„Die EU muss mehr tun, um die Finanzierung des russischen Krieges zu stoppen!“

Interview

Nicht nur die EU, auch die Ukraine selbst blieb trotz der Annexion der Krim und des seit 2014 andauernden Krieges im Donbas in den letzten Jahren weitgehend von russischen Energieimporten abhängig. Oksana Aliieva, Koordinatorin der Klima- und Energieprogramme der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew und Autorin einer Studie zu dieser Frage, analysiert in diesem Interview die Energiesicherheit der Ukraine in der Kriegssituation und die Auswirkungen eines Embargos russischer Energielieferungen.

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Öl-Pipeline Drushba

Die Ukraine hat bis vor kurzem einen erheblichen Teil ihrer Energielieferungen - direkt oder indirekt - aus Russland importiert. Wo liegen die kritischen Schwachstellen der Energieversorgung des Landes in diesem Krieg?

Oksana Aliieva

Oksana Aliieva: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb die Ukraine stark von russischen Energieimporten abhängig. Erst nach dem Einmarsch Russlands auf der Krim und in Teilen der Ostukraine im Jahr 2014 wurden wichtige Maßnahmen zur Verringerung dieser Abhängigkeit ergriffen. Die wichtigsten Erfolge wurden im Bereich der Strom- und Erdgasversorgung erzielt. Die Gasimporte waren schon vor 2014 Gegenstand für politische Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine und ein Instrument der Erpressung durch Russland.

Die Situation bei der Kohle war kompliziert, da 2014 große Teile der ukrainischen Minen im Donbas besetzt wurden. Dennoch wurden bis Ende letzten Jahres große Teile der Kohlelieferungen aus Russland und den besetzten Gebieten über das russische Staatsgebiet abgewickelt. Dann hat Russland diese Exporte gestoppt, einschließlich des Transits aus anderen Ländern wie Kasachstan.

Als die Invasion in der Ukraine am 24. Februar in vollem Umfang begann, war die wichtigste unmittelbare Herausforderung die Einstellung der Lieferungen von Erdöl und Erdölerzeugnissen aus Russland, sowohl direkt als auch indirekt über belarussische Raffinerien. Damit waren zwei Drittel der Erdöllieferungen unterbrochen, und es erwies sich als eines der größten Probleme, alternative Quellen für Diesel und Erdöl zu finden. Und hier geht es nicht nur um den Kauf bestimmter Mengen von Händlern in anderen europäischen Ländern, sondern vor allem um alternative Logistik, also neue Lieferwege. Es war ein sehr strategischer Schritt Russlands, alle ukrainischen Seehäfen abzuschneiden, die nun nicht mehr als alternative Versorgungswege dienen können.

Wie sicher ist die Versorgung der militärischen und humanitären Transporte mit Treibstoff und Diesel? Würde ein Stopp der russischen Öllieferungen an die EU dieses Problem nicht noch verschärfen und die Fähigkeit der Ukraine einschränken, der russischen Aggression zu widerstehen?

Die Ukraine würde von der EU erwarten, dass sie ihre Lieferungen ebenfalls diversifiziert. Möglich sind Schiffslieferungen aus den Vereinigten Staaten oder Saudi-Arabien. Gegenwärtig weigern sich viele europäische Händler, von russischen Quellen zu kaufen, um die Finanzierung des russischen Krieges zu stoppen. Soweit wir sehen, haben diese Schritte nicht zu einem Zusammenbruch der europäischen Ölmärkte geführt, wie von einigen Experten vorhergesagt wurde. Selbst jetzt funktioniert der Markt noch. Es scheint also möglich zu sein, alternative Lieferquellen zu finden.

