Prof. Dr. Ingeborg Villinger, Vortrag am 23.10.2022 im ArTik Freiburg im Rahmen der Veranstaltung Kunst in Zeiten des Krieges
Nach „20 Jahren Krieg in Afghanistan und Tausenden von Toten marschierten vor einem Jahr die Taliban in Kabul ein; sie hatten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in die Knie gezwungen. Zwei Tage nachdem der BND der Regierung meldete, eine „Eroberung der Stadt sei „eher unwahrscheinlich“, flohen Amerikaner und Europäer am 15. August 2021 Hals über Kopf aus der afghanischen Hauptstadt als die siegreichen Islamisten einrückten. Zurück in Kabul blieben Tausende frühere Helfer der Deutschen und deren Familien“, die sich nun in Lebensgefahr befinden. Die Bilder des dramatischen Geschehens am internationalen Flughafen in Kabul sind bis heute ein Menetekel in der kollektiven Erinnerung. Zwar wurden 5340 Personen aus 40 Nationen, darunter etwa 1000 Afghanen, in den kommenden Tagen ausgeflogen, doch der Prozess der Rückholung der Ortskräfte wurde am 26.8. durch einen Selbstmordattentäter unterbrochen und trotz lebhafter Reisetätigkeit deutscher Minister – mit „mehreren Hundert Millionen Euro im Koffer in die Anrainerstaaten, um die Grenzen für afghanische Flüchtlinge zu öffnen“ - ist die Rückholaktion bis heute nicht abgeschlossen.
Zurück in Kabul blieben außer den Ortskräften auch die Frauen - sie haben in den letzten zwei Dekaden ein erhebliches Maß an persönlicher Freiheit gewonnen; ebenso die Mädchen, für die in den letzten 20 Jahren Bildung und Ausbildung möglich geworden war: so konnten sie in Kabul beispielweise ein Gymnasium besuchen und es stand ihnen eine große Spannweite von Optionen zur Verfügung: angefangen von Blindenschulen zur Integration in einen Ausbildungsgang bis hin zur Möglichkeit von Studiengängen des Ingenieurswesen für Frauen. Sie konnten ihren Wunschberuf ergreifen und den noch Jüngeren war es immerhin möglich, wenigstens von einem solchen Lebensplan zu träumen und auf dessen Verwirklichung zu hoffen. Doch im Herbst 2021 verbannten die Taliban Frauen und Mädchen in den Hausarrest, Bildung war zunächst gar nicht mehr oder nur in Privat- oder sog. „Geheimschulen“ möglich, in denen sie durch andere Frauen unter Lebensgefahr unterrichtet wurden. Inzwischen steht ihnen das Bildungssystem lediglich bis zur 6. Schulklasse offen, dann müssen sie ins Haus zurückkehren; weiterführende Schulen, Berufsausbildung oder gar die Ausübung eines Berufes ist für sie so wenig mehr möglich, wie sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum zu bewegen.
Dramatisches ereignete sich mit dem Einmarsch der Taliban auch im Bereich von Kunst und Kultur: die KünstlerInnen flohen ins Ausland oder haben sich im Land versteckt; Kabuls bisher lebhafte Kulturszene ist inzwischen leergefegt und die Stadt zu einem Hochrisikogebiet für die Kunstschaffenden geworden. Sie sind gezwungen, entweder zu verstummen oder das Land zu verlassen. Die im Land Gebliebenen sind durch die Taliban – die sich zunächst gemäßigt gaben oder doch untereinander uneins waren - so extrem gefährdet, dass bspw. MusikerInnen ihre Arbeiten, ja sogar ihre Instrumente zerstörten, um der Gefahr für Leib und Leben zu entgehen. Sie verwischen die Spuren ihrer Kunst, um zu verhindern, dass bei den zumeist nächtlichen Hausdurchsuchungen etwas gefunden werden kann. Sie tilgten auch ihre Tätigkeit im Netz, da die „Zusammenarbeit mit dem Westen“ als schwerer Regelverstoß gilt, der mit Folter, Gefängnis oder Tod bestraft wird. Diejenigen, die direkt nach dem Einmarsch versuchten, mit den Taliban zu diskutieren, wurden sofort gefragt: „Bist Du ein Ungläubiger“? Dabei betonen die Kunstschaffenden weder gegen Religion noch den Glauben zu sein, vor allem aber weisen sie drauf hin, dass sich Islam und Kunst keineswegs gegenseitig ausschließen. Doch ein solches Kunstverständnis steht im Gegensatz zu den extrem restriktiven Vorstellungen der Taliban – die ihr „verdammtes Gesicht“ - so ein anonym bleiben wollender Künstler - „in den Medien zeigen, aber jede Nacht kontrollieren sie und durchsuchen Haus für Haus: wer für die Regierung arbeitet, wer für Ausländer arbeitet, wer für die Kunst arbeitet, wer Ingenieur ist, wer Politiker oder Mitglied des Parlaments“.
