Raupe Immersatt - Fairteilen statt wegwerfen

Podcast

Folge #3 | Ab in die Tonne? Lebensmittelverschwendung in Deutschland

Katrin Scherer ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und seit März 2020 hauptamtlich Teil des Raupe-Teams, sowie Vorstandsmitglied der Raupe Immersatt e.V

Lesedauer: 25 Minuten
Bild: Katrin Scherer

Transkript

ANNIKA ERNST: Ab in die Tonne? Die neue Podcastreihe der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg zum Thema Lebensmittelverschwendung, moderiert von Annika Ernst.

Ja, hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Podcastreihe der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg. Ich bin Annika Ernst, Praktikantin der Stiftung und in meinem Podcast dreht sich alles um das Thema Lebensmittelverschwendung. Hier erfährst du nicht nur, wieso Lebensmittelverschwendung ein hoch politisches Thema ist, sondern auch, wo es bereits Lebensmittelretter*innen gibt und wie auch Du aktiv gegen Lebensmittelverschwendung vorgehen kannst. Außerdem möchten wir der Landesregierung in Baden-Württemberg so richtig auf den Zahn fühlen und uns der Frage widmen: Ist es wirklich berechtigt, die Verantwortung für Lebensmittelverschwendung allein privaten Haushalten zuzuschieben? Oder sollte nicht auch die Politik bessere Rahmenbedingungen setzen?

Viel zu viele Lebensmittel landen täglich in der Mülltonne. Laut aktueller Zahlen des Statistischen Bundesamts sind es in Deutschland aufs Jahr gerechnet circa 11 Millionen Tonnen. Das Schlimme daran: Fast die Hälfte davon wäre eigentlich noch verwertbar gewesen. Natürlich ist das alles andere als nachhaltig und eine große Verschwendung unserer Ressourcen. Deshalb hat sich bereits 2012 die Initiative Foodsharing gegründet. Allein die Regionalgruppe Stuttgart umfasst mittlerweile 1500 registrierte Foodsaver*innen und rettet regelmäßig noch genießbare Lebensmittel vor der Mülltonne. Diese können dann unter anderem über sogenannte „Fairteiler“ der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Einer dieser Fairteiler befindet sich im Foodsharing-Café Raupe Immersatt im Stuttgarter Westen. Dieses war bei seiner Gründung Deutschlands erstes Foodsharing-Café. Was das Besondere an diesem Café ist und wie es von der Idee bis zur Eröffnung kam, darüber spreche ich heute mit Katrin Scherer. Sie ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und seit März 2020 hauptamtlich Teil des Teams sowie Vorstandsmitglied der Raupe Immersatt e.V. Herzlich willkommen, Katrin! Schön, dass du da bist.

KATRIN SCHERER: Schön, dass ich da sein darf. Hallo.

ANNIKA ERNST: Ja, dann fangen wir doch direkt mal mit der ersten Frage an. Warum ist es dir persönlich denn so wichtig, gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen?

KATRIN SCHERER: Na ja, ich war schon eine Zeit lang, auch bevor ich zur Raupe gestoßen bin, selbst Foodsaverin, sprich ich habe schon hinter die Kulissen des Lebensmittelrettens auch blicken können, habe dann auch über Freunde von der Raupe erfahren und jede Foodsharing Abholung aufs Neue bei den Lebensmittelbetrieben hat mir gezeigt, dass da einfach gewaltig was schief läuft. Also du musst dir vorstellen, du holst bei einem Betrieb nach Ladenschluss, beispielsweise bei einer Bäckerei, einfach 5 bis 10 Ikea-Tüten oder so, Lebensmittel, noch genießbare Lebensmittel, ab, die eben sonst in der Tonne gelandet wären, hätte der Betrieb eben nicht mit Foodsharing kooperiert. Und irgendwie habe ich da jetzt so ein Bestreben, dass sich da einfach was ändern muss und dass ich da selber aktiv werden will. Und Foodsharing eröffnet halt so eine sehr niederschwellige Möglichkeit, sich aktiv einzubringen und was zu bewirken. Und mit der Raupe selbst ist es jetzt natürlich noch mal auf einer anderen Ebene. Also wir haben die Möglichkeit, diese Ausmaße viel sichtbarer zu machen, weil ganz viele Foodsharing Fairteiler oft ja auch nur in den Communities eher bekannt sind. Man muss davon wissen. Und die Raupe versucht es jetzt so ein bisschen sichtbarer zu machen und diese Ausmaße, zum Bruchteil auch nur, zu zeigen.

