In der "Be our voice"-Interview-Reihe erzählt uns Arash Guitoo von seiner Perspektive als Islamwissenschaftler und Exil-Iraner und erläutert uns die realpolitischen Dimensionen der Iran Revolution.
Wer du bist und was ist deine Verbindung zu Iran?
Mein Name ist Arash Guitoo. Ich bin gebürtiger Iraner bzw. Exiliraner. Bis 2006 habe ich in Iran gelebt, wo ich Jura und Politikwissenschaften studiert und ein paar Jahre gearbeitet habe. Aufgrund politischer Probleme musste ich Iran verlassen. In Deutschland habe ich mir noch mal ein Leben aufgebaut, noch mal von vorne studiert. Ich habe empirische Kulturwissenschaft und Islamwissenschaft studiert, promoviert und arbeite jetzt an der Kieler Uni als Dozent und Persisch-Lektor.
Meine emotionale Verbindung zum Iran ist heute noch und nach 16 Jahren Exilleben sehr stark. Jedes Mal, wenn es in Iran unruhig wird, merke ich, wie stark ich mich mit diesem Land und vor allem den Menschen verbunden fühle.
Hast du das Gefühl, dass Leute in Deutschland die Tragweite der Revolution gar nicht erkennen bzw. nicht wahrnehmen, dass es auch mit ihnen zu tun hat?
Ich denke, dass in der deutschen Gesellschaft und auch in der Politik die globalpolitische Dimension und Relevanz der laufenden Revolution in Iran nicht ausreichend wahrgenommen wird. Es ist wichtig, sich darüber bewusst zu werden, dass wir uns in einer Zeit der zunehmenden Polarisierung der Welt befinden. Auf der Weltbühne haben wir mit China ein autokratisches Regime mit Staatskapitalismus als Wirtschaftsmodel, als eine Großmacht mit imperialistischen Ambitionen. Um diese Großmacht bildet sich, meiner Meinung nach, ein Block aus Autokratien, die von dem chinesischen totalen Überwachungsstaat schwärmen. Zu diesen Regimen gehört auch die Islamische Republik, die sich in den letzten Jahren zunehmend dem chinesischen Regime angenähert hat.
Ich fürchte, wenn das Regime bleibt, dann wird Iran sich in Richtung eines totalen Überwachungsstaats bewegen und zu den Satellitenstaaten Chinas gehören.
Derzeit kauft das Regime massiv Überwachungstechnologie aus China und setzt sein Projekt vom nationalen Internet mit Eiltempo durch. Das beängstigt mich sehr. In diesen Zeiten ist es nicht nur moralisch richtig, freiheitliche Bewegungen in der Welt zu unterstützen, sondern auch realpolitisch klug.
Ein weiterer Punkt, von dem auch die Menschen in Europa betroffen sind, ist die destabilisierende Rolle des iranischen Regimes für die Region. In Irak, Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Jemen ist die Beteiligung des iranischen Regimes an den Krisen offenkundig. Ohne die iranische Revolutionsgarde wäre Bashar al-Assad womöglich jetzt im russischen oder iranischen Exil, viele syrische Zivilist*innen noch am Leben und viele Städte Syriens weniger zertrümmert. In Irak sind die vom iranischen Regime unterstützen Milizgruppen eine der großen Hindernisse der Friedenbildung im Land. Auch auf die Ukraine fallen die iranischen Drohnen und werden vielleicht bald sogar in Russland produziert. Die Etablierung einer säkularen Demokratie in Iran wird die Situation im Nahen Osten massiv in einer positiven Weise verändern.
In Iran kam es schon vorher zu Protestbewegungen. Was würdest du sagen, ist der Unterschied in 2022?
Ich würde sagen, die Proteste von 2009 waren die letzten Proteste, deren Forderungen innerhalb des Systems hätten erfüllt werden können. Da ging es um Wahlfälschung, und die Führung der Bewegung waren die Reformist*innen, die wohl zum Establishment des Regimes gehörten. Das Milieu, das die Bewegung getragen hat, war studentisch und mittelschichtig. Die Proteste waren mehr in den Großstädten und vor allem Teheran konzentriert. In den späteren Phasen der Proteste, richteten sich die Parolen gegen den Revolutionsführer Chamenei und das System. Die Proteste wurden gewaltsam unterdruckt, viele wurden verhaftet und die Führung der Bewegung, die reformistischen Kandidaten, wurden unter Hausarrest gestellt.