Daher ist die EU jetzt in der Verantwortung, neue Lieferwege zu erschließen und die Lieferungen zu sichern, die insbesondere für das ukrainische Militär und andere vorrangige Bedürfnisse wie die Landwirtschaft und humanitäre Lieferungen erforderlich sind. Um die Lieferkapazitäten der notwendigen Mengen auf den verbleibenden Landrouten per Bahn und LKW aus den EU-Ländern zu gewährleisten, muss die EU die nötigen technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen wie Eisenbahnkapazitäten prioritär zur Verfügung stellen. Von der EU würde ich auch entsprechende Steuer- und Zollvergünstigungen erwarten, die die Preise für diese Lieferungen an die Ukraine so niedrig wie möglich halten. Die ukrainische Regierung hat ihrerseits einige Entscheidungen getroffen, wie z. B. die Senkung der Mehrwertsteuer von 20 % auf 7 % - dies ist jedoch langfristig keine nachhaltige Lösung für den ukrainischen Staatshaushalt.

Die Ukraine hat sich immer gegen die North Stream 2-Pipeline ausgesprochen, um den Gastransit durch die Ukraine aufrechtzuerhalten. Mit einem Embargo würde die Ukraine nicht nur die Transiteinnahmen verlieren. In einer Situation der Gasknappheit in Europa verengen sich die Möglichkeiten der Ukraine, zusätzliches Gas von ihren westlichen Nachbarn zu kaufen.

Die Ukraine deckt zwei Drittel ihres Gasverbrauchs aus heimischen Quellen, das verbleibende Drittel wird aus EU-Ländern importiert, wobei es sich bei 90 % dieser Importe um Rück-Exporte von russischen Gas handelt, das zuvor durch die Ukraine in die EU geleitet wurde. Bei dieser Frage geht es nicht um den Verlust von Einnahmen aus dem Gastransit. Die 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, die die Ukraine an diesem Transit verdient hat, sind marginal im Vergleich zu den Schäden, die dieser Krieg verursacht hat. Die Verluste von Infrastruktur und der Rückgang des BIP werden bereits jetzt auf ca. eine halbe Billion Euro beziffert.

Im Falle eines sofortigen Stopps der Gaslieferungen aus Russland nach Europa wird es wahrscheinlich zu einer Gasknappheit kommen, die auch die Ukraine betreffen würde. Ich persönlich kann nicht aufhören, mich darüber zu ärgern, wie viel Zeit wir bereits verloren haben, um uns von russischem Gas unabhängiger zu machen. Erst recht, nachdem wir bereits die russische Aggression 2014 erlebt haben.

Sowohl die Ukraine als auch die EU haben nicht genug getan. Jetzt müssen wir die Gasabhängigkeit schnell verringern, sowohl nachfrageseitig von Unternehmen und Haushalten als auch auf der Angebotsseite durch vermehrte Lieferungen über die LNG-Häfen. Natürlich werden sich die höheren Gaspreise in Europa mittelfristig auch stark auf die ukrainischen Verbraucher auswirken. Allerdings ist die Nachfrage nach Erdgas in der Ukraine im März 2022 wegen der Stilllegung zahlreicher Produktionsanlagen deutlich zurückgegangen.

Jetzt sind auch klare Forderungen nach einem vollständigen Stopp der Gasimporte aus Russland und deutlicher Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen auf die europäischen Regierungen dringend notwendig, damit diese zumindest so schnell wie möglich Maßnahmen zur Senkung des Verbrauchs und der Abhängigkeit ergreifen. Ich persönlich sehe nicht, dass das Tempo der Entscheidungsfindung bisher den Forderungen der Zivilgesellschaft entspricht. Der nächste Vorschlag auf EU-Ebene zur Beendigung der russischen Lieferungen wird erst im Mai erwartet. Das entspricht nicht der Dringlichkeit, mit der wir in der Ukraine konfrontiert sind, wo jeden Tag Hunderte von Menschen sterben.

Beobachter blicken mit größter Sorge auf die Kernkraftwerke in Tschernobyl und Saporischschja, die von der russischen Armee direkt angegriffen wurden. Welches sind die größten Risiken für die nukleare Sicherheit in dieser Situation?