ANNIKA ERNST: Siehst du da dann auch diesen nicht nur Nachhaltigkeitsaspekt, sondern auch was es für das Klima bedeutet? Weil dadurch, dass so viele Lebensmittel weggeschmissen werden, werden ja eigentlich auch sehr viele Ressourcen verbraucht und weggeschmissen, die gerade bei der Produktion der Lebensmittel entstehen, die durch den Arbeitsaufwand entstehen und so weiter. Also es ist ja nicht nur das Lebensmittel, was weggeschmissen wird, sondern das zieht ja auch noch einen riesigen Rattenschwanz eigentlich mit sich. War das schon auch eine Motivation von dir?

KATRIN SCHERER: Also genau das. Ich habe es jetzt nicht nochmal extra ausgeführt, aber exakt darum geht es ja. Also wenn man diese ganze Wertschöpfungskette betrachtet, was da alles schon so dahintersteckt, vom Anbau des Lebensmittels auf dem Acker, auch da findet ja schon oft Lebensmittelverschwendung statt. Also gar nicht alles findet ja erstmal den Weg in den Handel. Also ganz viel wird ja auch schon davor aussortiert, was uns gar nicht sichtbar wird als Foodsaver dann. Und das ist natürlich ein super wichtiger Aspekt, den man da auch miteinbeziehen muss.

ANNIKA ERNST: Okay, also wie ich ja bereits erwähnt habe, war die Raupe Immersatt das erste Foodsharing-Café, das in Deutschland eröffnet wurde. Wie genau kam es denn dazu?

KATRIN SCHERER: Die Raupe wurde gegründet von einem wunderbaren Team aus fünf Menschen, die sich damals bei Foodsharing in Stuttgart hier auch kennengelernt haben und dort über das Retten der Lebensmittel hinaus auch noch mal weiter engagieren wollten. Und die auch gemerkt haben, das Retten ist an sich schön und gut, aber es ist halt zwar ein wichtiger Beitrag, aber es ist auch nur Symptombekämpfung. Also ein Hauptgrund, warum die Verschwendung so stattfindet, ist natürlich die Art des Wirtschaftens, die bei uns einfach gängig ist, also dass wir es uns leisten können, so viele Lebensmittel mehr zu produzieren, als wir eigentlich verbrauchen. Und die Raupe möchte eben versuchen, da so eine Sensibilisierung für mehr Lebensmittelwertschätzung zu schaffen, dass halt das Retten an sich natürlich gut und wichtig ist. Wir wollen noch einen Schritt weitergehen.

ANNIKA ERNST: Okay, wir haben es ja gerade schon ein bisschen angeschnitten. Kannst du uns noch mal erzählen, was genau denn das Besondere an eurem Foodsharing-Café ist und wie eure Arbeit dort aussieht?

KATRIN SCHERER: Na, wie ich schon erwähnt habe, also das Hauptziel der Raupe ist natürlich, Lebensmittel zu retten und sie im Fairteiler kostenfrei und bedingungslos anzubieten für Gäste. Und darüber hinaus sehen wir die Raupe aber auch so als sozialen Raum, in dem ganz viel passieren kann. Man kann sich dort natürlich treffen, man kann Veranstaltungen erleben, Kunst, Kultur, Bildung erfahren. Der Fairteilerbesuch ist natürlich schon so ein Erlebnis für sich. Also es kommen eigentlich noch heute fast jeden Tag Gäste zum allerersten Mal und fragen eben nach dem Konzept. Das ist für viele dann eben doch was sehr, sehr Besonderes, weil sie so was noch nicht gesehen haben oder noch keine Berührungspunkte mit Foodsharing hatten. Ja, und ich glaube, was die Raupe auch sehr besonders macht, ist, dass dort so viele unterschiedliche Menschen zusammentreffen. Also dadurch, dass wir erstmal die Lebensmittel kostenfrei teilen, schaffen wir natürlich keine Barriere. Wir haben ein offenes Preisprinzip beim Getränkeverkauf. Das heißt, Gäste können selbst entscheiden, was sie für das Getränk zahlen und was ihnen vor allen Dingen auch möglich ist. Dahinter steht eine solidarische Idee, dass man das zahlt, was man kann und somit alle teilhaben können. Aber die, die sich es leisten können, etwas mehr zu geben, ermöglichen denen, die weniger zahlen, eben die Teilhabe. Und ja, und eingebettet eben auch in so eine lebhafte Gegend, jetzt da in Stuttgart West am Hölderlin Platz, ist es, glaube ich, ganz gut gelungen, diesen offenen Raum für alle zu schaffen.

ANNIKA ERNST: Finanziert ihr euch dann allein durch diese freiwilligen Preise der der Getränke? Oder wie finanziert ihr euch?

