Am 19. April 1943 erhoben sich die im Warschauer Ghetto eingesperrten, zum Tode verurteilten Juden und Jüdinnen in einem beispiellosen heroischen Kampf gegen die deutschen Besatzer. Joanna Maria Stolarek, Leiterin des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, sprach mit Zygmunt Stępiński, dem Direktor des Museums der Geschichte der Polnischen Juden POLIN in Warschau über die Gedenkfeier zum 80. Jahrestag, die Art der Erinnerung und die universelle Botschaft, die der Aufstand und das Gedenken daran mit sich bringen.
Joanna Maria Stolarek: Vor 80 Jahren brach der Aufstand im Warschauer Ghetto aus. Wie sollte des besonderen Jahrestages gedacht werden?
Zygmunt Stępiński: Es sollte stets an den Aufstand erinnert werden. Dies ist ein äußerst wichtiger Jahrestag nicht nur für die Juden in Polen, sondern auch in Israel sowie für alle Juden in der Diaspora. Und für die Polen. Es war der erste bewaffnete Aufstand von den in Ghettos eingesperrten, auf engstem Raum eingepferchten, isolierten und dem Tod geweihten Juden, sei es infolge von Hunger, Krankheiten oder von im Ghetto begangenen Verbrechen. Ein Aufstand von Juden, bei denen der Transport ins Vernichtungslager Treblinka kurz bevorstand, wo sie noch am selben Tag in den Gaskammern ermordet und ihre Leichen verbrannt wurden.
Wir erinnern uns daran und gedenken der Ereignisse, weil der Holocaust ein Ende für die fast tausendjährige Geschichte der jüdischen Diaspora in Polen bedeutete. Am Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zählte die jüdische Gemeinde im damaligen Polen über 3,5 Millionen Menschen. Die Zahl der Juden, die die Besatzung und den Holocaust im besetzten Polen überlebten, betrug 50 000. Etwa 250 000 Juden überstanden den Krieg in der Sowjetunion, nach 1945 kehrten sie nach und nach nach Polen zurück, wo sie aber nur Ruinen, Schutt und Asche vorfanden.
Das Ausmaß dieses Völkermordes ist unvorstellbar. Wir operieren mit abstrakten Zahlen, aber es ist äußerst schwierig, die Vereinsamung, das Schicksal eines einzelnen Menschen zu rekonstruieren. Das Gleiche gilt für den Versuch, das Ausmaß jenes Dramas, der Verzweiflung und der Erlebnisse, die jene Menschen durchlebten, die im ganzen Land in Ghettos eingesperrt waren, wahrzunehmen und nachzuempfinden. Diese Menschen lebten über zwei Jahre hinweg in dem Bewusstsein, dass ihr Leben zu Ende ist, ohne jegliche Hoffnung auf Rettung.Anker
Auf seinem Höhepunkt, dies sei hier ausdrücklich erwähnt, waren 450 000 Menschen im Warschauer Ghetto eingesperrt. Sie wurden gezielt und sukzessiv ermordet. Zur Zeit des Aufstands gab es im Ghetto noch 50 000 Menschen. Juden, auch Zivilisten, die keine Mitglieder von bewaffneten Organisationen waren. Und auch sie kämpften: um jede Minute, jede Stunde, jeden Tag ihres Lebens. Die Haltung der Zivilbevölkerung, die Maßnahmen traf, die das Überleben irgendwie ermöglichten, die sich den Befehlen der deutschen Besatzern widersetzten und Bunker und Schutzräume baute, um irgendwie das eigene Leben und das ihrer Angehörigen zu retten, ist etwas absolut Außergewöhnliches, ein Beweis für extremes Heldentum.
Jahrelang haben wir wiederholt: „Nie wieder“ gesagt. Unterdessen führen die Russen gegenwärtig nur einige hundert Kilometer von Warschau entfernt in der Ukraine einen ungeheuerlichen Krieg gegen die ukrainische Nation und den ukrainischen Staat, dabei werden Völkermordverbrechen begangen. Seien wir nicht gleichgültig! Das ist das elfte Gebot, das Marian Turski, der Vorsitzende des Museumsrates, vor drei Jahren als Zeitzeuge und Überlebender der Konzentrationslager an die ganze Welt gerichtet hat.
