Der Literaturnobelpreis an Heinrich Böll

Hintergrund

Vor 50 Jahren, am 19. Oktober 1972, erhielt Heinrich Böll den Literaturnobelpreis. Die Nachricht aus Stockholm erreichte ihn in Athen. In der Begründung der Nobel-Jury hieß es: Der Preis werde ihm verliehen „für eine Dichtung, die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat“.

Nobelpreis für Heinrich Böll in einem schwierigen Jahr

„Wie, ich allein, und nicht der Grass auch?“ Das war Heinrich Bölls erster Kommentar, als ihn, auf dem Weg nach Israel, am 19. Oktober 1972 in Athen die Nachricht erreichte, dass ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden sei. Die Frage nach Grass war berechtigt, da sich die Prognosen in den Zeitungen seit langem auf die beiden konkurrierenden westdeutschen Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Grass konzentrierten. Die hohen Auflagenzahlen der beiden Schriftsteller in West- und Ostdeutschland, aber auch im Ausland waren wohl ein Grund. Ein anderer Grund waren die Bücher, die Grass und Böll gerade veröffentlicht hatten. Grass publizierte 1972 seinen Roman Aus dem Tagebuch einer Schnecke, in dem er sein Engagement im Wahlkampf für Willy Brandt und die SPD in den Jahren 1969 bis 1972 in einem halbfiktiven Tagebuch aufzeichnete; und im Herbst 1971 war Bölls Roman Gruppenbild mit Dame erschienen, ein Buch, das nach Bölls eigener Aussage eine „Zusammenfassung und Weiterentwicklung“ seiner bisherigen Arbeit war.

Auch Heinrich Bölls Name kursierte in dem Jahr als möglicher Kandidat für einen Nobelpreis, den Literatur-Nobelpreis, zumal er kurz zuvor zum Präsidenten des Internationalen PEN (Poets, Essayists, Novelists) gewählt wurde und sich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe zufällig in Stockholm aufhielt. Doch mit dem Nobelpreis für Literatur wurde im Jahr 1971 der lateinamerikanische Schriftsteller Pablo Neruda geehrt, als einen „Dichter der verletzten Menschenwürde“, wie ihn die Stockholmer Akademie bezeichnete.

Ein Artikel und seine Folgen

Die Vollversammlung des Internationalen PEN in Dublin hatte am 12. September 1971 Heinrich Böll mit vielen Stimmen aus dem Ostblock zum Präsidenten gewählt. Mit ihm entwickelte sich der PEN zu einer Art universellen literarischen Gewissens, das mutig die Regierungen sowohl faschistischer als auch kommunistischer Länder attackiert, in denen die Freiheit des Wortes nicht respektiert wird. Der PEN setzt sich als Schriftstellervereinigung – so steht es in der Charta – für die Überwindung von Völker- und Rassenhass und die Verteidigung freier Meinungsäußerung ein. Die Mitglieder des PEN verpflichten sich aber auch, „Auswüchsen einer freien Presse, wie wahrheitswidrigen Veröffentlichungen, vorsätzlicher Lügenhaftigkeit und Entstellung von Tatsachen, unternommen zu politischen und persönlichen Zwecken, entgegenzuarbeiten“. Diesen Passus der Charta beschäftigte Böll schon länger. Im April 1968, als Rudi Dutschke in Berlin durch ein Attentat lebensgefährlich verletzt wurde und die BILD-Zeitung aufgrund ihrer Hetzkampagnen gegen die Studenten für den von Josef Bachmann begangenen Anschlag u.a. in der Zeit mitverantwortlich gemacht wurde, kam es noch am Abend des 11. April zu Demonstrationen und Aktionen gegen den Springer-Verlag. Neben Walter Jens, Golo Mann, Theodor W. Adorno und Alexander Mitscherlich zählte Böll zu einem Kreis von 14 Persönlichkeiten, die sich mit der Unterzeichnung der „Erklärung der Vierzehn“ öffentlich gegen die Springer-Presse positionierten: „Dieses Klima ist systematisch vorbereitet worden von einer Presse, die sich als Hüterin der Verfassung aufführt und vorgibt, im Namen der Ordnung und der Mehrheit zu sprechen, mit dieser Ordnung aber nichts Anderes meint als die Herrschaft über unmündige Massen und den Weg in einen neuen autoritätsbestimmten Nationalismus.“ In dieser Resolution forderten Böll und die anderen Unterzeichner, „endlich in die öffentliche Diskussion über den Springer-Konzern, seine politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und seine Praktiken der publizistischen Manipulation einzutreten“.

Eine Titelgeschichte der BILD-Zeitung führte am 23. Dezember 1971 dazu, dass sich Böll zum ersten Mal zum Thema Terrorismus äußerte. Nach einem Banküberfall in Kaiserslautern, bei dem ein Polizist erschossen wurde, schlussfolgerte und titelte die BILD-Zeitung: „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen.“ Im Bericht selbst hieß es, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft noch keine Hinweise hätte, wer diese Tat begangen haben könnte. Wieder hatte die BILD-Zeitung eine Tatsache behauptet und Personen beschuldigt, obwohl es hierfür keine Beweise gab. Noch am gleichen Tag kündigte Heinrich Böll gegenüber Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein einen Beitrag über diesen Zeitungs-Bericht zum Bankraub in Kaiserslautern an.

Zwischen dem 23. und 26. Dezember entstanden fünf Fassungen, in denen er ein engagiertes, oft polemisches und sehr emotionales Pamphlet gegen Axel Springer und dessen Verlag verfasste.

In seinem Artikel argumentierte Böll nicht für die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, sondern gegen die Berichterstattung der Springer-Medien, in diesem Fall die BILD-Zeitung, die, so Böll, mit solchen Schlagzeilen „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“ regelrecht zur Lynchjustiz auffordere. Böll verlangte Verhältnismäßigkeit: „Kein Zweifel – Ulrike Meinhof lebt im Kriegszustand mit der Gesellschaft... Es ist inzwischen ein Krieg von 6 gegen 60 000 000.“ Er glaubte, dass man diesem Verhältnis besser entsprechen würde, wenn man die Gruppenmitglieder nicht im Schusswechsel besiegt, sondern wenn man versucht, ‚Gnade‘ oder wenigstens ‚freies Geleit‘ anzubieten, die in öffentlichen Prozessen münden sollten. Er ging allerdings davon aus, dass zumindest Ulrike Meinhof von dieser Gesellschaft kein Recht erwartete. Eine besondere Brüskierung war die Forderung, dass man Ulrike Meinhof „freies Geleit“ anbieten sollte, „einen öffentlichen Prozess, und man sollte auch Herrn Springer öffentlich den Prozess machen, wegen Volksverhetzung“.