KATRIN SCHERER: Ja, tatsächlich. Also das ist immer so eine sehr übliche Frage auch: Und das klappt, wenn ihr ja über den Getränkeverkauf nur Einnahmen habt? Aber ja, also uns gibt es jetzt seit dreieinhalb Jahren. Ich denke mal, das spricht für sich und tatsächlich stemmen wir alle Kosten, die wir haben, also die Miete für das Café, die Löhne für alle, die bei uns arbeiten. Wir machen es nicht ehrenamtlich, sondern wir wollen sinnstiftende Arbeit auch entlohnen. Das ist uns ganz wichtig, da auch einen Schritt weiterzudenken. Und alles, was sonst an Betriebskosten anfällt, finanzieren wir tatsächlich über den Getränkeverkauf. Das heißt, wir sind schon angewiesen auf die Einnahmen. Also wir können uns da nicht ganz frei machen. Wir benötigen natürlich das Geld, um wirtschaftlich bleiben zu können, aber uns ist es eben ein großes Anliegen, das etwas gerechter aufzuteilen.

ANNIKA ERNST: Seid ihr denn dann Teil der Initiative Foodsharing e.V. oder wie kann man euer Verhältnis beschreiben oder verstehen?

KATRIN SCHERER: Foodsharing ist ein eigenständiger e.V. und wir ebenso, aber es gibt natürlich jetzt im Speziellen zur Stuttgarter Regionalgruppe eine sehr enge Beziehung, sprich wir retten ja gar nicht selber. Also wir holen jetzt nirgendwo bei einem Betrieb selbst ab, sondern die Foodsharing-Community in Stuttgart macht das. Und die können aber auch frei entscheiden, ob sie das zu uns bringen als Fairteilort oder auch zu einem anderen Fairteiler. In Stuttgart gibt es ja mehrere im ganzen Stadtgebiet oder sie können es auch privat verteilen. Ja, da gibt es einfach eine sehr, sehr enge Beziehung. Die Raupe soll auch so ein bisschen als Ort der Foodsharing-Community auf jeden Fall leben. Sprich wir haben die Neulingstreffen bei uns immer, die Stammtische finden bei uns statt. Wir sind auch Ausgabeort für Bildungsmaterialien. Foodsharing hat auch nochmal eine Bildungs-AG, in der Leute ehrenamtlich tätig sind, beispielsweise an Schulen oder so gehen. Wir haben auch öfter mal Aktionen in Kooperation mit Foodsharing gemacht, Fairteilaktionen vor der Raupe oder in der Raupe.

ANNIKA ERNST: Okay, ihr seid also unabhängig voneinander, aber arbeitet eben stark miteinander zusammen. Okay, kannst du uns denn erklären, wie Foodsharing e.V. ganz allgemein funktioniert? Also wie organisiert sich diese Initiative?

KATRIN SCHERER: Also wie schon gesagt, Foodsharing ist in ganz Deutschland aktiv und hat dann so Regionalgruppen. Die gibt es auch gar nicht nur in den großen Städten, sondern ich glaube auch mittlerweile in ganz vielen kleineren Orten. Und Foodsharing in Stuttgart hat dann direkte Kooperationsbeziehungen zu Betrieben, die werden angesprochen und da wird dann eben ein Verhältnis ausgehandelt und das beinhaltet dann feste Abholzeiten, es wird über die Mengen natürlich auch gesprochen: Braucht es bei einer Abholung einen Foodsaver oder fünf Foodsaver? Was fällt da so an? Und dann kann man selbst Foodsaver werden. Und wenn man sich bei Foodsharing engagieren möchte, dann durchläuft man so einen kleinen Aufnahmeprozess. Also man geht zum Neulingstreffen in der Raupe, in Stuttgart oder wahlweise in einer anderen Stadt. Und dann gibt es ein Quiz, da wird so ein bisschen abgefragt, wie man sich bei einer Foodsharingabholung eben verhalten sollte oder was Lebensmittelwertschätzung im Detail dann noch mal bedeutet, um einfach so ein bisschen abzutasten, was sind die Motivationen, des oder der Foodsaver. Und dann hat man nochmal drei Einführungsabholungen und dann wird man offiziell zum Foodsaver. Also so ist ein bisschen das Prozedere und dann kann man bei den Betrieben direkt abholen, kann sich eintragen, es gibt dann so feste Abhol-Slots und es ist auf einer Onlineplattform organisiert. Ich sehe dann: Ah, ich kann mich jetzt in die Betriebe einklicken, da sehe ich dann genau, wann würde abgeholt werden und zu welcher Uhrzeit passt es mir. Und was ich ganz cool finde bei Foodsharing: Man kann selbst entscheiden, wie aktiv man werden möchte, wie umfangreich man das Engagement betreiben möchte. Hole ich jetzt einmal die Woche ab oder fünf Mal? Möchte ich darüber hinaus noch in irgendwelchen Arbeitsgruppen aktiv werden? Das finde ich ganz toll.