Dass Kunst und Kultur mit dem Islam kompatibel sind, davon zeugen nicht nur die zurückliegenden 20 Jahre und die blühende Kunst- und Kulturlandschaft in Kabul - jener größten Stadt des Landes, das zu Zweidritteln aus unzugänglichen Bergregionen besteht und doch seit Jahrhunderten eine höchst vielfältige Kulturtradition hervorbrachte -, die weit über ihre Grenzen hinausreicht.
Kleiner Exkurs zur Vorgeschichte der Kunsttradition in Afghanistan
Sieht man von den ersten, vorislamischen Zeugnissen, wie den zoroastrischen Feuertempeln ab, die um 2000 v. Chr. entstanden sind, lassen sich bereits ab 500 v.Chr. Kunst und Malerei als Reflexion menschlichen Spiritualität und Ethik beobachten. In der Provinz Bamiyan – durch die in der Antike die Seidenstraße mit einer „Kreuzung zweier wichtiger Karawanenwege“, den zentralen Handelsrouten ging - zeugen nicht nur vielfältige Wandmalereien und Höhlenklöster von einer beeindruckenden Hochkultur des iranisch-buddhistischen Zeitalters in Afghanistan, sondern auch die größten Buddha-Statuen der Welt, mit „denen Buddha erstmals bildlich dargestellt wurde.“ Wie Sie sicher wissen, wurden die zum Weltkulturerbe gehörenden, bis zu 53m großen und auch eine Reihe kleinerer Figuren im Jahre 2001 durch die Taliban zerstört. Ab 400 v.Chr. vermischte sich die vielfältige baktrische Kultur Afghanistans mit römischen und griechischen Einflüssen – davon zeugt die Provinz Ai Khanum, in der „ein Theater im typisch greco-buddhistischen Stil mit 5000 Sitzplätzen ausgegraben“ wurde. Diese und andere Funde der Archäologen lassen den hohen Stellenwert des Theaters, aber auch den großen „wirtschaftlichen Wohlstand und die kulturelle Blüte“ dieser Stadt erkennen, die im Norden direkt an der tadschikischen Grenze liegt. In den folgenden dreieinhalb Jahrhunderten bescherte die Gleichzeitigkeit der Einflüsse von Griechentum und Buddhismus, Christentum und Hinduismus, sowie des jüdischen Glaubens, dem Land mit seinen reichen Bodenschätzen eine ungeheure kulturelle Vielfalt.
Erste arabische Spuren sind in Afghanistan ab Mitte des 600 v.Chr. erkennbar – sie finden sich vor allem in Kalligraphie und Architektur (wie beim Bau von Moscheen) und Miniaturmalerei. Doch mit den arabisch-türkischen Einflüssen verbreitete sich der vorwiegend sunnitische Islam bereits ab 350 n. Chr. „in rasantem Tempo in der gesamten Region“ und bis zum „verheerenden Mongolensturm Anfang des 13. Jahrhundert lösten sich türkischstämmige Herrscherdynastien“ und ihre als islamisch bezeichneten Imperien in kriegerischen Auseinandersetzungen ab. Infolge der nur indirekten Herrschaftsausübung dieser Imperien durch Statthalter und Besatzungstruppen, erstarkte die Macht der Anführer der Dörfer und Stämme, die in dieser Zeit ihre Kulturtradition festigen konnten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Afghanistan als „wichtiges Teilstück der Seidenstraße zwischen dem Iran und China“ überreich an antiken Städten, Kunst und Kultur, an Klosteranlagen und Karawansereien war – in „einer von ihnen fand beispielweise Marco Polo auf seiner Reise zum schillernden Hof von Kublai Khan - dem späteren Kaiser von China - im 13. Jahrhundert (1215-1294) eine Herberge“. Die Spuren dieser Begegnung reichen bis in die moderne Literatur hinein – in Italo Calvinos Roman Die unsichtbaren Städte (1972/1977 dtsch.) ist Kublai Khan der Zuhörer der Erzählungen von Marco Polo.