Später sagte Böll, er habe mit diesem Essay versöhnen und vermitteln wollen, habe den RAF-Mitgliedern den Rückweg erleichtern, der Gesellschaft, der Öffentlichkeit, den Medien, den Behörden einen Weg zeigen wollen, wie der Polarisierung und der Verhärtung der Fronten zu begegnen sei. In der Auseinandersetzung mit dem Springer-Verlag gab es keine versöhnlichen Worte, wie man der Provokation entnehmen kann. Er beabsichtigte aber gewiss, wenn auch versteckt, die Gruppe zur Aufgabe aufzufordern.

Die besondere Schreibtischsituation dieser Weihnachtstage und die Quellenlage waren für den vier Tage dauernden Schreibprozess von Bedeutung. Fast sämtliche Informationen zu diesem – für den Spiegel konzipierten – Text stammten aus Artikeln, die Böll in seinem Zeitungsarchiv gesammelt hatte.

Nach einer kurzen Bearbeitungszeit schickte Böll am 26. Dezember 1971 den Text an Rudolf Augstein und bat im beiliegenden Brief, nichts daran zu ändern, ohne es mit ihm abzusprechen. Dennoch erfuhr der Text eine nicht abgesprochene Änderung, denn die Redaktion verwendete nicht den von Böll vorgesehenen Titel „So viel Liebe auf einmal“, sondern eine Text-Passage („Will Ulrike Meinhof, dass es so kommt? Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit?“), die zu einem (scheinbaren) Zitat-Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ umformuliert wurde. Dass der Titel abgeändert wurde, sollte für die folgende, öffentlich geführte Diskussion um Böll von Bedeutung sein. „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ suggerierte eine Sympathie, persönliche Vertrautheit sogar freundschaftliche Nähe Bölls mit Ulrike Meinhof, die tatsächlich nie bestanden hatte.

Mediale Zuspitzung

Böll war im Vorfeld schon bewusst, dass er mit seiner Philippika polarisieren würde, und erwartungsgemäß äußerten sich am nächsten Tag die Springer-Zeitungen BILD („Narren, Hofnarren, blutige Narren: Sie sagen ‚befreien’, sie meinen ‚zerstören’) und Welt („Bewaffnete Meinungsfreiheit“) zu Bölls Artikel. Aber schon kurz nach der Veröffentlichung wurde deutlich, dass Bölls Artikel, der eindeutig gegen die BILD–Zeitung gerichtet war, in einen für Ulrike Meinhof umgedeutet wurde und die öffentliche Wahrnehmung von Heinrich Böll im Jahr 1972 besonders und die nächsten Jahre stark prägte.

Am gleichen Tag der Spiegel-Veröffentlichung äußerte sich Böll als Präsident des internationalen PEN im Politik-Magazin Panorama über die Verurteilung des sowjetischen Schriftstellers und Dissidenten Vladimir Bukowski. Er könne, so argumentierte er in der Sendung, ohne sich mit dem Internationalen PEN und ihren Gremien abzusprechen, keine öffentlichen Stellungnahmen abgeben. Auch müsste zuerst geprüft werden, ob auf anderen Wegen Bukowskis Situation verbessert werden könne. Zu diesem Zeitpunkt hatte Böll seine Moskaureise im März schon geplant, aber in diesem Interview nicht erwähnt. Das Erscheinen des Spiegel-Artikels und Bölls Fernsehauftritt am gleichen Tag waren zwar bloßer Zufall, sollten aber im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zu dem Narrativ zusammengeführt werden, Böll setze sich zwar für die Verteidigung der Terroristen ein, versage den Dissidenten in der Sowjetunion aber jegliche Form von Unterstützung. Vor allem die Publizisten, Redakteure und rechtskonservativen Christdemokraten aus dem Umfeld der 1967 – auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen – von Kurt Ziesel gegründeten „Deutschland-Stiftung“, die sich für eine konservative Erneuerung des geistigen, kulturellen und politischen Lebens engagierte, polemisierten, agitierten und argumentieren gegen liberale Reformen oder pluralistische Modernisierungen, die sie als sozialistische Ideologie bewerteten. Gerade in der Zeit der sozialliberalen Koalition verstand sich die Deutschland-Stiftung, mit ihrer monatlichen Zeitschrift Deutschland-Magazin, als außerparlamentarische Bastion des Konservatismus mit guten Kontakten zur CSU-Spitze.

Am 26. Januar 1972 kommentierte der Moderator des ZDF-Magazins Gerhard Löwenthal, dass Böll und andere Linksintellektuelle „Sympathisanten dieses Linksfaschismus“ seien; er behauptete, „die Bölls und Brückners und all die anderen sogenannten Linksintellektuellen sind nicht einen Deut besser als die geistigen Schrittmacher der Nazis“. Böll empfand dieses Statement nicht als Kritik, sondern als Denunziation. In dieser Denunziation verbarg sich schon die Personalisierung des von da an negativ geprägten Begriffs „Sympathisant“ mit den beiden Namen von Professor Peter Brückner und Heinrich Böll. Böll beantragte eine einstweilige Verfügung, zum einen, damit Löwenthal untersagt werden sollte, künftig noch einmal derartiges zu behaupten, und zum anderen, um in einem öffentlichen Gerichtsverfahren auf den Unterschied zwischen Kritik und Denunziation hinzuweisen.