ANNIKA ERNST: Muss ich dann immer, wenn ich mich bei Foodsharing engagieren will, auch Foodsaver werden oder gibt es da noch andere Möglichkeiten?

KATRIN SCHERER: Also ich meine schon, doch. Also du musst offiziell Foodsaver werden, um Lebensmittel aus den Betrieben zu holen, einfach um da auch zu garantieren, dass mit den Lebensmitteln so umgegangen wird, wie Foodsharing sich das wünscht.

ANNIKA ERNST: Auf der Website von Foodsharing e.V. habe ich auch gesehen, dass es Essenskörbe gibt. Kannst du mir davon noch ein bisschen was erzählen?

KATRIN SCHERER: Oh ja, gut, dass du es erwähnst. Da kann man tatsächlich auch Lebensmittel retten, wenn man nicht offiziell registrierter Foodsaver ist. Das bedeutet einfach, dass eine Privatperson Lebensmittel teilt. Überschüssige Sachen. Das können auch Sachen aus dem Küchenschrank sein, die man vielleicht aussortiert hat. Es können aber auch Dinge von der Lebensmittelrettungs-Abholung sein, also von der Betriebs-Abholung und die kann man dann einfach privat abholen. Die Haftung übernehmen quasi die beiden Personen zwischen einander. Foodsharing ist sozusagen nur die Vermittlungsplattform.

ANNIKA ERNST: Kannst du uns nochmal kurz erklären, wie genau die Zusammenarbeit zwischen den Betrieben und Foodsharing aussieht?

KATRIN SCHERER: Also bei Foodsharing läuft es dann so ab: Es gibt erst eine Kooperationsvereinbarung, die festgelegt wird, das heißt jemand von Foodsharing geht direkt auf den Betrieb zu und fragt: Hey, wie sieht's aus bei euch mit Lebensmittelüberschüssen? Möchtet ihr eure Überschüsse gerne an Foodsharing spenden? Und kann da so ein bisschen den Prozess auch erklären. Wenn der Betrieb zustimmt, dann wird er offiziell als Kooperationsbetrieb eben bei Foodsharing aufgeführt und ab da können sich dann Foodsaver eintragen für Abholungen. Der Betrieb definiert dann halt, zu welchen Uhrzeiten er diese Abholungen anbietet. Also viele machen es nach Ladenschluss, wenn dann halt das aussortiert wurde, was eben nicht mehr für den Verkauf geeignet ist aus deren Sicht und dann trägt man sich als Foodaver ein. Das ist im Endeffekt so das Prinzip und ich war ja selbst nie Betriebsverantwortliche bei Foodsharing, aber so das, was ich gehört habe, ist natürlich schon, dass da immer wieder ein reger Austausch ist. Wenn beispielsweise auch Mengen reduziert werden können, dann kann vielleicht auch die Anzahl der Foodsaver, die abholen, reduziert werden, was ja ein wünschenswertes Ergebnis auch ist.

ANNIKA ERNST: Ja, der größte Lebensmittelretter in Deutschland ist ja immer noch die Tafel. Und das tolle hierbei ist ja, dass die Lebensmittel dann auch wirklich an Menschen verteilt werden, die es sich sonst nicht leisten könnten, diese Lebensmittel zu kaufen. Wie ist denn da das Verhältnis zwischen der Tafel und Foodsharing?

KATRIN SCHERER: Das Verhältnis zwischen den beiden Akteuren ist auf jeden Fall ein Gutes. Also Foodsharing hat immer die oberste Regel Tafel first. Das heißt, bei jeder Anfrage, bei einem Kooperationsbetrieb würde erst abgefragt werden: Kooperiert ihr schon mit der Tafel? Und wenn ja, okay, dann passt es für uns so. Also Foodsharing möchte niemandem was wegnehmen, sondern lediglich da ansetzen, punktuell, wo die Tafel vielleicht noch gar nicht aktiv ist, egal aus welchen Gründen. Also das trifft zum Beispiel sehr oft auch auf kleinere Betriebe zu. Also die Tafel ist, glaube ich, sehr offen für Großspenden. Das hat einfach organisatorische Gründe natürlich auch. Die können es sich jetzt nicht leisten, zu ganz kleinen Betrieben Kleinstmengen abholen zu gehen, weil das ja auch alles ehrenamtliche Arbeit ist. Und Foodsharing ist da aber so ein bisschen flexibler, weil sie einfach so ein großes Netzwerk haben an Foodsavern. Und deshalb rettet Foodsharing auch voll oft eben bei den kleineren Betrieben. Und ich kenne es auch noch so, da gab es zum Beispiel mal ein Café hier in Stuttgart, da musste man zum Beispiel immer erst anrufen zu einer festen Uhrzeit, gegen 21:00, das war fest definiert und dann erfragen: Hey, habt ihr heute eigentlich was zum Abholen? Und es gab auch voll oft die Antwort: Nein, heute haben wir alles verkauft und das ist ja auch dann was Gutes und wenn nicht, dann ist man halt hingegangen und hat dann gerettet. Genau. Und das wäre natürlich kein Konzept, jetzt für die Tafel bei jedem Betrieb anzufragen. Da hat Foodsharing so eine größere Flexibilität.

