Die 60jährige Geschichte türkeistämmiger Menschen in Deutschland ist auch eine Geschichte des Ringens um die eigene Stimme. Gleichzeitig kommt es durch die wachsende Mitbestimmung der vergangenen Jahre zu einer Pluralisierung politischer Einstellungen.
Der ersten türkeistämmigen Generation, die nach Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens als „Gastarbeiter*innen“ 1961 nach Deutschland kam, stand viele Jahre kein aktives oder passives Wahlrecht zu. Durch die nachfolgenden Generationen und anhaltende Migration änderte sich mit den Jahren ihre Stellung in der deutschen Gesellschaft und damit ihr Verhältnis zur deutschen Politik. Heute deutet die Positionierung der Türkeistämmigen bei den Wahlen in Deutschland auf die Vielfältigkeit und die Veränderungen hin, die im Laufe der Zeit entstanden sind.
„Die Menschen finden ihren Platz im gesellschaftlichen Leben“
Lange Zeit war die türkeistämmige Bevölkerung an den Rand der institutionellen Politik gedrängt. Die „Ausländerbeiräte“ - heute werden sie meist Integrationsräte genannt -, die aus Bürger*innen ohne Staatsbürger*innenschaft bestehen und im Grunde wie ein Beratungsgremium arbeiteten, stellen ab den 70er Jahren für die Eingewanderten eine Zwischenlösung dar, um auf kommunaler Ebene an der Politik teilzuhaben zu können. Im Laufe der Jahre wurden die Türkeistämmigen ein Teil der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland und konsequenterweise wuchs die Forderung nach politischer Teilhabe. Eine wichtige Rolle für die Politisierung der Türkeistämmigen spielten rassistische Angriffe und Morde, deren Zahl in den 90er Jahren stieg. Im Zuge des Inkrafttretens des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000 ließen sich viele türkeistämmige Menschen einbürgern, was einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung ihrer politischen Partizipation darstellte. Laut einer Statistik sind im Jahr 2021 rund 1,4 Millionen von den ungefähr 3 Millionen in Deutschland lebenden türkeistämmigen Menschen deutsche Staatsbürger*innen. 893.000 der eingebürgerten Türkeistämmigen können bei den Wahlen ihre Stimme abgeben. Das sind 1,5 Prozent aller Stimmberechtigten in Deutschland. Jedoch haben Türkeistämmige immer noch nicht das Recht wie EU-Bürger*innen, sich auch ohne die deutsche Staatsangehörigkeit an den Kommunalwahlen zu beteiligen.
Die politischen Präferenzen der Türkeistämmigen haben sich in den vergangenen 60 Jahren diversifiziert. Viele der in den 60er Jahren nach Deutschland gekommenen türkeistämmigen Arbeiter*innen haben über die Gewerkschaftsmitgliedschaften eine gewachsene Beziehung zur SPD, die bis zu den Bundestagswahlen 2017 eine prägende Rolle spielte. Da die SPD für Migrant*innen eine vergleichsweise offene Partei war, zog sie schon früh Türkeistämmige, die aktiv Politik betreiben wollten, an. Jedoch ergab eine Studie, dass die türkeistämmigen deutschen Wähler*innen, die bis in die jüngste Vergangenheit zu rund 60 Prozent SPD gewählt hatten, bei den Bundestagswahlen 2017 dies nur noch zu 35 Prozent taten. Laut einer gemeinsamen Studie der Universitäten Duisburg-Essen und Köln verteilten sich die Stimmen der türkeistämmigen Deutschen auf die anderen Parteien wie folgt: CDU (20 Prozent), Die Linke (16 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (13 Prozent).
Da es keine offiziellen Daten zu den Präferenzen der türkeistämmigen Wähler*innen für die aktuellen Wahlen im Jahr 2021 gibt, lässt sich eine Bewertung nur auf Grundlage von Umfrageergebnissen verschiedener Institute und Meinungsforschungsunternehmen abgeben. Das Meinungsforschungsunternehmen Data4U führte im Winter 2019-2020 unter türkeistämmigen Deutschen eine Umfrage durch, die für die Wahlen 2021 die folgende Schätzung ergab: SPD (44 Prozent), Bündnis 90/Die Grünen (26 Prozent) und CDU (12 Prozent). Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte im Januar 2021 eine Studie, nach der die Unterstützung der SPD im Jahr 2015 bei ca. 50 Prozent lag, im Jahr 2019 jedoch auf 13 Prozent absank. Gleichzeitig liege die Unterstützung für Bündnis 90/Die Grünen bei ca. 13 Prozent. In derselben Studie wird ein Ansteigen der Unterstützung für die CDU auf 50 Prozent angegeben. Nach wie vor ist die SPD die stärkste Partei unter den türkeistämmigen Wähler*innen, doch die Wahl der CDU, die lange mit „Ausländerfeindlichkeit“ in Verbindung gebracht wurde, ist definitiv kein Tabu mehr.