Nachdem Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, wurden die Juden Tag für Tag, nach und nach aller Rechte beraubt. Die Welt schaute gleichgültig dabei zu. Was danach geschah, wissen wir. Deshalb ist es heute so wichtig, den Verbrechen der Russen in der Ukraine nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Aber auch in anderen Teilen der Welt geschieht Böses. Und aus der Perspektive von Einzelnen – nicht selten auch direkt neben uns, manchmal sogar in der eigenen Straße.
Dass wir uns erinnern sollten, ist eine Sache, aber wie soll das denn vonstattengehen? Wer entscheidet darüber, wie diese Erinnerung auszusehen hat? Was ist die Kultur dieser Erinnerung? Wie erinnert man sich in Zeiten, in denen zwar noch einige wenige Zeitzeugen leben, aber schon bald nicht mehr unter uns sein werden?
Die Zahl der lebenden Zeitzeugen schwindet, es sind wirklich nur noch sehr wenige Personen. Sie waren zu Zeiten des Holocaust kleine Kinder. Einige von ihnen wurden gerettet, weil sie aus dem Ghetto herausgeholt und an Familien auf der „arischen“ Seite übergeben wurden, dank denen sie überlebten. Sehr wenige überlebten im Ghetto oder wurden während des Aufstands aus dem Ghetto geschmuggelt. Eine dieser Personen ist Krystyna Budnicka, die als einzige aus der Familie Kuczer das Grauen des Holocaust überlebte. Ihre Begegnungen mit Jugendlichen sind sehr beliebt. Unser Hörsaal ist jedes Mal bis auf den letzten Platz gefüllt. Diese Treffen sind von enormer Bedeutung. Dies ist der letzte Moment, in dem sie Zeitzeugen zuhören können, die ihre persönlichen Erfahrungen mit ihnen teilen.
Allgemeiner betrachtet zählt hingegen die Einstellung eines jeden und einer jeden von uns. Deshalb haben wir die „Aktion Narzissen“ ins Leben gerufen, die uns dieses Jahr zum 11. Mal daran erinnern wird, was der Aufstand im Ghetto gewesen ist. Es freut uns sehr, dass immer mehr Menschen vom Aufstand im Warschauer Ghetto wissen. 2013 ist es uns gelungen, einige Dutzend Freiwillige zu gewinnen, heute sind es über 3 000. Vor zehn Jahren wussten nur wenige vom Aufstand im Warschauer Ghetto. Heute, und das bestätigen die Ergebnisse des Warschauer Barometers, wissen es bereits mehr als 90 % der Warschauer.
Um die Frage noch einmal in etwas anderer Weise zu stellen: Wie gelingt Erinnerung am besten? Was ist die adäquate Form dieser Erinnerung?
Die adäquateste Form ist die Bildung. Das heißt, nach Quellen zu suchen, Treffen mit Menschen zu organisieren, die den Albtraum des Holocausts und die Isolation im Ghetto, den Albtraum des Aufstands überlebt haben. Die Zeitzeugen verschwinden, aber viele Überlebende haben es geschafft, ihre Erinnerungen an das Erlebte aufzuzeichnen. Diese Dokumente haben einen außergewöhnlichen pädagogischen Wert. Bildung, auch die über den Holocaust, gehört zu den Schlüsselprogrammen des POLIN-Museums. Im vergangenen Jahr nahmen über eine halbe Million Schulkinder aus ganz Polen an Workshops in der Dauerausstellung und an Unterrichtseinheiten teil.
Die meisten Gesellschaften in entwickelten Demokratien leben im Wohlstand. Manchen geht es besser, anderen schlechter, aber im Allgemeinen herrscht seit vielen Jahren Frieden in Europa. Vor mehr als dreißig Jahren kam es in Bosnien und Herzegowina zu einem Völkermord. Heute geschieht dasselbe, vor den Augen der ganzen Welt, in der Ukraine. Und es hatte doch „nie wieder“ heißen sollen! Junge Menschen müssen daran erinnert werden, wozu Gleichgültigkeit führen kann und dass Frieden nicht für immer einfach so gegeben ist. In Zukunft werden eben diese jungen Menschen das Verhalten von Regierungen, Gesellschaften und Nationen beeinflussen. Wir möchten sie dazu in die Lage versetzen, aus dem Wissen um den Holocaust sowie über den Völkermord auf dem Balkan und in der Ukraine Rückschlüsse zu ziehen.