ANNIKA ERNST: Du hast ja schon erklärt, dass dann sogenannte Foodsaver von Foodsharing diese geretteten Lebensmittel aus den Betrieben oder aus den Supermärkten zu eurem Fairteiler bringen, um dann dort der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt zu werden. Und kannst du uns nochmal erzählen, wer denn sonst noch alles seine überschüssigen Lebensmittel zu euch bringen kann?

KATRIN SCHERER: Ähm, also man kann als Privatperson auf jeden Fall auch Dinge abgeben. Es gibt da so ein paar Regeln, was wir teilen und was wir nicht teilen. Das hat einfach Gründe der Lebensmittelsicherheit. Das heißt so was wie rohes Fleisch, Hackfleisch, roher Fisch, das würde nicht gehen. Rohe Eier auch nicht. Alles, was abwaschbar ist wie Obst, Gemüse geht super. Alles, was noch abgepackt ist, nicht geöffnet ist, geht auch wunderbar. Was nicht geht wiederum sind selbst zubereitete Speisen, weil wir hier eben nicht die Produktions- und Lagerbedingungen so nachverfolgen können, nicht genau wissen natürlich auch, was drin ist. Das teilen wir dann nicht. Aber prinzipiell kannst du als Privatperson sehr gerne Sachen abgeben. Wenn du jetzt in den Urlaub fährst und noch ein paar Obst-, Gemüseartikel im Kühlschrank hast, bring einfach rum, solange sie noch gut sind. Also das ist natürlich immer die Hauptvoraussetzung. Wir teilen nur Genießbares. Es gibt auch Artikel noch mit Verbrauchsdatum. Das ist immer abzugrenzen vom Mindesthaltbarkeitsdatum. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist eigentlich nur so ein Orientierungswert, bis zu dem der herstellende Betrieb die Haftung übernimmt.

ANNIKA ERNST: Genau. Und bis zu dem, der garantiert, dass das Produkt diese bestimmten Eigenschaften wie Geruch, Konsistenz, Geschmack, Geschmack und so weiter beibehält.

KATRIN SCHERER: Genau. Und ab dann, also das ist auch kurios, eigentlich dürfte man in Deutschland auch Artikel verkaufen über dem MHD. Das ist immer so ein Mythos. Aber der Lebensmittelbetrieb müsste dann ab dem Zeitpunkt die Haftung übernehmen und da ziehen sich viele Betriebe halt lieber raus, weil es dann zu heikel ist, es vielleicht aber auch einfach schwierig ist, dann für jeden einzelnen Artikel diese Probe zu machen und es individuell zu prüfen. Also ich kann schon auch verstehen, warum. Die Frage ist natürlich immer so, wie viel ist überschüssig, warum ist so viel überschüssig? Also da immer so ein bisschen dahinter zu blicken. Aber ich komme nochmal zurück zur Frage. Also was dann halt nicht geht ist wie gesagt diese Verbrauchsgeschichte. Das heißt, das sind oft sehr heikle Lebensmittel, bei denen es uns zu bedenklich ist, die Haftung zu übernehmen, weil wir ja in dem Moment, in dem wir es in unseren Verteiler packen, die Haftung haben.

ANNIKA ERNST: Genau bei dem Verbraucherdatum, da ist es wirklich so, dass es sich eben um diese leicht verderblichen Lebensmittel handelt und da kann es eben auch nach Ablauf schnell dazu kommen, dass die gesundheitsgefährdend sind. Du hast vorhin schon gesagt, dass viele Lebensmittel, die zu euch kommen, Backwaren sind. Welche Lebensmittel werden sonst noch so zu euch gebracht, hauptsächlich?

KATRIN SCHERER: Also wir bekommen sonst auch noch sehr viel Obst und Gemüse, auf jeden Fall. Es passiert auch mal, dass Milchprodukte oder einfach generell abgepackte Sachen zu uns kommen. Die bekommen wir von Supermärkten, auch von Großmärkten, von Wochenmärkten. Total unterschiedlich.