Der Rechtsstreit

Am 29. März 1972 begann der Rechtsstreit mit Gerhard Löwenthal vor dem Landgericht in Köln. Böll hatte versucht, gegen Löwenthal und seine Äußerungen eine Einstweilige Verfügung beim Landgericht Köln durchzusetzen, die aber vom Gericht nicht erlassen wurde, weil nach Ansicht der Zivilkammer die für eine einstweilige Verfügung notwendige Wiederholungsgefahr nicht mehr gegeben war.

Frank Heinemann beschrieb den Prozess unter dem Titel „In Sachen Böll gegen Löwenthal“ vom 30. März 1972 im Kölner-Stadt-Anzeiger: „Es ist eine melancholisch stimmende Szene, wie Böll – unter der ein wenig herablassend wirkenden Duldung des Vorsitzenden Richters – zu erklären versucht, warum Löwenthal die ‚Grenze zwischen Kritik und Denunziation überschritten‘ habe. Wobei er mit leiser Stimme hinzufügt: ‚Ich weiß nicht, ob so etwas justitiabel ist.‘ […] Melancholie breitet sich im Sitzungszimmer aus, denn eigentlich brauchte sich das Gericht all das gar nicht anzuhören, streng juristisch genommen. Doch man lässt Böll reden, wie in einem echolosen Raum. Löwenthal, ebenfalls nach Köln gekommen, äußert sich nur kurz. […] Dass Löwenthal Löwenthal bleibt, erweist sich nach der Verhandlung auf dem Gerichtsflur. Eifrig geknipst von einem Fotografen der Illustrierten Quick, die sich an den Attacken auf Böll beteiligt hat, ruft Löwenthal Böll zu: ‚Lesen Sie doch mal gründlich die Rede des Hamburger Bürgermeisters Schulz, die dieser bei der Beerdigung des ermordeten Hamburger Polizisten gehalten hat.‘ Böll zuckt nachher mit den Achseln: ‚Das klang ja fast so, als wenn ich für diesen Mord verantwortlich wäre. Daran können Sie erkennen, wie Herr Löwenthal denkt, welches Verdächtigungsschema seiner Tätigkeit als Kommentator zugrunde liegt.‘“

So frustrierend dieser Prozess für Böll auch ausgegangen war, es sollte nicht der letzte in diesem Jahr 1972 bleiben. In der im Bauer-Verlag herausgegebenen Illustrierten Quick (17/1972, S. 23) erschien ein Artikel mit dem Titel „Baader-Meinhof und Komplizen. Sie wollen den Sozialismus mit Waffengewalt erzwingen“. Am Ende des Artikels waren Fotos von Prof. Peter Brückner, Prof. Jürgen Seifert und Heinrich Böll abgedruckt mit der Bildunterschrift: „Baader-Meinhof-Freunde: Brückner, Seifert und Heinrich Böll“. Heinrich Böll wollte gegen den Bauer-Verlag auf Unterlassung und Verletzung des Persönlichkeitsrechts klagen, doch nach dem Briefwechsel der Anwälte, ob es sich um Tatsachenbehauptungen oder Werturteile handele, verfolgte Böll diese juristische Angelegenheit nicht weiter.

Auf der anderen Seite wurden die Diskussionen um die Innere Sicherheit intensiver, weil zwischen dem 11. und 24. Mai 1972 die RAF mit sechs terroristischen Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam machte. Im Rahmen einer bundesweiten Fahndungsaktion wurden die Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins am 1. Juni 1972 in Frankfurt gefasst. Am gleichen Tag wurde Bölls Haus in der Eifel von schwerbewaffneten Polizisten umstellt und nach Terroristen durchsucht in der Annahme, Böll würde Terroristen Zuflucht gewähren oder diese könnten sich bei ihm versteckt halten. Böll wandte sich in seiner „Eigenschaft als Präsident des Internationalen PEN -Clubs“ am 5. Juni 1972 an Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher mit der Bitte um Aufklärung, „auf Grund welcher Vermutungen, Verdächtigungen, möglicherweise Denunziationen“ sein Haus durchsucht worden sei. Genscher verwies auf bei der Polizei eingegangene Hinweise, während Böll davon ausging, dass diese Aktion ein Ausdruck und eine Folge der wochenlangen Denunziationen sei. In einem Monitor-Interview mit Erich Potthast am 12. Juni 1972 erläuterte Heinrich Böll den Grund seines Schreibens an Genscher: „Nur beim Nachdenken über diesen Vorgang sah ich einen Zusammenhang mit den Verdächtigungen, Denunziationen zum Teil im Parlament, im Bundestag, in der Presse, in Kommentaren, wie sie seit Januar 72 gegen mich laufen.“ In diesem Gespräch erläuterte er sehr emotional: „Ich kann in diesem Lande, in diesem gegenwärtigen Hetzklima nicht arbeiten. Und in einem Land, in dem ich nicht arbeiten kann, kann ich auch nicht leben. Das macht mich wahnsinnig, ewig, ewig mich gehetzt zu fühlen, denunziert zu fühlen und ewig gezwungen zu sein: dementieren, Presseerklärungen. Ich hab kein Büro wie Herr Genscher und andere Herrn. Nicht, ich bin ein Schriftsteller.“

Böll bezog sich hier auf eine Bundestagsdebatte über Fragen der Inneren Sicherheit vom 7. Juni 1972. Der CDU-Parlamentarier Friedrich Vogel hob in dieser Debatte die Bedeutung der Sympathisanten-Szene hervor: „So sehr uns die Anwendung von Gewalt gegen Personen oder Sachen bis hin zu den jüngsten schrecklichen Bombenanschlägen beunruhigen muss, was unter dem Gesichtspunkt der inneren Sicherheit fast noch beunruhigender sein muss, ist der Humusboden der Sympathisanten und intellektuellen Helfershelfer, auf dem die Saat der Gewalt aufgehen und gedeihen konnte.“ Er nannte in diesem Zusammenhang die Namen der Schriftsteller Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Böll. Willy Brandt reagierte im Parlament auf die Vorwürfe gegen die angesprochenen Schriftsteller, „die sich hier nicht wehren können und denen man auch nicht annähernd geistig gerecht geworden ist“. In der gleichen Bundestagsdebatte äußerte sich Oskar Schneider von der CSU zu Bölls Engagement für Alexander Solschenizyn: „Hätte Herr Böll nicht besser daran getan, im Falle Solschenizyn und seinen verfolgten Freunden, wie im Falle Bukowsky, zu fragen, was wir verlören, gäbe es diesen Staat mit seinen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten nicht mehr? Hier hätte Herr Böll seine liberale […], seine freiheitliche Gesinnung unter Beweis stellen können. Er hat geschwiegen.“ Er schlussfolgerte in seiner Wortmeldung: „Vermutlich hat er nicht den Mut gefunden, Unrecht Unrecht zu nennen, obwohl er in dem hohen Amte eines PEN-Präsidenten steht. Wer die Wahrheit über unseren Staat und unsere Gesellschaft derart in Frage stellt, entstellt sie im Bewusstsein der Leser, und er zerstört damit den inneren Frieden.“ Böll bedauerte sehr, dass niemand dem Abgeordneten Schneider widersprach und so seine Unterstellungen und Mutmaßungen sich im Bewusstsein vieler Menschen weiterwirkten.