Kunst und Kultur am Ausgang des 19. und im 20. Jahrhundert
Soviel lückenhaftes zur Vorgeschichte von Kunst und Kultur in Afghanistan. Ich mache nun einen Sprung in das 20. Jahrhundert – verbunden mit dem Hinweis, dass angesichts der raschen Folgen von Herrschaftswechseln in diesem Land keine lineare kulturelle Entwicklung zu beobachten ist, zumal sich seit dem 19. Jahrhundert die Städte rapide modernisierten, „während in den ländlichen Regionen die traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen bleiben. Diese Kluft besteht bis heute und prägt die Entwicklung von Kunst und Kultur nachhaltig.“
1919, mit dem Frieden von Rawalpindi, endete in Afghanistan der dritte afghanisch-britische Krieg und mit dem ein Jahr später unterzeichneten Vertrag von Kabul wurde das Land als souveräner und unabhängiger Staat durch die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien anerkannt. Politisch fungierte nun das Land - mit seinen 30 verschiedenen Sprachen und bis zu 200 ethnischen Gruppen - als eine Art politischer Pfuffer zwischen den russischen und britischen Interessen.
Unter Amannullah Khan (dem von1925 bis 1929 regierenden König) wurde bald eine deutliche Öffnung des Landes für die westliche Moderne erkennbar: bereits1930 konnte in Kabul die erste Akademie der Schönen Künste eröffnet werden, die zu einem Magnet der bildenden Künste wurde. Nach dem Abdanken des Königs wurde das Theater geschlossen und im Laufe der Jahre zerstört, erst im Zuge der Theater-Neugründungen ab 1944 wurde es wieder eröffnet. Nach kurzer Zeit wurde bereits eine Erweiterung nötig, die von einem Schüler Max Liebermanns (Ustad Ghafur Breshna), mit technischer Hilfe aus Deutschland und Unterstützung der UNESCO, organisiert wurde.
Diese Entwicklung ist deshalb bemerkenswert, weil die islamische Kunst auf der Suche nach einem identischen Ausdruck ihres künstlerischen Erbes sich permanent und nicht ohne Spannungen zwischen den Formen rein ornamentaler und figürlicher Darstellung bewegt. Sie erklärt auch das Maß an Provokation als 1978, ein Jahr vor dem Einmarsch der Sowjetunion, die KünstlerInnen von der damaligen pro-sowjetischen afghanischen Regierung explizit zu einer Bildkultur ermuntert wurden, die Arbeit und Leben der Arbeiterklasse darstellen sollte. Mit den zeitgleichen Versuchen, die Landbevölkerung zu alphabetisieren, wurde die Toleranz gegenüber einer Annäherung an die Moderne überschritten, denn die traditionelle Stammesordnung und –Kultur befürchtete ihre Zerstörung. Dieser Clash zwischen Tradition und Moderne provozierte einen derart militanten Widerstand, der auch vom Einmarsch der sowjetischen Truppen nicht befriedet werden konnte und in einen langjährigen Bürgerkrieg mündete.