Sie sprechen über den europäischen Kontext. Über den globalen Kontext der Erinnerungskultur. Sehen Sie eine spezifische Rolle Polens bei der Gestaltung dieser Erinnerungskultur? Vor allem mit dem Bezug auf den Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto.
Dies lässt sich am Beispiel des Gedenkens an aufeinanderfolgenden Jahrestagen des Ausbruchs des Aufstands im Ghetto nachvollziehen. 1946 wurde das erste Denkmal errichtet, ein sehr bescheidenes, in Form einer Kanalluke zu den Abwasserkanälen, durch die Juden versuchten, aus dem Ghetto zu fliehen. 1948 wurde eines der bekanntesten Denkmäler der Welt geschaffen – das Denkmal für die Helden des Ghettos von Natan Rapoport. Dann kam die Zeit, in der peinliches Schweigen herrschte. An der Gedenkfeier der Jahrestage nahmen damals nur Juden teil, darunter Vertreter sehr weniger jüdischer Organisationen und deren Freunde. Zum Gedenken gehört auch dazu, sich daran zu erinnern, dass die meisten Juden, die den Krieg auf wundersame Weise überlebten, aus Polen nach und nach ausgewandert sind, und zwar zusammen mit ihren Kindern. Die letzte und größte Auswanderungswelle war 1968, sie war erzwungen und geschah infolge einer aggressiven antisemitischen Kampagne der damaligen Regierung.
1983 kamen die Kommunisten auf die Idee, offizielle Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Ausbruchs des Ghettoaufstands zu veranstalten. Man lud Marek Edelman, den letzten Anführer des Aufstands, zur Teilnahme an der Zeremonie ein. Edelman lehnte ab, schließlich saßen zu jener Zeit unzählige, mit der polnischen demokratischen Opposition in Verbindung stehende Menschen in Haftanstalten und Gefängnissen. Die Oppositionellen organisierten daher ihre eigene inoffizielle Zeremonie, bei der Edelman eine großartige Rede hielt.
Der Durchbruch kam erst gegen Ende der 1980er Jahre, als die Versammlungen am Jahrestag des Aufstandes am Denkmal zu einem Brauch geworden waren. An ihnen nahmen Marek Edelman und seine Freunde und Kollegen von der demokratischen Opposition und von Jahr zu Jahr auch immer mehr Einwohner Warschaus teil. Damals erhielt Marek Edelman zum ersten Mal einen Strauß gelber Blumen von einer unbekannten Frau. Edelman begann damit, sie jedes Jahr am Denkmal für die Helden des Ghettos niederzulegen. So wurde eine neue Tradition geboren. Zuvor waren nur Juden, einschließlich meiner Altersgenossen, mit ihren Familien zum Denkmal gekommen. Dies wurde nach dem Jahre 1968 brutal unterbrochen, als über 13 000 polnische Juden, die versucht hatten, sich in Polen nach dem Krieg ein neues Leben aufzubauen, im Rahmen der antisemitischen Politik der damaligen Regierung aus dem Land vertrieben wurden. Erst Ende der 1980er Jahre konnten sie wieder zu Versammlungen am Denkmal zurückkehren, weil die kommunistischen Behörden schließlich zustimmten, dass die ehemaligen Flüchtlinge wieder nach Polen reisen durften, um an den Gedenkfeiern teilzunehmen.
Die späteren Gedenkfeiern, insbesondere zu den „runden“ Jahrestagen, bekamen Staatsrang. Sie werden von den aufeinanderfolgenden Präsidenten der Republik Polen organisiert. Dazu werden hochrangige Vertreter anderer Staaten eingeladen, die daran teilnehmen, darunter auch Deutschland, was von außerordentlicher Bedeutung ist.
Der Besuch von Bundeskanzler Willy Brandt im Dezember 1970 war eine besondere außerordentliche symbolträchtige Geste. Der Bundeskanzler kniete vor dem Denkmal für die Helden des Ghettos und bat um Verzeihung. Damit nahmen die Deutschen die Verantwortung auf sich. Willy Brandt ist als deutscher Politiker in Erinnerung geblieben, der als erster und lange Zeit auch als einziger eine derartige Erklärung abgegeben hat.