„Man sagt Böll und meint alle kritischen Intellektuellen“

Die Stockholmer Abendzeitung Expressen berichtete am 21. Juni 1972, dass „starke Kräfte“ in der schwedischen Akademie dafür plädierten, den Nobelpreis für Literatur in diesem Jahr an Heinrich Böll zu vergeben. Diese Nachricht veröffentlichten die Nürnberger Nachrichten am 22. Juni 1972. Darin hieß es auch: „Bereits in den letzten Jahren gab es Spekulationen, dass Böll ein aussichtsreicher Kandidat für den Nobelpreis sei.“ Am gleichen Tag publizierte die zum Springer-Konzern gehörende Berliner Morgenpost zur selben Meldung der Abendzeitung Expressen unter dem Titel „Ausgerechnet Böll“ einen Artikel, in dem behauptet wurde, Heinrich Böll habe als Vorsitzender des Internationalen PEN „den verfemten sowjetischen Dichter und Nobelpreisträger [Alexander Solschenizyn, die Red.] in beschämender Weise im Stich gelassen. […] Findet die Schwedische Akademie keinen Würdigeren als gerade Böll? Findet sie keinen, der um den Preis aller persönlichen Sicherheit Werte wahren Menschentums hochhält?“. Heinrich Böll hatte nicht vor, persönlich gegen eine Zeitung des Springer-Konzerns zu prozessieren, doch in diesem Falle fühlte er sich als Repräsentant des Internationalen PEN verpflichtet, gegen die Herausgeberin der Berliner Morgenpost, den zum Springer-Konzern gehörigen Ullstein-Verlag, zu klagen. Zum einen ging es um den Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Unterlassung herabsetzender und verleumderischer Behauptungen und zum anderen um einen Widerruf des Artikels. Im Schreiben der Anwälte des Ullstein-Verlags vom 4. Juli 1972 wurden die Anwälte von Böll aufgefordert, die Unrichtigkeit der Darstellung der Berliner Morgenpost zu beweisen. Heinrich Böll und seine Sekretärin Renate Grützbach mussten daraufhin zeit- und energieaufwendig den Saarländischen Rundfunk und den Westdeutschen Rundfunk nach Tonbandaufnahmen seiner Interviews zum Thema Solschenizyn anfragen, darüber hinaus den Generalsekretär des Internationalen PEN, David Carver, um eine schriftliche Erklärung bitten, und zusätzlich im eigenen Zeitungsarchiv Kopien von Zeitungsauschnitten (Zeit vom 14. April 1972, Frankfurter Allgemeine vom 14. März 1972, Sonntagsjournal vom 17.Oktober 1970, Junge Kirche vom Februar 1972) zusammenstellen, die belegten, dass Heinrich Böll sich zu Alexander Solschenizyn mehr als einmal geäußert hatte. Diese „Beweise“ wurden gestützt von einem Brief des Zürcher Anwalts Fritz Heeb, der in der Zeit vom 14. Juli 1972 erschien: „Als Anwalt Alexander Solschenizyns fühle ich mich persönlich verpflichtet, solcher Diffamierung Heinrich Bölls entgegenzutreten. Heinrich Böll hat sich Solschenizyn gegenüber in außergewöhnlicher Weise hilfsbereit gezeigt, und zwar durch Taten, nicht durch bloße Worte. Ihn zu beschuldigen, Solschenizyn im Stich gelassen zu haben, ist angesichts der Tatsachen eine krasse Unwahrheit.“ Am 5. September 1972, zweieinhalb Monate später, erschien in der Berliner Morgenpost eine Richtigstellung der Redaktion, in der es hieß, dass sie sich inzwischen überzeugt habe, dass die Darstellung auf einem Irrtum beruht und nicht mehr aufrechterhalten wird.

Neben diesen öffentlichen Angriffen und einer Vielzahl von anonym zugesandten Beschimpfungen erreichten Böll täglich unzählige Briefe der Zustimmung und Solidaritätsbekundungen. So etwa ein Aufruf in der Baseler National Zeitung, der am 10. Juli 1972 auf Initiative von Bölls Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht wurde. Darin hieß es: „Die Empörung über die Terrorakte der Baader-Meinhof-Gruppe dienen einem Teil der Presse, bestimmten Fernsehkommentatoren und Politikern im Bundestag als Alibi, um eine unabhängige Kritik pauschal zu diskriminieren. Man sagt Böll und meint alle kritischen Intellektuellen, die in der Bundesrepublik leben. Wir sind mit Heinrich Böll der Meinung, dass durch die Unterstellungen, Verdächtigungen und Diffamierungen, die den Zweck verfolgen, unbequeme Stimmen einzuschüchtern, ein Hetz-Klima entsteht, das die demokratische Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik gefährdet und ihrem Ansehen in der Welt großen Schaden zufügt.“ Diesen Aufruf hatten 166 Persönlichkeiten des kulturellen Lebens unterzeichnet. Trotz großer Sympathie verweigerten einige die Unterschrift, so auch der Literaturkritiker Karl August Horst, der die Auffassung vertrat, dass zu diesem Zeitpunkt eine Unterschriftensammlung für Böll unvermeidlich als Wahlkampfvorbereitung aufgefasst werden könnte. Er meinte, dass die Intellektuellen sich nicht als Gruppe formieren, sondern differenziert bleiben sollten, um sich nicht als Ganzes angreifbar machen zu lassen.