Ebenfalls in der Zeit von Amanullah Khan profitierten auch die darstellenden Künste von der Öffnung des Landes. So konnte „im alten Kabul, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, [] die erste Theatergruppe des Landes gegründet“ werden. Der Herrscher leitete ein umfassendes Reform- und Modernisierungsprogramm ein, das sich an Kemal Atatürk orientierte: er errichtete Schulen für Jungen und Mädchen und holte moderne Technik ebenso wie westliche Medizin ins Land. Noch in den frühen 20er Jahren konnte mit deutscher Hilfe das erste Schauspielhaus gegründet werden, dessen erste Produktion das patriotische Stück „Mutter der Nation“ war, das in der Folgezeit auch an den Schulen des Landes populär wurde. Hoch im Kurs standen auch „Werke deutscher Klassiker, wie Lessings Nathan der Weise, Schillers Kabale und Liebe, sowie Goethes Faust und Grillparzers Traum“. In der Folgezeit wurde das Schauspielhaus zu einem Treffpunkt für Intellektuelle und Lehrer und war auch eine internationale Brücke für die Schauspielausbildung in anderen Ländern. Dieses Projekt war damals einzigartig in der gesamten Region - weder Pakistan, Tadjikistan, noch Uzbekistan oder Indien hatten eine derartige Einrichtung.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden vermehrt Theater gegründet, zu den wichtigsten zählten das 1944 eröffnete Knowledge Theatre und das etwas später entstandene City Theatre, beide standen in lebhaftem kulturellen Austausch mit anderen, auch westlichen Ländern - auf diesem Wege wurden auch die Prinzipien des modernen Theaters aufgenommen. In den 1960er Jahren war das Schauspiel ein fest etablierter Bestandteil der Fine Arts Organisation, die Bühnenstücke reichten von Geschichten über Afghanistan und kulturellen Epen, bis hin zu Shakespeares Werken und Anton Tschechow. 1958 entstand ein eigenes Frauentheater, das zunächst nur von Frauen besucht werden durfte, später erhielten auch Männer Zutritt, allerdings blieb die Trennung der Geschlechter bei den Schauspielern bestehen: d.h. in den Männertheatern wurden Frauenrollen von Männern gespielt und vice versa. Anfang der 60er Jahre wurde von einem deutschen Architekten das National Theater Kabul entworfen, das über eine Drehbühne, einen Orchestergraben und 700 Zuschauerplätze verfügte. 1993, während der Bürgerkriegsjahre, wurde auch dieses Theater völlig zerstört und 1995 die Schauspieler von den Taliban vertrieben. Nur an der Kabuler Universität überlebte es in einer Art Schrumpfform: an der Faculty of Fine Arts konnten sogar gemischte Gruppen spielen - doch die Vorführungen fanden jenseits der Öffentlichkeit statt, Zutritt hatten nur der Universitätsdirektor und seine Freunde.
Die filmische Kunst wurde in Afghanistan - das heute als Drehort völlig verloren ist – ebenfalls bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Emir Habibullah Khan (1901 bis 1919) eingeführt. Zunächst war der Film nur den Mitgliedern am Hof des Emirs zugänglich, doch bereits Mitte der 1920er Jahre wurde unter der Herrschaft seines Sohnes Amanullah Khan der Öffentlichkeit ein erster Stummfilm vorgeführt, 1946 konnte der erste afghanische Film („Liebe und Freundschaft“) und 1964 ein erster Spielfilm („Like an Eagle“) gedreht werden, in dem auch ein Mädchen namens Nadija eine tragende Rolle spielte. 1968 - mit der Gründung der Produktionsfirma „Afghan Film“ – war auch die Herstellung eigener Dokumentar- und Nachrichtensendungen möglich, die in den Kinos als Vorprogramm vor den Spielfilmen gesendet wurden. Diesem Auftakt folgten Einzel- und Episodenfilme in schwarz-weiß, die ersten Farbfilme wurde in den 1980er Jahren produziert unter Titeln u.a. wie „Run“, „Love Epic“, „Last Wishes“ und „Zugvögel“. Beim Publikum fanden alle diese Filme, die zumeist das Alltagsleben der Kinobesucher widerspiegelten, sehr großen Anklang – Zugang zu den Filmtheatern hatte allerdings hatte nur das Publikum in den großen Städten. „Afghan Film“ versteckte zahlreiche Filme, teilweise wurden sie in der Erde eingegraben, um der Vernichtung durch die Taliban
Mit sowjetischer Unterstützung wurde überdies ab den 1960er Jahren die Ausbildung von Filmschaffenden durch Stipendien gefördert, und noch in den 1970er-Jahren gehörte es zur Alltagsnormalität, dass Familien in Kabul am Abend fein angezogen in eines der zahlreichen Kinos oder ins Theater gingen. Doch mit dem Abzug der sowjetischen Truppen im Jahre 1989, den andauernden Bürgerkriegen und Selbstmordattentaten wurden mit der Errichtung des ersten Islamischen Emirates von Afghanistan der Taliban in den Jahren 1996-2001, die Kinos geschlossen, Filme verbrannt und Aufführung wie Produktion von Fernsehen und Filmen untersagt. Einige Zeit nach der Invasion der US-Amerikaner und ihrer Verbündeten im Jahre 2001 konnten sich die Künste langsam wieder entfalten, doch sobald sich die Taliban reorganisiert hatten, verübten sie zahllose Anschläge auf Theater- und Kinos, um die Besucher fernzuhalten – mit dem Ergebnis, dass bis zu ihrem erneuten Einmarsch im August 2021 in Kabul nur noch etwa ein Dutzend Kinos gab. Die „Afghan Film“ versteckte bereits in dieser Zeit zahlreiche Filme, teilweise wurden sie in der Erde eingegraben, um sie vor der erwarteten Vernichtung durch die Taliban zu schützen.
