ihre feingliedrigen Hände wurden für die Produktion von Feinmechanik in der Elektroindustrie benötigt. Ihnen wurde die Möglichkeit eingeräumt, nach einem Jahr Arbeit ihre Männer nachzuholen. Die anatolische Gesellschaft wurde durchgewirbelt. Die Frauen, die bis dahin ohne männliche Begleitung kaum vor die Haustür treten durften, stürmten in männlicher Begleitung die Arbeitsvermittlungsstellen. Ehemänner, Väter und Brüder ließen ihre Frauen und Töchter allein nach Deutschland ziehen. Das kam einer gesellschaftlichen Revolution gleich. Auf sich allein gestellt, schlugen sich diese Arbeiterinnen im fremden Land heldenhaft und waren auf ihre Männer nicht angewiesen.
Nach einem Jahr Arbeit ließen die Verheirateten ihre Männer nachkommen. Da erlebte man Außergewöhnliches. Das Bild, dass die anatolische Frau drei Schritte hinter ihrem Mann oder Vater herging, verkehrte sich auf einmal ins Gegenteil. Der nach einem Jahr nachgeholte Mann war auf die Erfahrungen der Frau angewiesen und lief ihr mit einem Abstand von drei Schritten hinterher. Manch ein Mann empfand das als Demütigung und schikanierte seine Frau, nachdem er sich einigermaßen eingelebt hatte. Doch die Türkin war selbstbewusster, selbstbestimmter, selbstständiger geworden und das wirkte wie ein Schwelbrand auch in der Türkei. Die Arbeitsmigration nach Deutschland veränderte die Gesellschaft in der Türkei tiefgehend. Die Überweisungen aus Deutschland an die Familien in der Türkei lösten einen Bauboom aus und Jahrzehnte lang waren diese Überweisungen die wichtigsten Deviseneinnahmen der Türkei.
Anwerbestopp als Entscheidungszwang
Die erneute Abschwächung der Konjunktur und die wachsende Arbeitslosigkeit von 1973, begleitet von der globalen Erdölkrise, veranlasste die Bundesregierung im Herbst 1973 zu einem Anwerbestopp. Er stellte die türkischen Arbeiter:innen vor die Entscheidung, für immer zurückzukehren oder für längere Zeit hier zu bleiben. Da die Aussichten in der Türkei, nicht zuletzt durch den Militärputsch vom 12. März 1971, zur Rückkehr kaum einluden, entschieden sich die meisten für den zweiten Weg und holten im Laufe der Zeit ihre Kinder und Familienangehörigen zu sich nach. Mit dem Anwerbestopp setzte auch eine intensive Debatte mit der Überschrift Rotation oder Integration ein. Zum ersten Mal machte man sich Gedanken auch über die Art der Integration. Die offizielle Politik war jedoch für die Rotation, so dass die Integration nicht konkret angegangen wurde.
Die neue Krisensituation von 1980/81 veranlasste zehntausende Familien, mit dem Köder einer sogenannten Rückkehrprämie von 10.500 Mark in die von einem Militärregime beherrschte Türkei zurückzukehren. Am 12. September 1980 hatten die Militärs erneut die Macht an sich gerissen. Unter den familiären Zwängen wurden tausende in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder aus ihren Schulen und dem Freundeskreis herausgerissen. In der Türkei erlebten sie große Anpassungsschwierigkeiten.
Nachdem eine große Zahl der Türk:innen zurückgekehrt war, lief bei den Gebliebenen insbesondere bei der zweiten Generation erkennbar der Integrationsprozess. Doch mit der Vereinigung Deutschlands, die gerade von den Türk:innen in Deutschland begeistert aufgenommen wurde, und nach dem Wegfall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, erhielt der Integrationsprozess einen starken Dämpfer. Denn die Priorität lag jetzt verständlicherweise auf der Integration der neuen Bundesländer und der EU-Osterweiterung.
Nicht zuletzt durch die aufkommende politisch motivierte Ausländerfeindlichkeit und durch rechtsradikalen Terror erlitt die erreichte Integration einen deutlichen Rückschlag. Gerade die jungen Generationen stellten sich die Frage der Zugehörigkeit. Diese Phase voller Widersprüchlichkeiten dauert bis heute an.