Heute finden am von Rapoport geschaffenen Denkmal alljährlich staatliche Gedenkfeiern statt. Überdies gibt es inoffizielle Feiern, an denen Hunderte von Menschen jeden Alters teilnehmen. Wie ich bereits erwähnt habe, organisiert das Museum die „Aktion Narzissen“ – sie erreicht Millionen von Menschen, auch außerhalb Polens, z. B. in den USA, Kanada und Israel. Narzissen werden im Europäischen Parlament verteilt, wir übergeben sie auch an diplomatische Vertretungen. Damit wollen wir erreichen, dass das Gedenken an den Aufstand nicht nur in Polen lebendig bleibt, denn dieser Aufstand trägt eine tiefe, humanistische Botschaft.
Was würden Sie von den Deutschen erwarten, wenn es um das Gedenken an den Ghettoaufstand geht?
Meine Tochter, die Polen vor langer Zeit verließ, hat einen Deutschen geheiratet. Sie lebt in Frankfurt am Main und hat zwei Kinder. Als ich das erste Mal nach Frankfurt kam, zeigte mir meine Tochter eine Ausstellung über die Verantwortung der Deutschen für den Krieg. Darin fand die Rolle der IG Farben besondere Berücksichtigung, in deren ehemaligem Unternehmenssitz sich heute die Goethe-Universität befindet. Was dieser Konzern während des Krieges war, was er produzierte, wohin und an wen er seine Produkte lieferte, ist allgemein bekannt. Auch meine 13-jährige Enkelin, ein außergewöhnlich cleveres Mädchen, sah diese Ausstellung und interessierte sich von diesem Moment an für den Holocaust. Sie hat wahrscheinlich alle Kinderbücher zu diesem Thema gelesen. Vor einem Jahr rief sie mich an und sagte: „Opa, ich habe eine Bitte an Dich. Könntest Du für mich ein Treffen mit Marian Turski organisieren?“ Also habe ich Marian angerufen, mit dem ich seit Jahren befreundet bin, und ich sagte ihm: „Meine Enkelin würde sich gerne mit Dir treffen, weil sie unbedingt Informationen aus erster Hand erhalten möchte“. Natürlich hat Marian zugestimmt. Er beantwortete alle ihre Fragen. Für das Treffen war eine Stunde geplant, aber daraus wurden dann fünf! Marian Turski betrachtete dieses Treffen als eine der wichtigsten Begegnungen seines Lebens. Die letzte Frage stellte mein Enkel: „Herr Turski, was würden Sie tun, wenn Sie auf waschechte Antisemiten treffen, wir wissen doch, dass die Antisemiten weiterhin aktiv sind.“ Daraufhin erzählte Marian die Geschichte, wie die BBC ihn bat, drei Anführer von Naziparteien aus Großbritannien, Deutschland und Italien im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zu treffen. Er willigte ein. Er erzählte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nicht wusste, wie er reagieren sollte, weil ihn ein Neonazi aus Italien fragte: „Welchen Beweis haben Sie eigentlich dafür, dass Ihr Bruder und Ihr Vater in Auschwitz ermordet wurden? Sie hätten doch entkommen können, vielleicht konnten sie sich retten, sie könnten überlebt haben. Sie haben keinerlei Beweise dafür, dass sie hier in Auschwitz ermordet wurden.“ Daraufhin stand Turski auf und unterbrach das Gespräch.
Ich erwähne das hier nur, um zu zeigen, was für einen extrem starken Eindruck es auf junge Menschen, sowohl in Polen als auch wahrscheinlich in Deutschland, macht, mit jemandem zu sprechen, der all das tatsächlich erlebt hat. Marian Turski war fünf Jahre im Ghetto Litzmannstadt eingesperrt, anschließend wurde er nach Auschwitz deportiert, wo von seiner gesamten Familie nur er und seine Mutter überlebten, und zum Schluss kamen dann noch die Todesmärsche. Wenn Marian mit Kindern spricht, kann er nicht nur davon erzählen, was ihm während des Holocaust widerfahren ist. Er ist ein Meister der Worte, er wählt diejenigen aus, die die Vorstellungskraft und Sensibilität von Kindern ansprechen.