Ähnlich war es im Bereich des Theaters: die Schauspiel-Absolventen fanden mit dem Wiedererstarken der Taliban (ab der Jahre 2004) bald keine Beschäftigung mehr; so stellt der Regisseur Abdul Haq fest, dass „Theater machen in Kabul [...] ein Akt von Zivilcourage“ geworden ist. Viele SchauspielerInnen hatten zuvor an der Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin studiert, kamen vor Jahren aus Deutschland wieder nach Afghanistan zurück in der Hoffnung, mit der Kunst in ihrem Land die Mentalität langsam verändern zu können, damit das Zusammenleben zu verbessern und auch Kindern und Schülern ein offeneres Denken näher zu bringen. So gründete die 36jährige Regisseurin Julia Afifi - die bis zu ihrem achten Lebensjahr in Afghanistan aufwuchs und seitdem in Deutschland lebte – im Jahre 2004 in Kabul das Dramatic Arts Center und plante ein jährliches Theaterfestival. Doch bald war „Theatermachen selbst ein Tabu“, was rasch für jede Form von Kunst“ galt. Es komme, so ein Regisseur, bereits „einer Provokation gleich [] alleine auf einer Bühne zu stehen und dies ist umso gefährlicher, wenn man auch noch politische Themen auf die Bühne“ bringt. Einige Schauspieler haben ihre Arbeit auf die Straße verlagert, nachdem mitten in Kabul eine junge Studentin gelyncht wurde. Die Gefährlichkeit der Lage für die Künstler verdeutlicht nicht zuletzt ein Attentat vom 11. Dezember 2014, bei dem sich während einer Theater-Premiere im französischen Kulturzentrum ein 17 Jahre alter Selbstmordattentäter in die Luft sprengte.
Die Künste in Afghanistan nach der erneuten Rückkehr der Taliban
Wie sollen Künste, wie Musik, Film und Theater in Afghanistan möglich sein in einem Land, das sich, je nach Betrachtungsweise, seit 10 Jahren, seit 30 Jahren oder seit über hundert Jahren, mehr oder minder dauerhaft im Krieg befindet, in einem Krieg, der auch als Krieg gegen die Vorstellungen und Kolonialansprüche der westlichen Welt beschrieben werden kann.
Als sich 1989 die zehn Jahre zuvor einmarschierten Sowjettruppen zurückzogen und 1996 die Taliban - nach blutigen Kämpfen mit den von den Amerikanern unterstützten Mudschahedin – ein erstes Mal in Kabul die Herrschaft übernahmen, vernichteten sie umgehend als „unislamisch“ jede Art von Kultur, die Lebewesen (gleichviel ob Mensch oder Tier) darstellte. In der Folgezeit spielte sich ein gigantisches Kunstraubszenario ab, bei dem Kunstwerke und Kulturgüter entweder auf dem Schwarzmarkt verhökert oder gänzlich zerstört wurden, so u.a. die (bereits erwähnten) Buddha-Statuen in der Bamiyan-Provinz – das prominenteste Beispiel der Zerstörungswut der Gotteskrieger.