Laut Caner Aver, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen, ist die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hinsichtlich Methodik und Repräsentation problematisch, gleichzeitig beschreibe sie jedoch eine richtige Tendenz. Aver führt mehrere Gründe für die Abwanderung der Wähler*innen von der SPD zu den anderen Parteien an. Die SPD habe in der Großen Koalition mit der CDU ihre Zusagen bei dem für türkeistämmige Wähler*innen wichtigen Thema doppelte Staatsbürgerschaft nicht eingehalten. Ein anderer Grund sei, dass die CDU Integrationsversprechen der SPD teilweise in die Tat umgesetzt habe und z.B. türkeistämmige Kandidat*innen in ihren politischen Vitrinen präsentiere. Es gebe nach Aver jedoch einen sehr viel gewichtigeren Grund für diese Entwicklung: Die Weltanschauung und somit auch die politischen Präferenzen der Türkeistämmigen änderten sich mit ihrem Übergang in die Mittelschicht. Das bindende historische Dreieck Arbeiter*innen-Gewerkschaft-SPD, habe sich aufgelöst, und somit auch das stereotype Wahlverhalten: „Die Menschen finden jetzt in der dritten Generation ihren Platz im gesellschaftlichen Leben. Zum Beispiel wählen die Umweltbewussten die Grünen, die Arbeitgeber die FDP und die Konservativen die CDU. Das ist quasi eine Art der Normalisierung.“
Der Einfluss der türkischen Politik auf das Wahlverhalten
Ein Barbier in Berlin-Kreuzberg. Ein beliebter Treffpunkt der türkeistämmigen Ladenbesitzer im Kiez. Im Fernsehen laufen türkische Rap-Videos. Die Kunden und die Mitarbeiter unterhalten sich über die kommenden Wahlen. Die meisten haben zwar kein Wahlrecht, aber sie reden darüber, dass „Merkels Partei“ eigentlich „gar nicht so schlecht“ sei. Einer von ihnen sagt, Armin Laschet würde auch „die Türken mögen“. Seine Kinder und seine wahlberechtigte Ehefrau würden ihre Stimme der CDU geben. Ein anderer scherzt darüber, seine Stimme der AfD geben zu wollen: „Sie sagen wenigstens ganz offen, dass sie uns hassen.“ Alle im Laden lachen.
Der Politikwissenschaftler Dr. Mustafa Acar von der Universität Hamburg sagt, die CDU sei in der Vergangenheit auf die Stimmen der radikalen Rechten von sechs bis neun Prozent angewiesen gewesen und habe daher eine Politik zum Nachteil von Migrant*innen betrieben. Acar führt aus: „Seit der Gründung der AfD ist die CDU von dieser Notwendigkeit befreit.“ Acar fügt hinzu, dass seitdem die Parteien, die den Beitritt der Türkei in die EU befürworteten, ihre Haltung im Laufe der Regierungszeit von Erdoğan und der AKP geändert haben, die Position der CDU, die schon immer gegen den Beitritt war, bei den Wähler*innen kaum mehr eine Rolle spiele. Schließlich befürworte keine der Parteien in ihrem Parteiprogramm für die Wahlen 2021 den EU-Beitritt der Türkei unter ihrer jetzigen Regierung. Parteien wie die FDP fordern die sofortige Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen, während die Grünen für die Neuaufnahme der Verhandlungen unter der Bedingung des Wiederaufbaus eines Rechtstaats und der Demokratie sind.
Unter den sich als konservativ verstehenden Türkeistämmigen gibt es Wähler*innen, die an den Interessen der türkischen Regierung orientiert die CDU wählen. Diese Erdoğan-Anhänger*innen glauben, dass im Falle eines Wahlsieges von Armin Laschet die pragmatische Politik Merkels in Bezug auf die deutsch-türkischen Beziehungen fortgeführt werden wird. Staatspräsident Tayyip Erdoğan hatte nach der Wahl Armin Laschets zum CDU-Vorsitzenden im Januar diesen angerufen und ihm für die anstehende Bundestagswahl seine besten Wünsche überbracht. Darüber hinaus gehen verschiedene regierungsnahe türkische Medien in ihren meinungsbildenden Kolumnen von einer Verschlechterung der deutsch-türkischen Beziehungen aus, sollten die Grünen, die SPD oder die Linke die Wahl gewinnen. In diesen Parteien würden – so die regierungsnahen Medien – mehr „Türkeifeinde“ als Kandidat*innen aufgestellt, wie zum Beispiel der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der die Anerkennung des Völkermords an den Armenier*innen durch den Bundestag unterstützt hatte und deshalb von Staatspräsident Erdoğan höchstpersönlich zur Zielscheibe gemacht wurde.