Der Auslöser der Proteste von 2017/18 war wirtschaftlich: Teuerungen, Inflation, Korruption und Arbeitslosigkeit brachten die Protestierenden vor allem in den Kleinstädten auf die Straße. Bald richteten sich die Parolen gegen das ganze Regime und deren Führung. Eine Besonderheit dieser Proteste war die Loslösung der Protestierenden von den Reformist*innen des Regimes. Der damalige Präsident, Hassan Rouhani, war mit Unterstützung der Reformist*innen ins Amt befördert worden und zeigte keinen großen Unterschied zu den Hardlinern, wenn es um Unterdrückung der unzufriedenen Bevölkerung ging. Die Proteste wurden in 2019/20 fortgesetzt, der Auslöser war die Teuerung des Sprits. Wieder waren die Kleinstädte und die ökonomisch Benachteiligten im Zentrum der Proteste und wieder wurden die Proteste brutal vom Regime niedergeschlagen.
Die jetzige Bewegung hat aus meiner Sicht etwas Neues, das mich auch persönlich sehr begeistert. Neben der Ablehnung des Regimes hat sie eine Idee, eine Vision. Die Kernforderungen der Bewegung sind Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. In den Parolen und Verhaltensweisen der Protestierenden sieht man einen grundlegenden Wandel der Wertvorstellungen der Gesellschaft, die im Widerspruch zur reaktionären Ideologie des Regimes stehen.
Die Protestierenden haben eine Vision von dem Leben, das sie haben wollen und sehen zurecht, dass diese Vision nicht unter dieser theokratischen Diktatur erfüllbar ist.
Der feministische Aspekt dieser Bewegung ist in dieser Hinsicht sehr bedeutend. Frauen waren zwar immer an den Protesten beteiligt, aber dass die Freiheiten der Frauen und deren Selbstbestimmung zu den zentralen Themen der Revolution gehören, ist neu. Deswegen finde ich, diese Bewegung hat etwas Evolutionäres neben dem Revolutionären. Das ist auch aus meiner Sicht nachhaltig, weil man Ideen schlecht rückgängig machen kann.
Inwieweit spielt eine ideologische und (kolonial)rassistische Brille der Länder des globalen Nordens eine Rolle in Bezug auf die Wahrnehmung und Unterstützung der Iran Revolution?
Mir fehlt schon die Solidarität der Gruppierungen der deutschen Gesellschaft, die sonst wegen ähnlichen Themen laut werden und auf die Straße gehen. Nach dem rassistischen Mord an George Floyd waren zurecht Zehntausende auf der Straße. In Iran sind hunderte Menschen innerhalb von 90 Tage brutal ermordet worden. Vielen droht eine Todesstrafe, Wo bleiben hier die Demos? Ich frage mich, warum lösen manche Morde mehr Empörung aus. Ich kann dabei den Eindruck nicht loswerden, dass die progressiven weißen Milieus der westlichen Gesellschaften, sich erst dann für solche Themen interessieren, wenn diese für sie innenpolitische Relevanz haben.
Ich höre auch oft, dass die weißen Menschen angesichts der kolonialen Vergangenheit des Westens, sich bei der Bewertung der Ereignisse in der Welt zurückhalten sollen. Ich finde, wenn es um Menschenrechte geht, soll diese Vergangenheit keine Rolle spielen. Menschenrechte, LGBT-Rechte, Frauenrechte usw. sollen als global und universell behandelt werden. Daher finde ich es falsch, zu sagen, wir mischen uns nicht mehr ein, weil unsere Handlung kolonialistisch sein könnte, oder wir kritisieren die Gesellschaften des globalen Südens nicht, weil es rassistisch sei.
Wie sieht deiner Meinung nach eine angemessene Berichterstattung in den deutschen Medien aus?