Ähnlich verhielten sie sich (1996 und 2001) im Bereich der Musik: sie zerstörten Instrumente und musikalisches Archivmaterial, obwohl das "afghanische Musikerbe [...] reich und sehr divers" ist, erklärt der Musikwissenschaftler Sarmast. Er betont, dass die zwölf Ensembles am Nationalen Musikinstitut sowohl westliche Klassik als auch die vielfältige afghanische Musik spielten. Auf Auslandstourneen wurde dieses Erbe um die Welt getragen, wobei vor allem Zohra, das erste Mädchen- und Frauenorchester Afghanistans große Beachtung fand, weil es als Symbol für den beginnenden Wandel am Hindukusch galt.
2001, als die Trümmer von Ground Zero noch rauchten, identifizierten die USA als Täter des Anschlags in New York die Terrorgruppe Al-Quaida, die ihre Basis im Emirat der Taliban hatten. Mithilfe des westlichen Militärbündnisses gelang es in den meisten Regionen Afghanistans, die Taliban – die sich in die Bergregionen zurückzogen - von der Macht zu verdrängen. Knapp 10 Jahre später waren die Verhandlungen mit den seit 2005 wieder mächtiger werdenden Gotteskriegern immerhin soweit gediehen, dass für die kostbaren und umfangreichen Kulturgüter und Kunstschätze des afghanischen Nationalmuseums in Kabul – das sie bereits Anfang 2001 geplündert hatten - die Gefahr weiterer Vernichtung gebannt schien, wie 2010 die Kuratorin der Ausstellung „Afghanistan. Gerettete Schätze“, Susanne Annen, betonte. Gerne wurde deshalb auch 2021 - nach dem überhasteten Abzug der westlichen Truppen und der erneuten Nachtübernahme der Taliban - angenommen, dass sich ihr Verhältnis zur Kunst verändert hatte. Dennoch stellte man sich die bange Frage, ob die „Milizen erneut wüten werden wie im Jahr 2001, als sie die berühmten Buddhas und im Museum von Kabul eine Vielzahl anderer antiker Objekte und Statuen zerstörten.“ Es zeigte sich jedoch, dass – unter den wachsamen Augen des Auslandes – 2021 zwar die Depots der Archäologen in Bamiyan während der rechtlosen Übergangszeit geplündert wurden, doch offenbar ohne Beteiligung der Taliban. Im Gegenteil: deren Anführer forderten ihre Anhänger auf, „Relikte mit Nachdruck zu schützten, zu bewachen und zu retten, illegale Ausgrabungen zu unterbinden und alle „historischen Stätten“ zu sichern; außerdem wiesen sie drauf hin, dass der „Verkauf von Artefakten auf dem Kunstmarkt verboten“ ist.
Die Kuratorin Annen betont, dass jetzt, im August 2021, die Sorge vor allem den zeitgenössischen KünstlerInnen gelten müsse, und denjenigen, die sich mit aktueller Kunst und Kultur auseinandersetzen – denn sie alle werden, so Annen, keine Chance mehr haben, vor Ort zu arbeiten. Der neue, für Information und Kultur zuständige Vertreter der Taliban (Sabiullah Mudschahid) betonte zwar gegenüber dem Direktor der „Afghan Film“, die „Afghanen sollen weiter Filme machen über ihre Bedürfnisse“ – doch mit dem Verbot der Musik und weiblicher DarstellerInnen läßt sich das kaum realisieren. Ein erstes Ergebnis bei zwei neu produzierten Dokumentarfilmen – die vor 40 ausgewählten Personen gezeigt wurden – zeigte, dass sämtliche Darsteller männlich und Turbanträger waren. Andererseits wurde ein Fernsehbericht von einer jungen Frau vorgestellt, die ein lockeres Kopftuch trug – das Schutzargument gegen den Furor der Taliban war der in jüngster Zeit viel bemühte Topos: „Wir versuchen Unterhaltung zu produzieren, um die Aufmerksamkeit von Ausländern zu wecken, damit sie Afghanistan besuchen kommen.“ Es geht also um die schlechte wirtschaftliche Lage, die Anerkennung der Taliban von außen und darum zu dokumentieren, dass das Land durch sie sicherer geworden ist. Doch im Vergleich zum jetzigen Spielraum waren vor der Machtübernahme der Taliban die Künste weltweit auf Augenhöhe und traten international in Erscheinung. So fand beispielweise 2015 der Filmemacher Hassan Fazili mit „Midnigth Traveller“ auf der Berlinale, aber auch weit darüber hinaus, große Beachtung; 2019 wurde erstmals ein internationales Frauen-Filmfestival in Kabul organisiert, dessen Themen die patriarchale Gesellschaft, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Korruption waren.