ANNIKA ERNST: Okay, und wie ist es dann bei euch? Ihr habt dann diesen Fairteiler, das sind ja auch die einzigen Lebensmittel, die ihr dort anbietet neben den Getränken. Jetzt will natürlich nicht jeder sein Brot oder Brötchen roh essen und vielleicht ist dann auch mal kein Aufstrich mit dabei. Kann man dann einfach selber seinen Aufschnitt mitbringen oder wie ist das?

KATRIN SCHERER: Also es ist genau so gedacht. Dadurch, dass wir jetzt kein Speisen-Angebot haben und die Lebensmittel ja auch kostenfrei teilen, ist man immer auch willkommen was mitzubringen. Gerade auch in dem Wissen, es gibt super viele Backwaren in der Raupe. Ja, bringt irgendwie einen Aufstrich mit, sage ich auch voll oft zu Gästen. Es passiert auch mal, dass vom Catering oder so bereits zubereitete Speisen zu uns kommen. Also das ist dann der Unterschied. Die sind in der Gewerbeküche halt produziert worden und da können wir natürlich eher die Haftung übernehmen als bei Privatpersonen und das geht auch. Also dann passiert es auch mal, dann gibt es einfach mal spontan für alle Kartoffelsalat zum Beispiel oder belegte Brötchen oder wir haben auch oft süße Sachen da, Kuchen da, die sind natürlich total klasse, wenn man dann Kaffee mag. Das ist immer eine kleine Überraschung. Oder letztens hatten wir richtig viel Pudding, Schoko-Sahne-Pudding. Da kamen dann tatsächlich so zehn Paletten oder so, die waren irgendwie zwei Tage vor dem MHD.

ANNIKA ERNST: Eigentlich sind ja gerade so Milchprodukte, Joghurt und so weiter wirklich oftmals noch wesentlich länger haltbar als das Mindesthaltbarkeitsdatum angibt und werden dann einfach ungebraucht und nicht mal getestet einfach weggeschmissen, wenn das mal irgendwie drei Tage drüber ist. Das ist natürlich schade. Umso schöner, dass es dann euch gibt, wo man die hinbringen kann, bevor es dazu kommt.

KATRIN SCHERER: Die Tafel hat mal in Kooperation mit einem Forschungsinstitut eine mega coole Studie veröffentlicht. Die war dann auch Teil von so einer Kampagne. Und zwar haben die untersucht, welches Lebensmittel noch wie lange nach Ablauf des MHDs haltbar war. Das waren zum Beispiel bei Joghurts irgendwie sechs Monate oder bei Eiern auch drei oder vier Wochen oder so, also deutlich länger noch. Und das fand ich auch voll gut und wichtig, dass man da einfach mal so zeigt: Hey, mach einfach deine Geruchs-, Geschmacksprobe, schau dir das Produkt an und dann wirst du eigentlich mit, ich würde sagen, 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch erkennen können, ob es noch gut ist oder nicht. Außer natürlich bei den bedenklichen Sachen, die wir vorhin halt hatten.

ANNIKA ERNST: Also bevor was weggeschmissen wird, weil es mal drei Tage über dem Mindesthaltbarkeitsdatum ist, einfach mal erst aufmachen und vielleicht mal mit einem kleinen Löffel testen. Angucken, ob das noch in Ordnung aussieht und dran riechen. Und wenn das alles passen sollte, dann ist in den allermeisten Fällen unbedenklich, das Lebensmittel noch zu essen.

Ja, es ist natürlich sehr traurig, dass es Initiativen wie Foodsharing überhaupt noch geben muss, du hast vorhin ja auch schon gesagt, das oberste Ziel eigentlich wäre, dass es sowas gar nicht mehr bräuchte. Was läuft denn deiner Meinung nach schief, dass so viele Lebensmittel noch weggeschmissen werden?

KATRIN SCHERER: Ich denke, ein Hauptgrund ist einfach die Form des Wirtschaftens, die wir halt verfolgen und die, wie vorhin auch schon gesagt, zulässt, dass wir so günstig industriell Massen produzieren können, dass wir es uns leisten können, das alles wegzuschmeißen. Und das ist, was wir halt krass kritisieren. Und es gibt halt auch schon total gute Gegenmodelle, die aufzeigen, wie es halt anders laufen kann. Also sei es jetzt so was wie solidarische Landwirtschaft. Der Hof hat natürlich einfach ein Risiko jedes Jahr aufs Neue, wie er halt auch Dinge wie Ernteausfälle oder sowas kompensieren soll. Wenn beispielsweise dann weniger Produkte zum Verkauf zur Verfügung stehen und die versuchen, das solidarisch zu lösen, indem sie halt einen festen Mitgliederteil haben und diese Mitglieder zahlen einen Betrag pro Monat und sichern dadurch dem Hof halt die Wirtschaftlichkeit und bekommen im Gegenzug eben das Gemüse. Und dadurch wird aber halt auch viel bedarfsorientiert produziert, weil schon klar geregelt ist, okay, ein Anteil ist etwa für eine 3- bis 4-köpfige Gruppe, Familie, WG, wie auch immer. Und dann reicht das in etwa für eine Woche. Der Hof ist gar nicht bestrebt, dann so viel mehr zu erwirtschaften, so viel mehr auch anzubauen, weil er weiß, er ist ja abgesichert. Also er hat ja gar keine Motivation, da jetzt noch zu wachsen. Und diese Wachstumsabsichten bei vielen Industriebetrieben führen natürlich einfach dazu, dass es halt immer schneller immer weitergehen muss und dass wir dabei halt vergessen, was dabei noch alles auf der Strecke bleibt.