Die deutsche Berichterstattung war anfangs sehr mager und gab oft, wie häufig in der Vergangenheit, die Regimepropaganda wieder. Das Regime hat nämlich einen sehr starken Propagandaapparat, der über die Grenzen hinaus aktiv ist. Im Moment bin ich tatsächlich optimistisch, da die Gemeinde der Exiliraner*innen derzeit eine gute Arbeit bei der Berichtigung und Analyse der Nachrichten in den westlichen Medien leistet. Es gibt viele Journalist*innen und Aktivist*innen in den sozialen Medien, die zweisprachig sind und der Regime-Propaganda entgegenwirken. Zum Beispiel bei der Geschichte mit der Abschaffung der Sittenpolizei. Ich habe mich gefreut, dass am nächsten Tag schon in offiziellen Printmedien zu lesen war ‚Achtung, das könnte ein Ablenkungsmanöver gewesen sein‘. Das ist ein Erfolg.
Also denkst du nicht, dass bestimmte Themen zu kurz kommen?
Natürlich wünsche ich mir eine höhere Präsenz des Themas in den deutschen Medien, aber ich bin auch zu realistisch, um einen solchen Fokus der Medien und deren Leser*innen auf Iran zu erwarten.
Es ist auch unsere Aufgabe (als Exiliraner*innen), die Themen in unsere Gesellschaften zu bringen. Dadurch, dass wir einen größeren Zugang zum iranischen Diskursraum haben und die Sprachen sprechen, können wir unsere Gesellschaften besser mit Informationen versorgen. Wie gesagt, das tun viele. Man braucht diesen Leuten nur bei Twitter oder Instagram folgen.
Dann wäre es vielleicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das möglich ist, dass es euch dabei gut geht, dass ihr bezahlt werdet.
Tatsächlich sehe ich es für mich schon als Bringschuld meinen Mitmenschen in Iran gegenüber, die so mutig auf die Straßen gehen. Viele von uns [Exil-Iraner*innen] haben große Schuldgefühle, dass es uns hier einigermaßen gut geht. Wir sind im Vergleich zu unseren Mitmenschen in Iran frei. Aber es ist auch so, dass so ein Ehrenamt schwierig ist, weil die Migrant*innen und Exilant*innen selbst häufig in schwierigen Lebenssituationen sind. Ein neues Leben zu etablieren ist halt schwer. Ich selbst musste mich sechs bis neun Jahre umorientieren. Du wirst zurückgeworfen und das ist wirklich sehr anstrengend. Nebenbei dann Aktivismus zu betreiben, das ist herausfordernd. Über die psychiche Last möchte ich am Liebsten gar nicht anfangen zu reden…
Hat Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber der Iran Revolution? Wie beurteilst du beispielsweise das wirtschaftliche Vorgehen, Stichwort ‚Wandel durch Handel‘?
‚Wandel durch Handel‘ ist lange deutsche bzw. europäische Politik gewesen. Aber ich denke, es ist eine Illusion, davon auszugehen, dass durch die Öffnung der Märkte politische Öffnung erzielt wird oder sich die Lage der Menschenrechte verbessert. Das ist vor allem im Fall von Iran falsch, weil das Regime, meiner Meinung nach, kein Interesse daran hat, den Markt zu öffnen; ein Land, in dem die Revolutionsgarde praktisch das Monopol auf die wichtigsten Industrien, Produktionen, Banken etc. hat, ist in einer solchen Situation nur bedingt an einem unkontrollierten Investment von außen interessiert. Außerdem ist das Regime vom Westen als kulturellem Feind überzeugt.
‚Wandel durch Handel‘ hat im Fall von China und Russland auch nicht funktioniert hat und es wird im Fall von Iran das Gleiche sein.
Das Thema Menschenrechte in Iran wurde häufig genug durch die Annahme unter den Teppich gekehrt, man könne mit dem Regime durch Handel und Appeasement die politische Lage langfristig verbessern. Spätestens jetzt sollte man zugeben, dass diese Politik gescheitert ist.
Das Gespräch mit Arash Guitoo haben Helen Ruck und Nina Mumm am 13. Dezember 2022 online geführt.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell-sh.de