Die russischen Truppen nehmen ganz bewusst Energieinfrastrukturen ins Visier. Das gilt für Erzeugungskapazitäten, für Übertragungsnetze, für Öllager, und auch an den Nuklearstandorten kommt es zu Kampfhandlungen. Erst gestern (28.03.2022) haben wir den kontinuierlichen Beschuss der Kernforschungsanlage der Technischen Universität Charkiw erlebt. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Reaktoren durch direkten Beschuss beschädigt werden, was leicht zu einer Nuklearkatastrophe im Ausmaß von Tschernobyl mit radioaktiver Verstrahlung ganzer Landstriche führen könnte. Das andere Risiko besteht in der Erschöpfung des technischen Personals, das gegenwärtig von den russischen Besatzern als Geisel genommen wird. Dies kann zu Fehlern bei der operativen Entscheidungsfindung führen. Ein weiterer Grund zur Sorge sind Brände in den Wäldern rund um Tschernobyl, die radioaktiven Staub freisetzen und die Region verseuchen können. Unter Kriegsbedingungen können diese Brände nicht adäquat kontrolliert oder gelöscht werden.

Könnte das ukrainische Stromnetz eine Unterbrechung der Stromerzeugung aus den großen Kernreaktoren des Landes verkraften? Wie leistungsfähig ist der neue Verbund mit dem europäischen Stromnetz, der gleich in den ersten Tagen des Krieges eingerichtet wurde?

Das ukrainische Stromnetz ist derzeit sehr stabil, obwohl es seit dem 24. Februar ungeplant drei Wochen lang isoliert funktionieren musste, bevor es an das europäische Netz angeschlossen wurde, und trotz des Beschusses der Energieinfrastruktur. In Saporischschja sind derzeit nur zwei von sechs Kernreaktoren in Betrieb. Der Krieg führte zu einem starken Rückgang der Stromnachfrage. Die Abschaltung eines einzelnen Kraftwerks würde die Gesamtstabilität des Netzes nicht gefährden, und der Verbund mit der EU ist im Moment ausreichend; weitere Verbindungen und Aufrüstungen könnten erst längerfristig erforderlich sein.

Kann die Ukraine also auch kurzfristig ohne russische Energieressourcen auskommen?

Die Ukraine kommt bereits seit mehr als 30 Tagen ohne russische Lieferungen aus. Die einfache Antwort lautet also: Ja, die Ukraine kann es schaffen. Mittelfristig müssen jedoch die Kapazitäten an den Grenzen zur EU für den Transport insbesondere von Erdölprodukten und Kohle ausgebaut werden. Die ukrainischen Behörden und Unternehmen arbeiten bereits an dieser Aufgabe. Auch wenn noch vor wenigen Jahren niemand erwartet hat, dass die Ukraine ohne russische Energieressourcen auskommt - heute ist es bereits Realität.

Was erwartet die Ukraine von der Energiepolitik der EU in Bezug auf Russland und die Ukraine?

Es ist nicht hinnehmbar, dass Europa den russischen Krieg gegen die Ukraine weiter anheizt, indem es täglich 480 Millionen Euro an Russland zahlt. Zwei Drittel dieses Betrags entfallen aktuell auf Gaslieferungen. Nur 3 % entfallen auf Kohle. Ein Verbot von Kohleimporten wird also nicht ausreichen, der Anteil wäre zu gering.

Ich erwarte von der EU, dass sie die entscheidenden Sektoren nicht außen vor lässt. Auch wenn ein vollständiger Stopp der Gaslieferungen aus Russland vielleicht nicht über Nacht möglich ist - eine deutliche Reduzierung der Gasimporte hätte bereits einen sehr relevanten Effekt, um den Geldfluss für die russische Führung abzuschneiden und ihre Fähigkeit, Truppen und alles, was für diesen Krieg gegen die Ukraine benötigt wird, zu finanzieren. Der Diskurs muss sich ändern. Es kann nicht die Antwort sein, zu sagen, dass es ohne russisches Gas nicht geht. Die Gasimporte müssen sofort reduziert werden!

Die Fragen stellte Robert Sperfeld, Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

 

Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, dass Europa den russischen Krieg gegen die Ukraine weiter anheizt, indem es täglich 640 Millionen Euro an Russland zahlt, tatsächlich sind es 480 Millionen. Wir haben die Zahl korrigiert.