Als Antwort auf die Frage, wie erinnert werden soll und was ich von Deutschland und von jedem anderen Land erwarte: Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Es gibt keine andere Möglichkeit zu zeigen und zu beschreiben, was während des Holocaust geschah. Insbesondere deshalb, weil all das heute gründlich untersucht, beschrieben und allgemein verfügbar ist. Man muss einfach nur wollen.
Sie haben das Treffen mit Marian Turski und Ihren Enkelkindern erwähnt sowie die Tatsache, dass eine direkte Botschaft eine ganz andere Wirkung hat als das Lesen eines Buches oder das Ansehen eines Films. Was werden wir tun, wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird? Wie kann es weitergehen?
Die Technologie schreitet voran, seit einem halben Jahr wird an der Erstellung eines Avatars von Marian Turski gearbeitet. Nach vielen Versuchen hat Turski zugestimmt, dass wir ihn filmen können. Das Programm wird in der Galerie „Erbe“ im POLIN-Museum abgespielt werden. Die Besucherinnen und Besucher können ihm dann Tausende von Fragen stellen, und ein sehr schnelles Computerprogramm wird sie alle automatisch beantworten.
Die Lösung liegt also in der künstlichen Intelligenz?
In der Nutzung von künstlicher Intelligenz. Wird sie jenen Marian Turski ersetzen, der heute noch persönlich an solchen Treffen teilnimmt? Nein. Oder Krystyna Budnicka? Genauso wenig. Wird es meine Adoptivmutter ersetzen, die 10 Jahre lang von Warschau nach Łódź gefahren ist, nur um Schulkinder aus den Vereinigten Staaten zu treffen, die jedes Jahr mit ihrem Lehrer nach Łódź kamen, und sie ihnen vom Leben im Ghetto erzählte? Ebenfalls nicht.
Wissen Sie, was dabei wichtig ist? Weder sie noch Marian Turski haben Hass in sich. Sie haben niemals gesagt, dass sie die Deutschen hassen. Sie hassen bestimmte Deutsche, die Menschen ein solches Schicksal bereitet haben. Das betrifft die jüngeren Generationen nicht. 80 Jahre sind ins Land gegangen. Wir müssen darüber reden und uns darauf konzentrieren, Brücken zu bauen und Verständigung zu fördern.
Sie haben Bildung erwähnt. Nicht nur in Deutschland werden die beiden Aufstände – der Aufstand im Warschauer Ghetto und der Warschauer Aufstand – oft verwechselt. Damit das nicht passiert, geht es auch um Bildung, die hier ebenfalls eine große Rolle spielt.
Tatsächlich brachen in Warschau im Abstand von etwas mehr als einem Jahr zwei Aufstände aus. Manchmal heißt es sogar über unsere Stadt: Das Warschau zweier Aufstände. Vielleicht führt das also zu einiger Verwirrung, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob nicht auch Jugendliche in Polen (ich meine hauptsächlich junge Menschen von außerhalb Warschaus) einem ähnlichen Irrtum unterliegen. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass das Wissen über diesen schrecklichen Krieg und den Holocaust schwindet. Nun, es ist 80 Jahre her, und als ich selbst zur Schule ging, hatte ich wahrscheinlich kein sehr gutes Wissen über die Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Natürlich sehe ich hier einen grundlegenden Unterschied – der Aufstand im Ghetto muss einfach in Erinnerung bleiben, weshalb ich hoffe, dass die Deutschen das POLIN-Museum und das Museum des Warschauer Aufstands besuchen werden: Ich denke, dass ihnen nach einem Besuch dort alles klar sein wird.
Um auf die beiden Aufstände zurückzukommen: Es ist nur die Stadt, die diese beiden tragischen Ereignisse verbindet. Man kann die Situation der Juden, die ab 1940 im Ghetto eingesperrt und dann systematisch vernichtet wurden, nicht mit der Situation der Polen vor dem Warschauer Aufstand vergleichen. Um es ganz klar zu sagen: Die Situation der Polen „jenseits der Mauer“ war ebenfalls sehr schwierig – viele wurden verhaftet und gefoltert, Razzien waren an der Tagesordnung und oft kam es zu öffentlichen Hinrichtungen. Die Polen litten schrecklich. Aber in London funktionierte die polnische Exilregierung und die Heimatarmee war eine mächtige Kraft im Land, also wurde beschlossen, den Aufstand im August 1944 zu beginnen, bevor die Offensive der Roten Armee die Hauptstadt erreichte. Bedenken wir – der Warschauer Aufstand brach aus, weil die Führung auf einen strategischen Erfolg hoffte. Die Juden kämpften im Jahre 1943 nicht im militärischen Sinne um den Sieg. Dafür bestand nicht die geringste Chance.