Tatsächlich engagierten sich viele Unterzeichner neben Heinrich Böll in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative (SWI). Die von Günther Grass bereits 1969 initiierte SWI organisierte Wahlkampfauftritte und produzierte Wahlkampfzeitungen mit Beiträgen mehrerer prominenter Unterstützer. Böll sollte in dem Wahlkampf zu den vorgezogenen Neuwahlen am 19. November 1972 neben Günter Grass und Siegfried Lenz zu einem ihrer Protagonisten werden. Dass der Wahltermin erst im November stattfand, obwohl schon seit April die Regierungskoalition keine richtige Mehrheit mehr hatte, lag an der Ausrichtung der Olympischen Spiele in München, die nicht zur Wahlkampfplattform genutzt werden sollte.

Am 12. Oktober 1972 begann der zweitägige außerordentliche Parteitag der SPD in Dortmund. Als Vertreter der Wählerinitiative hielt Heinrich Böll dort seine Rede „Gewalten, die auf der Bank liegen“. Dort sprach er über seine Beobachtungen und Erfahrungen der letzten Monate. „Es ist in den vergangenen Jahren in diesem Land viel Gewalt sichtbar geworden, viel über Gewalt gesprochen und geschrieben worden. Stillschweigend hat man sich darauf geeinigt, unter Gewalt nur die eine, die sichtbare zu verstehen: Bomben, Pistolen, Knüppel, Steine, Wasserwerfer und Tränengasgranaten. Ich möchte hier von anderer Gewalt und anderen Gewalten sprechen, von jenen, gegen die die sozialliberale Koalition erreicht hat, was sie erreichte: gegen die massive publizistische Gewalt einiger Pressekonzerne, die in erbarmungsloser Stimmungsmache die Arbeit erschwert und Verleumdung nicht gescheut hat.“ Er bezog sich auch auf den CDU-Wirtschaftsrat, der empfohlen hatte, missliebige Verlage unter Druck zu setzen, indem man ihnen Anzeigen entzog: „Und wenn man weiß, dass jährlich rund vier Milliarden Mark für Inserate ausgegeben werden, kann man sich vorstellen, welche Gewalt hinter solchen Empfehlungen steckt.“  Für Böll gab es also nicht nur sichtbare Gewalt auf den Straßen, sondern „auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an den Börsen hoch gehandelt werden“. Und er fragte sich, „wie viel Lebenswertes wird durch all diese Gewalten, die unseren Alltag kommandieren, verhindert, deformiert, gefälscht“?

Auf diesem Parteitag wurde der „offizielle Startschuss“ für den Wahlkampf gegeben.

Der Nobelpreis

Am 13. Oktober 1972, unmittelbar nach diesem Parteitag, brach Heinrich Böll mit seiner Frau Annemarie und Sohn René zu einer privaten Reise nach Israel auf. Wie schon erwähnt, erreichte Böll am 19. Oktober 1972 in Athen die Nachricht, dass die Schwedische Akademie in Stockholm bekannt gegeben hatte, dass er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

Die Reaktionen auf diese Bekanntgabe waren erwartungsgemäß sehr unterschiedlich. Aus der Politik meldete sich zunächst Bundespräsident Heinemann. „Sie [gemeint sind Bölls literarische und essayistische Arbeiten, die Red.] sind Zeugen gegen Gewalt und Unterdrückung und Mahner zu Frieden und Versöhnung“ telegraphierte er. Er betonte, dass Mahner von Bölls Geist in früheren Tagen in unserem Land in die Rolle von Außenseitern gedrängt wurden. „Möge man Sie hier und draußen mehr und mehr als einen Sprecher unserer Zeit verstehen.“ Außenminister Walter Scheel telegraphierte während einer Konferenz aus Paris: „Sie haben durch ihr Werk unserer Sprache in der Welt neuen Widerhall verschafft.“ Der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel hob in einem Glückwunschtelegramm den großen Ruf Bölls im In- und Ausland hervor. Und Bundeskanzler Brandt äußerte seine Freude darüber, dass die Auszeichnung einem Mann zuteilgeworden sei, „dessen Werk über sein eigenes Volk hinaus bei vielen in West und Ost einen so großen Widerhall gefunden“ und der viel dazu beigetragen habe, das Gewissen seiner Mitmenschen zu schärfen. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß warnte davor, „dass auch dieser Nobelpreis zur politischen Werbung missbraucht wird“.

Die Reaktionen in den Zeitungen und Zeitschriften waren ebenso vorhersehbar. In der Süddeutschen Zeitung vom 20. Oktober 1972 ahnte Joachim Kaiser schon, wie die Nachricht aufgenommen werden würde: „Bölls Gegner, und die besitzt er natürlich wie jeder Autor, der entschieden zu sogenannten ‚Zeitfragen‘ Stellung nimmt, haben es nun schwer. Auf der einen Seite müssten sie sich gequält darüber freuen, dass ein ganz unverwechselbar westdeutscher, ja rheinländisch-kölnischer Dichter nicht nur zum eigenen Ruhme vor den Augen aller Welt ausgezeichnet wurde, sondern auch zum Ruhme der Gesellschaft, die ihn hervorgebracht, gebildet, geduldet und auf ihre Weise respektiert hat. Doch diese gequälte Freude wird wahrscheinlich übertönt von politisch-taktischen Bedenken. Auch hinter diesem Nobelpreis dürfte man wieder nur indirekte Wahl-Propaganda, linke Verschwörung, anarchistische Frontenbildung vermuten.“ Am gleichen Tag schrieb der Kritiker Hans-Joachim Maitre in Welt unter dem Titel „Gruppenbild mit Böll – Der Nobelpreis für Literatur ist eine politische Auszeichnung“, dass die vorrangig politische Natur des Nobelpreises für Literatur nie zu bestreiten war. Für ihn ist die Preisvergabe an Böll dafür der Beweis. „Zu einem Zeitpunkt auch international-kultureller Spannungen entschloss sich die Akademie in Stockholm zu einem Laureaten, der wie kein zweiter im europäischen politischen Spannungsfeld den Traum einer weltweiten Entspannung zur täglichen Beschäftigung werden und das eigene literarisch-künstlerische Werk seit einem Jahrzehnt konsequent verkümmern ließ. Es kann nicht die literarische Wertung sein, die Heinrich Böll nach Norden ruft.“ Zur literarischen Qualität Heinrich Bölls schrieb Maitre weiter: „Magere Phantasie, hingebungsvolle Manieriertheit und die konsequente Verschreibung an die geistige Provinz sind im literarischen Bereich gewöhnlich nicht preisenswert. Auch dann nicht, wenn sie in Stockholm für preiswürdig befunden werden. Es ist über den politischen Böll hierzulande kein Wort mehr zu verlieren. Seine Befürwortung der Gewalt auch innerhalb eines demokratisch strukturierten Staates, seine Weigerung, in dem totalitären Staat, der ihm Riesenauflagen gewährt, zugunsten der inhaftierten Freigeister Bukowskij und Jakir einzuwirken, sind hinlänglich bekannt.“ Auch in anderen Medien wurde die Unterstellung wiederholt, dass Böll sich einerseits für die Verteidigung der Terroristen einsetzt, andererseits die Dissidenten in der Sowjetunion nicht unterstützte.