Tuba Bozkurt [1] tritt als Kandidatin der Grünen für das Berliner Abgeordnetenhaus im Wahlkreis Gesundbrunnen und Wedding an. Bei ihren Besuchen im Kiez werden ihr Fragen gestellt wie: „Akzeptieren Sie, dass sie eine Türkin sind?“, „Was denken Sie in Bezug auf die Türkei?“ oder „Wie stehen Sie zum armenischen Völkermord?“ Am 26. September wird in Berlin auch das Abgeordnetenhaus gewählt, sodass die Berliner*innen zur Wahl des Bundestages, des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen aufgerufen sind. Bozkurt kandidiert in einem Stadtviertel mit einem Bevölkerungsanteil von 64 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, von denen die Mehrheit Türkeistämmige sind. Bozkurt klammert in ihrem Wahlkampf die Türkeithemen aus. Sie ist der Meinung, dass die Lebensumstände der Menschen im Stadtviertel wichtiger seien als die Türkeipolitik der Grünen. „Ich frage sie nach ihrem Leben und den Problemen, die sie hier haben.“ So seien die wichtigsten Themen im Stadtviertel Armut und Bildungsungleichheit, gefolgt von Diskriminierung nach Herkunft und dem Recht auf das Kopftuch im Arbeitsleben. „Wenn wir unser Parteiprogram ins Türkische übersetzen lassen, denken wir schon, die Wähler*innen erreicht zu haben“, sagt Bozkurt. „Doch diese Einstellung schaut von oben herab. Wir müssen die Menschen dort erreichen, wo sie leben, dort besuchen und uns ihre Probleme und Wünsche anhören.“
Sorgen im Alltagsleben
Viele türkeistämmige Wähler*innen gehen unabhängig von ihrer politischen Grundeinstellung oder der Türkeipolitik der Parteien allein aufgrund ihrer Alltagsprobleme zur Urne. Manchmal korrespondieren die alltäglichen Sorgen auch mit Themensetzungen konservativer Parteien. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise der politischen Teilhabe von Türkeistämmigen. In Kreuzberg beispielsweise beschweren sich viele Menschen über die schmutzigen Straßen und das Chaos im Kiez. Deshalb könnten konservative Parteien wie die CDU, die diese Themen in den Vordergrund rückt, hier durchaus Stimmen erhalten. Hikmet Gülmez zum Beispiel, der für die CDU für den Bundestag im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg 2 kandidiert, verspricht den Menschen in seinen Wahlbroschüren mehr Polizeipräsenz am Kottbusser Tor und Görlitzer Park, wenn er denn gewählt wird.
„Vor den Wahlen kommen sie und grüßen uns, danach lassen sie sich nicht wiedersehen. Jeder arbeitet für seine eigenen Interessen. Politik heißt Vorteilsnahme.“ Das sind die Worte von Hayati Atasever, der seit 36 Jahren in Deutschland lebt. Er betreibt gemeinsam mit seiner Ehefrau Zeynep Atasever einen Spätkauf in Kreuzberg. Seit er im Jahr 1997 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat, wählt er die Grünen. Atasever habe sich immer den Zielen der Grünen verbunden gefühlt, werde aber bei diesen Wahlen zum ersten Mal eine andere Partei wählen. Er ist der Meinung, dass die Grünen, die den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg regieren und die Bürgermeisterin stellen, ihre Probleme nicht ernst nehmen. Atasever ist der Meinung, dass die lokal regierende Partei in den letzten fünf Jahren ihre Versprechen nicht gehalten habe: „Sie haben versprochen, den kleinen Ladenbetreibern zu helfen. Aber sie haben ihr Wort nicht gehalten.“ Der Laden von Hayati und Zeynep kämpft seit 10 Jahren mit dem Problem, dass vor diesem ein Radweg verläuft, weshalb sie davor keine Tische aufstellen dürfen. Deshalb konnten sie im Sommer nicht die Verluste der Pandemiemonate ausgleichen. Hayati Atasever beklagt, dass die Ladenbesitzer auf dieser Straße „regelrecht verbluten“. Immer wieder müssten Restaurants schließen. Zeynep Atasever beschwert sich über die Umsatzeinbußen, die der Radweg verursache, und über die ständigen Unfälle direkt vor dem Laden. Sie, ihre Kinder und viele Freund*innen hätten bei den letzten Kommunalwahlen die Grünen gewählt. „Nie wieder!“ sagt Atasever. „Das gleiche gilt auch für die SPD. Die einen sind nicht besser als die anderen.“ Denken alle in ihrem Bekanntenkreis ähnlich? „Nein“ sagt sie, „Die Kinder werden keinen Rückzieher machen. Sie unterstützen unter allen Umständen die Grünen.“
[1] Anm. d. Redaktion.: Tuba Bozkurt wurde am 26. September als Kandidatin von Bündnis 90 / Die Grünen für den Wahlkreis Gesundbrunnen und Wedding ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt.
Aus dem Türkischen von Elif Amberg.
>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unseres Büros in Istanbul.