Doch für all das ist heute, im Afghanistan der Taliban kein Platz mehr. „Alles, was wir malen, alles, was wir bis jetzt gemacht haben, ist Blasphemie für die Taliban“, erklärte eine junge Künstlerin. „Die Islamisten haben uns zu ihren Feinden erklärt“. Ein Rapper erzählt: „Wenn die Taliban sehen, dass jemand die Tanbur spielt, wird er kahl rasiert, sein Gesicht schwarz angemalt und die Tanbur kaputtgeschlagen.“ Und sie befehlen: „Mach das nie wieder!“ Heute herrscht Grabesruhe und Kabul ist verstummt, denn erlaubt ist nur noch monotoner Sprechgesang und kalligrafische Schriftzeichen. Ja, es gibt buchstäblich nichts mehr zu lachen, denn auch lautes Lachen gilt als schwere Sünde, gestattet ist nur ein stilles Lächeln.
Schluss: Wozu Kunst und Kultur in Kriegs- und Krisenzeiten?
Am Ende meiner Ausführungen möchte ich – die naheliegende - Frage aufwerfen, wozu wir Kunst und Kultur in Kriegs- und Krisenzeiten überhaupt benötigen? Man denkt doch in der Regel doch eher an Waffen, Sanktionen, wirtschaftliche und soziale Interventionen - doch wozu Kunst und Kultur? Warum also Musik hören, Kunst anschauen, warum in Theater und Kino gehen, wenn – wie in Afghanistan - blanke humanitäre Not herrscht und die Herrschaft der Taliban inzwischen zwar relative Stabilität und eine gewisse Verbesserung der Sicherheitslage mit sich brachte, sie aber nach wie vor gegen Frauen und KünstlerInnen buchstäblich Krieg führen: das Regime entzieht den Mädchen und Frauen, die oft in extremer Armut leben und deshalb sich und ihre Kinder kaum ernähren können, den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, mit der Folge von bitterer Not, erheblichen gesundheitlichen Folgen sowohl mentaler wie auch körperlicher Natur.
Der Grund, weshalb wir in Kriegs- und Krisenzeiten Kunst brauchen, so betont mit Nachdruck der Kunstkritiker Jason Farago - ist, weil „Geschichte nicht ohne die Disziplin der Vorstellungskraft existieren kann“, weil wir in solchen Zeiten das verteidigen, was wir für selbstverständlich gehalten haben, weil wir durch Kunst Ähnlichkeiten zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen nah und fern, abstrakt und konkret herstellen können und zugleich gängige Gewissheiten in Frage stellen. Das heißt, Kunst ermöglicht es, dass Emotion und Ratio, dass „Denken und Fühlen parallel laufen“. Denn Malerei, Literatur, Theater und Musik statten uns mit Fähigkeiten aus, unsere Gegenwart als mehr und etwas anderes als nur als einen Strom von Worten und Bildern zu sehen, wie er uns von den Übertragungsmedien alltäglich vermittelt wird. Nur Kunst stattet uns mit der Fähigkeit aus, Wirklichkeit anders und tiefer zu sehen und zu verstehen“, mit Denken und Fühlen nicht nur unsere eigene „Welt zu sehen, sondern auch jene Welten anderswo, von denen wir so wenig wissen“. Und sie bietet uns in den Zwischenräumen zwischen Form und Bedeutung, Bild und Handlung, einen Blick auf menschliches Leid und menschliche Fähigkeiten. Denn sie zeigt uns die Dimensionen - in Größenordnungen und Tiefe - des Einbruchs der realen Zeit in das Spiel. Diesen Einbruch der afghanischen Realität werden wir heute Abend in dem Theaterstück Gottlos erfahren!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Verwendete Literatur