ANNIKA ERNST: Gut, was muss sich denn deiner Meinung nach in der Politik ändern, damit Foodsharing und andere Lebensmittelretter nicht mehr gebraucht werden?

KATRIN SCHERER: Ein erster Schritt sollte meiner Meinung nach einfach mal die Anerkennung des Problems sein. Also, so unserer Wahrnehmung nach, wird halt sehr, sehr viel oft auf Privatpersonen abgewälzt. Und ja, es gibt auch Studien, die ermittelt haben, dass der Großteil der Verschwendung auf Privatpersonen zurückfällt. Aber meiner Meinung nach ist es halt damit sehr, sehr leicht gemacht. Also damit nimmt man halt die Betriebe so ein bisschen aus der Verantwortung raus und ich finde es super wichtig, dass da eben auch was passieren muss. Und die Politik muss einfach halt mal ins Handeln kommen, also gefühlt. Ich bin jetzt seit 2017/18 bei Foodsharing. Foodsharing gibt es seit 2012. Natürlich wird das Thema immer präsenter, so auch in den letzten Jahren ist da die Aufmerksamkeit generell für Umweltthemen natürlich gestiegen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass jetzt irgendwas passiert und auch nicht seit der letzten Wahl irgendwas in dem Bereich schon angegangen wurde. Und es werden halt sehr oft Preise verliehen, Festivals ausgerichtet von Seiten der Politik und irgendwelche Initiativen vielleicht gelobt, aber dass irgendwelche politischen Rahmenbedingungen mal geschaffen wurden, das ist halt überhaupt nicht der Fall. Und da gibt es ja durchaus auch Beispiele aus anderen Ländern, die halt zeigen, dass es da auch anders ginge.

ANNIKA ERNST: Wie könnten dann solche politischen Rahmenbedingungen aussehen?

KATRIN SCHERER: Naja, die Verpflichtung einfach, dass ein Lebensmittelbetrieb sich darum kümmern muss, wie er mit Überschüssen umgeht und die eben nicht in der Tonne landen dürfen. Also sei es jetzt an karitative Organisationen spenden, an Foodsharing, eigene Kreisläufe einfach überdenken. Das ist dann natürlich wieder die Verantwortung bei den Betrieben, nicht bei der Politik. Ja, aber es kann natürlich auch versteuert werden müssen. Und dadurch kann man natürlich auch die Attraktivität mindern, Überschüsse überhaupt erst zu produzieren. Es müsste einfach, es muss ernst genommen werden. Also ich habe das Gefühl, alle, alle sind sich eigentlich einig in diesem Thema. Keiner sagt eigentlich Lebensmittelverschwendung ist geil, aber es passiert halt nichts und das macht mich immer so nachdenklich, dass ich mich dann wirklich frage: Was braucht es denn noch alles, damit halt mal die Politik ins Handeln kommt?

ANNIKA ERNST: Ein Beispiel ist zum Beispiel Frankreich. Die haben da nämlich dieses Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Das heißt, die Betriebe müssen schauen, dass sie ihre Lebensmittel weiter verwerten bzw. an die Tafel weitergeben.

KATRIN SCHERER: Und was halt mega wichtig halt auch wäre, ist die Aufhebung der Illegalisierung von Containern, also dass Menschen, die Lebensmittel retten, halt dafür irgendwie vor Gericht gezogen werden.

ANNIKA ERNST: Das ist ja eigentlich auch total bizarr, dass ein Lebensmittel, was eigentlich weggeschmissen wurde und niemand mehr, offensichtlich niemand mehr will, dass das dann trotzdem strafbar ist. Das liegt, soweit ich weiß, daran, dass es zum einen oft Hausfriedensbruch ist und man könnte nicht beweisen, dass das nicht mehr im Interesse des Supermarkts ist, was mit dem Lebensmittel passiert.