Die Auswirkungen beider Aufstände waren jedoch ähnlich. Während des Aufstands im Warschauer Ghetto wurden fast alle Juden an Ort und Stelle oder später im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Nur einige wenige überlebten. Militärisch war 1943 nichts zu gewinnen, und es wurde auch nichts gewonnen. Es war ein Triumph der Menschlichkeit, eine Rebellion der zum Tode Verurteilten. Während des Warschauer Aufstands kamen etwa 200 000 Menschen ums Leben, ein Teil von ihnen gleich zu Beginn, unter wirklich schrecklichen Umständen, als die von Oskar Dirlewanger geführten SS-Truppen unter anderem 30 000 Zivilisten, die gar nicht am Aufstand teilgenommen hatten, brutal ermordeten.
Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto wurde das gesamte Judenviertel, wo zuvor ein ummauertes Ghetto errichtet worden war, zerstört und Haus für Haus niedergebrannt. Während und nach dem Warschauer Aufstand wurde die gesamte Stadt vollständig zerstört. Es gibt also Ähnlichkeiten. Aber andererseits handelte es sich um zwei völlig verschiedene Aufstände. Wobei ich dennoch versuche, auch diejenigen zu verstehen, die nach Ähnlichkeiten suchen. Wichtig bleibt dabei hingegen, die Unterschiede nicht zu verwischen.
Das verstehe ich natürlich. Was die Feier zum 80. Jahrestag des Ausbruchs des Aufstands im Warschauer Ghetto anbelangt: Was hat Sie bzw. das ganze Museum bei der Feier des 80. Jahrestags geleitet, welches Konzept liegt ihr zugrunde? Was möchten Sie zeigen?
Wir haben beschlossen, dass die Hauptveranstaltung des Programms des POLIN-Museums im Jahr 2023 eine temporäre, dem Aufstand gewidmete Ausstellung sein wird. Wir haben Frau Prof. Dr. Barbara Engelking vom Polnischen Zentrum für Holocaust-Forschung, eine der weltweit herausragendsten Expertinnen für die Geschichte des Warschauer Ghettos und den Aufstand im Warschauer Ghetto, zur Zusammenarbeit eingeladen. Professor Engelking hat eine eigene Idee für die Ausstellung entwickelt, und wir haben beschlossen, sie Zivilisten zu widmen – Juden, die unter äußerst schwierigen Bedingungen, vereinsamt, ohne Hilfe von außen, ihrem Schicksal überlassen, ohne Hoffnung auf Überleben, beschlossen, im Ghetto zu bleiben, sich zu verstecken und sich der Deportation nach Treblinka zu widersetzen. Ihr passiver Widerstand war eine Form des Kampfes. Wir behandeln sie wie die eigentlichen Kämpfer. Es war ein Kampf ums Überleben, um das Leben an sich, um einen weiteren Tag, eine Woche, vielleicht länger – und gerade deshalb ist uns das so wichtig.
Verlauf und Geschichte des Ghettoaufstands sind relativ gut dokumentiert. Bei der Entscheidung, das Schicksal der Zivilbevölkerung darzustellen, konnten wir nur Materialfetzen verwenden, die im Ghetto selbst entstanden sind und von denen wie durch ein Wunder einige wenige erhalten geblieben sind. Wir verwenden auch Berichte, die während des Aufstands von Juden niedergeschrieben wurden, die sich auf der „arischen“ Seite versteckt hielten, sowie schriftliche oder mündliche Berichte von Zeitzeugen, die den Aufstand im Ghetto überlebt haben. Das sind nur Bruchstücke. Auf ihrer Grundlage und mit dem Wissen, wie der Aufstand vorbereitet wurde, wie Bunker gebaut wurden – ausgestattet mit Zugang zu Wasser, Strom und Frischluftzufuhr, haben wir eine Geschichte über das tragische Schicksal der Zivilbevölkerung erstellt.