Für Armin Eichholz am 20. Oktober 1972 im Münchner Merkur war es einerseits an der Zeit, in der deutschen Nachkriegsliteratur etwas Nobelpreiswürdiges zu bestimmen. „Andererseits ist eine Auszeichnung für die immer politischer definierte ‚engagierte Literatur‘ stets auch ein Politikum, das selbstverständlich politische Folgen einschließt. […] Es gibt kaum ein wichtiges deutsches Nachkriegsthema, zu dem sich Böll nicht in Aufsätzen, Protokollen, Reden oder Podiumsgesprächen geäußert hätte. Vielleicht sollte aber erwähnt werden, dass er dabei nicht immer den intellektuellsten Eindruck erweckte; ja manchmal gefiel er sich gerade in der Geste des am Schicksal gereiften Proletarierstämmlings, der krawattenlos und pfeifenschmauchend den gesunden Menschenverstand gegen geistige Verstiegenheiten ausspielt. Da lebte er manchmal über seine Verhältnisse.“ Heinz Beckmann stellte im Rheinischen Merkur vom 27. Oktober 1972 fest, dass sogar die Glückwünsche zum Nobelpreis politisch gefärbt seien. Unter dem Titel „Wieso Heinrich Böll?“ führt er aus, das Bölls schriftstellerische Qualifikation bei den Reaktionen auf den Nobelpreis eine untergeordnete Rolle spielte. „Das sind merkwürdige Töne nach der Verleihung eines so hoch veranschlagten Preises für Literatur. Von Literatur sprach diesmal kaum jemand. Das wäre auch schwierig gewesen, weil sich dabei die Frage aufdrängte: Wieso Heinrich Böll? Als Albert Camus den Nobelpreis bekam, befasste sich niemand mit dessen vormals kommunistischer Parteizugehörigkeit. Quer durch alle politischen Fronten war man sich einig darin, dass Camus den hohen Preis um der Literatur willen längst verdient hätte. Bei Heinrich Böll aber begnügte man sich mit ‚erfreulich' oder ‚gratuliere‘ oder ‚herzliche Glückwünsche‘, und wer ihm über die literarische Verlegenheit hinaus mehr sagen wollte, kam ungeniert oder in idealistischer Verbrämung auf Bölls Gesinnung, auf Bölls politisches Engagement zu sprechen. Literatur blieb ausgeklammert.“ Dieter Gütt in der Abendzeitung vom 20. Oktober 1972 führte aus, dass das Nobelpreis-Komitee nach ihren eigenen Grundsätzen nicht allein die Sprachgewalt, den literarischen Rang oder das Gesamtwerk eines Dichters zu würdigen hätte, sondern auch dessen moralischen Impetus, seine Haltung, seine Sorge um Gerechtigkeit und Menschlichkeit: „Es ist schon immer die Überzeugung des deutschen Bildungsbürgers gewesen, der sich zum christlichen oder nationalen politischen Konservativismus bekennt, dass ein deutscher Dichter unpolitisch zu sein hat. Auch an Böll schätzte man stets das literarische Werk, seine Beschreibungskunst bürgerlichen Verhaltens. Erst als Böll daranging, in aller Freiheit und Rücksichtslosigkeit Entartungserscheinungen unserer Gesellschaft anzuprangern, die doppelte Moral der Behörden, die überspannte Staatsfeindsuche, den Übermut der Ämter, die Meinungsmacht und -masche des Springer-Konzerns, da wurde der Schriftsteller zu einem Salonanarchisten gestempelt, zu einem Millionenverdiener, der sein Geld in Diktaturen hamstert, zu einem Helfershelfer Bombenleger.“

Die meisten Reaktionen in den Medien waren neutral bis positiv. Am 20. Oktober 1972 schrieb Wolfram Schütte für die Frankfurter Rundschau: „Es ist der begründete Eindruck, dass sich etwas Entscheidendes geändert hat; dass Deutschland von seiner Vergangenheit – einer Vergangenheit der Furcht, des Schreckens und der imperialistischen Machtentfaltung – Abschied genommen hat. Das weltweite Ansehen, dessen sich die Bundesrepublik erfreut (nicht nur im Westen), hat politisch einen Namen: Willy Brandt; geistig eine literarische Kontur: Heinrich Böll und sein Werk. Der Blick, der von außen auf beide fällt, ist ein Blick der Sympathie, der Anteilnahme, ein Unterpfand der Hoffnung. Das hat lange gedauert, lange hat man darauf warten müssen.“