KATRIN SCHERER: Das ist noch Eigentum des Supermarkts. So wird’s immer definiert.

ANNIKA ERNST: Ja, und solange auf jeden Fall, genau, und solange ist es leider immer noch strafbar.

Wie kann man denn als Privatperson Foodsharing oder die Raupe Immersatt unterstützen und Lebensmittel retten?

KATRIN SCHERER: Also wie schon angedeutet, man kann natürlich selbst aktiv bei Foodsharing werden und dort Lebensmittel dann bei den Betrieben abholen. Man kann die dann zu uns bringen. Das geht natürlich. Oder aber auch privat verteilen. Die Raupe unterstützen, zu uns kommen, mit uns sein, die Raupe erleben. Man kann uns natürlich auch eine Spende zukommen lassen, wenn man möchte und damit unsere ideelle Arbeit unterstützen. Also sei es jetzt irgendwie: Wir finanzieren uns über unsere Spenden, zum Beispiel die Kulturprogramme, Filmlizenzen, Gagen für Künstlerinnen, die bei uns auftreten, Referentinnen. Generell einfach Dinge oder ein Zeitungsabo und Magazinabo. Wir haben auch so eine kleine Lektüreecke bei uns. Man kann eine Mietpatenschaft übernehmen. Das ist dann keine Spende, sondern eine Schenkung. Das bedeutet, man leistet monatlich einen festgelegten Betrag. Da darf man selber bestimmen, wie hoch der sein soll. Und diesen Betrag dürfen wir nur für die Zahlung der Miete verwenden. Das ist in der Vereinbarung auch vorher festgelegt.

ANNIKA ERNST: Ja, sehr cool. Ich bin mir sicher, dass jetzt bestimmt auch einige Zuhörerinnen und Zuhörer Lust haben, euch zu besuchen. Kannst du noch mal sagen, wo genau man euch findet?

KATRIN SCHERER: Wir sind direkt am Hölderlinplatz gelegen und zwar ist es die U4 Endhaltestelle in Stuttgart. Mit der kann man aus der Stadtmitte super gut durchfahren und ja, man kommt da gut hin. Johannesstraße 97, haben jeden Tag außer dienstags geöffnet, da ruhen wir. Und auch täglich von 10:00 bis 23:00 Uhr, also egal ob Kaffee am Morgen, am Nachmittag, in der Mittagspause oder abends ein Feierabend-Getränk.

ANNIKA ERNST: Toll, Super. Dann kommen wir auch schon zu meiner letzten Frage: Hast du einen Tipp, was jeder Mensch beachten oder tun sollte, um weniger Lebensmittel wegzuschmeißen?

KATRIN SCHERER: Da gibt es natürlich sehr, sehr, sehr viele. Ich glaub, so was mich halt am meisten beschäftigt, gerade auch so in dem Kontext arbeiten und vielleicht dadurch auch so weniger Zeit haben, sich so mit Kochen immer zu beschäftigen. Dadurch, dass ich das auch hauptamtlich mache, ist, mehr in Gerichten denken. Ich versuche mir irgendwie schon, wenn ich einkaufe, genau zu überlegen, für was verwende ich jetzt diese Zutat, damit ich eben vermeide, zu viel zu kaufen und irgendwie im Hunger oder so einkaufen zu gehen. Und das führt dann meistens doch auch dazu, dass man dann schnell zu viel hat und dann Dinge schlecht werden, wenn man sie nicht rechtzeitig verwerten kann.

ANNIKA ERNST: Vielen Dank, liebe Kathrin, für dieses großartige Gespräch und natürlich auch für eure großartige Arbeit, die er bei der Raupe Immersatt leistet. Das hat mich sehr gefreut.

KATRIN SCHERER: Ja, sehr gerne. Ich freue mich, wenn du mal vorbeikommst und auch viele andere, die hier gerade zuhören.

ANNIKA ERNST: Solltest du jetzt Lust bekommen haben, als Foodsaver Lebensmittel vor dem Wegschmeißen zu retten, dann findest du alle Informationen rund ums Thema Foodsharing und wie du dich beteiligen kannst unter www.foodsharing.de.

Du möchtest mehr über das Thema Lebensmittelverschwendung erfahren? Abonniere doch unseren Kanal Heinrich Böll Stiftung BW beim Podcast-Anbieter deiner Wahl, um keine Folge mehr zu verpassen oder bereits veröffentlichte Folgen anzuhören. Und damit sage ich: Tschüss und bis zum nächsten Mal.


Shownotes:

Raupe Immersatt

Foodsharing

Fairteiler Stuttgart

Tafel Kampagne zum MHD

Solidarische Landwirtschaft

Legalisierung Containern