Peter Carstens (Berlin), Ein Jahr Fall von Kabul: Der verlorene Krieg in Afghanistan und ein Hoffnungsschimmer, in: FAZ vom 15.8.2022
E-Faz: Meldung vom 1.10.2022: 53 Tote bei Anschlag auf Bildungseinrichtung während Aufnahmeprüfung für die Universität. Betroffen davon waren vor allem Frauen; die Taliban verschleiern die realen Opferzahlen, die vermutlich noch höher sind
Instrumente zerstören, eigene Arbeiten vernichten: Die Furcht afghanischer Künster:Innen vor den Taliban, in: SWR2 vom Do, den 25.8.2021 um 12:33Uhr, Journal am Mittag
„Meine Familie und Freunde in Kabul haben große Angst und versuchen das Haus nicht mehr zu verlassen“, in: Nachtkritik.de, aufgerufen am 20.9.2022
Conrad Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans (2004), München 2017
Eine grobe Chronologie der Geschichte von Kunst und Kultur in Afghanistan und die Einflüsse der dort parallel herrschenden Großreiche, in: https://www.deutsch-afghanische-initiative.de/afghanistan/kunst-kultur/
Hannah Neumann, Deutsche Theatermacher am Hindukusch. Zwischen Wahnsinn und Hoffnung, BA-Arbeit bei Prof. Peter Marx, Universität Bern, 22.10.2010
https://www.helenawaldmann.com/wp-content/uploads/2009/02/Deutsche-Theatermacher-am-Hindukusch.pdf
Italo Calvino Die unsichtbaren Städte, 1972, dtsch. München 1977, Neuauflage: 2007
Andrew Lawler, Kulturschätzte in Afghanistan: Wie groß ist ihre Bedrohung durch die Taliban, siehe: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2021/08/kulturschaetze-in-afghanistan-wie-gross-ist-ihre-bedrohung-durch-die-taliban, veröffentlicht am 17.8.2021
https://www.wikipedia.Afghanistan
Dieter Kassel im Gespräch mit Ronja von Wurmb-Seibel, in: Deutschlandfunk 6.11.2017. Der Dokumentarfilm „True Warriors“ von Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck erzählt die Geschichte der Schauspieler und Musiker, die an diesem Tag auf der Bühne standen
Berichte über Afghanistan: https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/afghanistan-2021, sowie: https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/afghanistan-taliban-musik, am 30.3.2022
Alexandra Friedrich im Gespräch mit Susanne Annen: Perspektiven für Kunst und Kultur in Afghanistan, in: NDR Kultur vom 14.10.2021
Martin Gerner im Gespräch mit Patrick Wellinski, Die Blütezeit ist unter den Taliban vorbei, in: Deutschlandfunk vom 13.8.2022
Afghanistan: Gesang, Theater, Widerstand - Campact Blog am 9.10.2021. Die Tanbur ist eine gezupfte Langhalslaute
Kabul verstummt. Afghanistans Kulturschaffende und die Taliban. Text des Filmes von Daniel Böhm vom November 2021, in: https://www.3sat.de/themen/afghanistan-108.html
Physicians for Human Rights, The Taliban`s War on Women Rights. A health and human Rights Crisis in Afghanistan, Boston 1998
Jason Farago, in: https://www.3sat.de/themen/afghanistan-108.html, sowie: Welche Rolle spielt Kunst in Zeiten des Krieges?, in: https://www.derbund.ch. Farago ist Kritiker der New York Times, schreibt über Kunst und Kultur in den USA und im Ausland; 2022 wurde ihm einer der ersten Silvers-Dudley-Preise für Kritik und Journalismus verliehen
Einleitung Katalog der Freiburger Initiative Kunst Raum, in: https://evangelisch-in-freiburg.de/detail/nachricht/id/39216-ausstellung-kunst-raum-kirche-wird-eroeffnet/?cb-id=133369
Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Köln 1965