Gegen den Vorwurf, die Schwedische Akademie würde sich in eine Wahlkampagne einmischen und den Nobelpreis zu Gunsten Willy Brandts verleihen, verwahrte sich am 21. Oktober 1972 auch Karl Korn in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Von einem Mann wie Strauß wird man kaum erwarten, dass er eine Erscheinung wie Böll verstehen oder gar, wenn auch mit Vorbehalten, akzeptieren könne oder wolle. Der Gedanke, dass der erste deutsche Nobelpreis nach 43 Jahren eine Geste erfordert hätte, ganz gleich, wie man politisch zu Böll stehen mag, ist dem Parteichef nicht gekommen. Das dürfte in aller Welt einzigartig sein.“

In den ausländischen Zeitungen, die die Preisvergabe an Heinrich Böll würdigten, wurden einige Stimmen in deutschen Zeitungen zusammengefasst. Allgemein erkannten sie Heinrich Böll als hervorragenden Repräsentanten der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit an. Der britische linksliberale Guardian schrieb: Böll ist umstrittener als irgendeine andere bedeutende literarische Figur in Deutschland seit den 30er Jahren. Während der literarische Ruf von Grass abnahm, als sein direkter Wahlkampf für die SPD mehr seine Zeit und Energie in Anspruch nahm, hat das Ansehen von Böll sich im vergangenen Jahr seit der Veröffentlichung seines jüngsten Buches ‚Gruppenbild mit Dame' im letzten Herbst erhöht.“ Die rechtsgerichtete französische Aurore bezeichnete Böll als einen politisch engagierten Schriftsteller und schrieb: „Mit seinem Landsmann Adenauer ist Böll eines der beachtenswertesten Produkte dieses katholischen, traditionalistischen und rigoristischen, wenn auch immer ein wenig aufsässigen Rheinlands, wo seine Wiege stand. Er ist jedoch weit entfernt, die Ansichten des alten verstorbenen Kanzlers zu teilen.“ Der linksunabhängige Combat legt ebenso wie die kommunistische Humanité die Betonung auf Böll als Intellektuellen, der fähig ist, eine soziale Verantwortung zu übernehmen und bezeichnet ihn als „fortschrittlichen Christen“. In Polen schrieb die Tribuna Ludu: „Die liberalen Kreise in der Bundesrepublik betrachten die Verleihung des Nobel-Preises indirekt als Tribut an die entschieden antireaktionäre Haltung von Heinrich Böll und sein Engagement in diesem Wahlkampf für die realistischen Kräfte, die eine Entspannung begünstigen. An diesem Kampf nimmt fast die gesamte Intellektuellen- und Schriftstellerelite der Bundesrepublik teil.“ Die Neue Zürcher Zeitung stellte die traditionelle Behauptung der Stockholmer Akademie in Frage, sie lasse sich einzig vom literarischen Werturteil leiten: „Jedermann weiß, dass die Akademie bei der Wahl des Preisträgers nicht nur ästhetische, sondern auch taktische Kriterien berücksichtigt.“ Die Zeitung erwähnte in diesem Zusammenhang Pablo Neruda, Pasternak und Solschenizyn. Der liberale Mailänder Corriere della Sera sieht den neuen Nobelpreisträger Heinrich Böll nicht so sehr als großes schriftstellerisches Talent, sondern vor allem als soziales Gewissen: „Zweifellos gehört Böll nicht zu den größten lebenden Schriftstellern der internationalen Bühne. In Bölls Erzählkunst haben die Preisrichter nicht die Quellen der rastlosen Spannung des Meisterwerks, sondern die Lebhaftigkeit, die moralische Integrität und die romanhafte Weisheit eines der kämpferischsten Gewissen im Nachkriegsdeutschland prämiert.“ In Spanien schrieb Nuevo Diarfo: „Sein Werk ist ein ständiges Plädoyer gegen Krieg und die Ungerechtigkeit, eine Aufforderung zu universaler Brüderlichkeit, Frieden und Liebe. Aber nicht in einem falschen, seligsprechenden Ton, sondern hart, aggressiv und sarkastisch.“ Die dänische konservative Berlingske Tidende bezeichnet Böll als „Sozialist, Millionär und Genie. Was er sonst noch ist? Ein Paradox: katholischer Humanist. Sowohl in weihrauchduftenden Kathedralen als auch in marxistischen Katakomben nimmt man ihn mit Vorliebe für sich in Anspruch.“ Die sozialdemokratische Aktuell stellt den Zusammenhang zwischen Böll und den anderen Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur her: „Manche hätten es für sinnvoller gehalten, Günther Grass den Nobelpreis zu geben, der modernistischer und vulkanischer ist. Jedoch ähneln sich auf vielerlei Weise die drei großen deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit: Günther Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll. Böll ist der älteste. Die Nobelzeit der beiden anderen kommt sicherlich."

„Aus bitterer Liebe zum Menschen“

Vom 13. bis 18. November 1972 tagte der Internationale PEN-Club in der Akademie der Künste in Berlin. Allerdings reiste Heinrich Böll erst am 15. November 1972 nach Berlin, da er am Abend des 14. November 1972 zusammen mit Willy Brandt einen Wahlkampfauftritt in der Kölner Sporthalle zu absolvieren hatte.

Die Woche des internationalen PEN stand im Zeichen von zwei wichtigen Verhandlungspunkten. Um eine der wesentlichen Aufgaben des PEN, die Unterstützung von inhaftierten und politisch verfolgten Autoren in aller Welt, zu intensivieren, wurde ein Komitee für die „Writers in Prison“ gegründet, das, erstmals auch mit Vertretern der sozialistischen Länder besetzt, diese wichtige Aufgabe gezielter und umfangreicher wahrnehmen sollte. Des Weiteren initiierte Böll eine Diskussion, den PEN von einem reinen Poetenclub weg zu einer Schriftstellervereinigung mit politischer Verpflichtung zu bringen. Der Vorschlag einer Überarbeitung wurde aber abgelehnt. Dennoch waren die Delegierten, wie die Schwäbische Zeitung vom 20. November 1972 berichtete, zufrieden: „‘Seit Böll Präsident ist‘, hebt der Delegierte eines europäischen PEN-Zentrums hervor, der an dem Schriftsteller-Kongress des internationalen PEN-Clubs teilnahm, ‚geschieht viel für Schriftsteller, diskret und ohne öffentliches Aufheben. ‘Die ‚Vermenschlichung‘ in den Aktivitäten des PEN-Clubs wird von Mitgliedern aus Ost und aus West besonders anerkannt.“