Ich lebe seit 76 Jahren in Warschau. Ein jüdisches Bewusstsein habe ich mir erst vergleichsweise spät angeeignet. Das Denkmal für die Helden des Ghettos habe ich unzählige Male gesehen, und doch können Sie mir glauben, dass ich viele Jahre lang nur die Vorderseite des Denkmals vor Augen hatte, die heute vis-à-vis dem POLIN-Museum steht. Die gesamte Gestaltung der Umgebung und der Inneneinrichtung des Museums, die vom Architekten Rainer Mahlamäki geschaffen wurde, beginnt mit dem Denkmal, das an die Helden des Aufstands erinnert. Die Gesichter der Kämpfer sind dem Museum zugewandt.
Das POLIN-Museum, wie wir uns selbst bezeichnen, ist ein Museum des Lebens, es erzählt die tausendjährige Geschichte der Juden in Polen, und das große Fenster öffnet sich zum Park hin. Darin befindet sich übrigens ein Denkmal für Willy Brandt.
Die zweite, wir nennen sie die „andere“ Seite des Denkmals, erzählt von der Zivilbevölkerung. Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit ins Museum fahre, komme ich am Denkmal vorbei und sehe, wie Menschen in den Tod getrieben werden. Einmal schneite es gerade, als ich meine Kamera zückte und ein Foto aufnahm. Auf den Figuren, die auf dem anderen Teil des Denkmals abgebildet sind, und zu ihren Füßen lagen Streifen von Schnee. Der Schnee fiel so dicht, dass die Kamera sogar die Flocken registrierte. Das ist für mich die Quintessenz des Nachdenkens über die Zivilbevölkerung, über die Bedingungen, unter denen sie lebte und auf den Umschlagplatz gedrängt wurde. Um dann in Viehwaggons nach Treblinka transportiert zu werden. Um im Gas den Tod zu finden.
Aber die Entscheidung des Autors des Denkmals, Natan Rapoport, hat ihre historische Begründung. Lassen Sie mich kurz meiner Kollegin aus dem Museum, Dr. Renata Piątkowska, das Wort erteilen:
In der Galerie „Powojnie“ der Dauerausstellung des POLIN-Museums ist die Ostwand des Denkmals, in der das in Stein gemeißelte Flachrelief „Zug in die Vernichtung“ angebracht ist, das wichtigste. Wir stellen dort eine Kopie von Rapoports Original „Zug in die Vernichtung“ aus und zeigen Fotos aus Privatarchiven, die die Bedeutung dieser Seite des Denkmals für die Überlebenden bestätigen, mit der Szene des letzten Weges, des Weges in den Tod, ins Nichts, auf den sich das „Volk Israel“ macht.
In seiner Komposition bezog sich Rapoport direkt auf Samuel Hirszenbergs ikonisches Werk „Golus“. Hirszenberg ließ sich von der Szene des Auszugs auf dem Titusbogen inspirieren, der nach dem Sieg über die Israeliten im Jahr 81 n. Chr. in Rom errichtet wurde: der Marsch der besiegten Israeliten mit Gegenständen (darunter die siebenarmige Menora) aus dem durch römische Truppen zerstörten Jerusalemer Tempel. Das Datum der Zerstörung des Tempels ist ein symbolisches Datum für den Beginn der Diaspora, der Zerstreuung der aus Jerusalem vertriebenen Juden.
1904 vollendet, präsentiert Hirszenbergs „Golus“ die nächste Etappe dieser ewigen, einsamen Reise der Juden auf dem Weg ins Exil. Es wurde schnell zu einem auf der ganzen Welt erkennbaren Symbol für das jüdische Schicksal.