Im Rahmen der Tagung fanden Empfänge statt, so beim Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz im Schloss Charlottenburg, im Sender Freies Berlin und beim Bundespräsidenten Gustav Heinemann im Schloss Bellevue. Anlässlich des Empfangs im Berliner Amtssitz des Bundespräsidenten hielt Heinemann eine Ansprache, die in der Frankfurter Rundschau vom 17. November 1972 unter dem Titel: „Wir Deutschen tun uns mit unseren Dichtern viel schwerer“ abgedruckt wurde. In dieser Rede äußerte Heinemann sich auch zu Heinrich Böll. Der Bayernkurier schrieb am 25. November 1972 über den Empfang beim Bundespräsidenten: „Und Heinemann war es auch, der sich wie ein väterlicher Löwe vor den politischen Kritiker Böll warf, der ja seinerseits nicht die geringste Kritik verträgt, als er sagte: ‚Dass Sie Romane schreiben, damit wollte man sich schließlich abfinden, aber Ihre freie und eindeutige politische Stellungnahme wird bei etlichen Zeitgenossen als unpassend und anmaßend empfunden.‘ […] Heinrich Böll müsste es eigentlich bedenklich stimmen, so sehr Sprachrohr einer bestimmten Haltung und Gruppe geworden zu sein, dass der Bundespräsident sich um ihn bemüht und ihm selbst den Segen erteilen zu müssen glaubt.“

Der Abschluss der PEN-Zusammenkunft bedeutete für den gesellschaftspolitisch stets engagierten Literaten jedoch keine Pause, geschweige denn die Möglichkeit, die Ruhe für eigene literarische Pläne zu finden. Der Grund: Am 19. November 1972 fanden Wahlen zum siebten Deutschen Bundestag statt. Die Wahl bestätigte die sozialliberale Koalition, und die SPD stellte zum ersten Mal die größte Fraktion im Parlament. Dieses Wahlergebnis war sicherlich auch ein Erfolg der Sozialdemokratischen Wählerinitiative, auch wenn dies so nicht nachweisbar sein mag.

Ob im Zusammenhang mit der durch die Bundestagswahlen verschobene Aufmerksamkeit oder nicht – zu beobachten ist, dass die vielen Kritiken an Böll, die wie eine Kampagne wirkten, in den Zeitungen abebbten; dennoch zeigte die vorangegangenen Diskussionen um ihn wirtschaftliche Wirkung. Im Express vom 25. November 1972 wurde berichtet, dass Mitglieder der DBG (Deutsche Buch-Gemeinschaft) Missfallen über das politische Engagement von Heinrich Böll zum Ausdruck gebracht hatten und als Folge manche geplanten Buchprojekte nicht realisiert wurden. Der Lektor der DBG, G. Trageiser, beklagte in einem Brief an den Desch-Verlag: „Wir haben zurzeit so viel Ärger mit unserem Weihnachtsband von Heinrich Böll ‚Gruppenbild mit Dame‘, dass wir kein Buch ins Programm aufnehmen können, in dem irgendwie von irgendjemand und auf irgendwelche Weise Sympathisches über linke Leute und Ideen geäußert wird.“ Darauf angesprochen äußerte sich Böll anlässlich einer Pressekonferenz zum Nobelpreis am 23. November 1972 im Kölner Hotel Mondial: „Es hat natürlich nach dem Höhepunkt der Polemik von mir und gegen mich eine Art Boykott gegeben, nicht nur in den Buchgemeinschaften. Das konnten Sie sehr einfach ablesen an gewissen Bestseller-Listen. Und zwar ist mein Roman über Nacht, wie man feststellen konnte, verschwunden, und gewisse Buchhandlungen haben, glaube ich, nicht gerade boykottiert, aber zurückgezogen. Das ist ihr Recht, ich finde das vollkommen normal, wenn sich politische Missverständnisse derart marktmäßig zu Buche schlagen. Ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen in einem Land, wo der Unterschied zwischen Kritik und Denunziation noch nicht justiziabel ist.“

In Erinnerung sind auch die vielfach abgedruckten Schwarz-weiß-Bilder der feierlichen Verleihung der Nobelpreise am 10. Dezember 1972 in Stockholm. Vor 3300 Festgästen nahmen Heinrich Böll (mit einem geliehenen Frack) sowie acht Amerikaner und zwei Engländer aus der Hand des Kronprinzen Carl Gustaf die Preise entgegen. Der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Karl Ragnar Gierow, begründete die Preisverleihung an Heinrich Böll. Seine Rede beendete er auf Deutsch: „Lieber Herr Böll, eine natürliche Folge der Heimatlosigkeit, eines der Leitmotive Ihres Werkes, ist das Bestreben, dass Sie selber mit den Worten ausgedrückt haben: ‚die Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land‘.“ Auf dem Festbankett, das die schwedische Regierung am Abend für die Nobelpreisträger gab, hielt Heinrich Böll die Dankesrede. Mit der Bemerkung, dass die Ehre der Preisverleihung nicht nur ihm, sondern auch dem Land gelte, dessen Bürger er sei, schloss Heinrich Böll seine Rede in Stockholm.

Das Jahr 1972 endete für Böll versöhnlich mit einem Empfang der Stadt Köln im Historischen Rathaus anlässlich der Verleihung des Nobelpreises. Am 29. Dezember 1972 hielt Oberbürgermeister Theo Burauen eine Laudatio, in der er den Schriftsteller als Menschen bezeichnete, der „kein Freund von pathetischen Auftritten ist, dem überhaupt Äußerlichkeiten und Gepränge missfallen“. Burauen nannte Böll „einen heilsamen Mahner aus bitterer Liebe zum Menschen" und bat ihn schließlich, sich ins Goldene Buch einzutragen, um „die Namen Köln und Böll in einem Buch zu vereinen".


Dieser Text erscheint Ende November in vollständiger Fassung in der Publikation Die Vernunft der Poesie und kann dann unter www.boell.de bestellt oder heruntergeladen werden.


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