Rapoport sah seine Aufgabe ähnlich wie Hirszenberg. Er wollte „das jüdische Martyrium unter der Nazi-Besatzung in würdiger Weise darstellen, insbesondere das jüdische Heldentum der Ghetto-Helden und Partisanen, und die tiefe historische Bedeutung des Aufstands und seine Verbindung mit dem jüdischen Martyrium und dem jüdischen Heldentum in der Vergangenheit betonen. Denn ich habe das jüdische Martyrium während der Besatzung nicht als isolierte historische Episode wahrgenommen, sondern als ein Glied in der Kette jüdischen Leidens, die sich seit zweitausend Jahren in Form von Verfolgungen, Unterdrückung, Inquisition und gegen Juden gerichteten Pogromen fortsetzt.“ (Der szafer fun denkmal natan rapoport wegn zajn werk [Der Schöpfer des Denkmals, Natan Rapoport, über sein Werk], In: Der denkmal fun jidiszer gwure un martirertum / Le monument du ghetto de Varsovie / Pomnik ku czci Ghetta warszawskiego, übers. v. Anna Szyba, Paris 1948, S. 6f.).
Zygmunt Stępiński: Wir weisen auf diese andere Seite des Denkmals hin, weil wir wollen, dass sie als Teil der Geschichte über die Zivilbevölkerung ins Licht gerückt wird, die über mehrere Monate hinweg im Mittelpunkt aller Botschaften des Programms des POLIN-Museums stehen wird.
Sie haben mich nach unserem letzten Treffen inspiriert. Als ich heute ins Museum kam, bin ich von der anderen Seite am Denkmals vorbeigegangen, um einen Blick darauf zu werfen ...
Ich weiß, dass sich diese Botschaft durchsetzen wird. Und dass die Menschen jetzt auch auf der anderen Seite des Denkmals Blumen niederlegen werden, denn es erinnert an jene stillen Helden, die genauso den Mut hatten, um ihr Leben zu kämpfen.
Wir sprachen über die neue Wechselausstellung. Kommen wir nun zurück auf das weithin bekannte Konzept des POLIN-Museums selbst – jeder Mensch, der Warschau besucht, lenkt seine ersten Schritte in Richtung POLIN. Worauf beruht das Phänomen dieses Museums, das die Menschen derart anzieht?
Als ehemaliger Architekturkritiker sollte ich zunächst damit beginnen, dass das Museumsgebäude absolut einzigartig ist, aber heute denke ich, dass das große Interesse an POLIN vor allem durch die Dauerausstellung ausgelöst wird. Wir erzählen von der jahrhundertealten Geschichte der Juden in Polen, einer Geschichte, die den Polen und Israelis, denen sie nicht beigebracht wurde, gleichermaßen unbekannt ist wie den Juden in der Diaspora, die vergessen haben oder schlicht nicht wissen, woher sie kommen.
Etwa 70 % aller heute auf der ganzen Welt, hauptsächlich in Israel und den Vereinigten Staaten, lebenden Juden haben ihre Wurzeln im Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen (damalige Rzeczpospolita). Der Holocaust hat sich ihre Geschichte unterworfen. Es hat sich eine bestimmte Denkweise etabliert, die darin besteht, Polen – ich spreche hier sowohl vom geografischen Raum als auch vom Staat – als den größten jüdischen Friedhof zu betrachten. Nur wenige Menschen waren sich bewusst, dass es nicht die Polen waren, die die Vernichtungslager bauten, sondern die Deutschen, die Polen nur deswegen dafür ausgewählt hatten, weil die meisten Juden eben in dieser Region lebten, d. h. in Polen, Litauen, Belarus und der Ukraine, was eine radikale Lösung der mit der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verbundenen technischen Probleme und Kosten mit sich brachte. Es war schlicht einfacher und effektiver, Todeslager in Polen zu errichten und die Menschen direkt dort zu ermorden, wo sie lebten.
Ich bin davon überzeugt, dass uns ein grundlegender Durchbruch gelungen ist, denn als einziges Museum weltweit präsentieren wir fast eintausend Jahre jüdischer Diasporageschichte innerhalb der historischen Grenzen Polens. Glaubwürdigkeit ist in der Museologie ein wichtiges Gut. Wir weichen auch schwierigen Themen nicht aus. Die Geschichte Polens kann nicht von der Geschichte der Juden getrennt werden. Sie sind Seite an Seite entstanden, in ständigem Kontakt, aber auch in Streitigkeiten und Konflikten. Bis zum Holocaust. Wir sprechen über den Beitrag der polnischen Juden zur polnischen Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Genauso thematisieren wir den Antisemitismus, der mit der Entstehung von Nationalstaaten Gestalt annahm und in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte.
Wir begannen mit der Frage nach dem Phänomen von POLIN. Warum existiert es?
Das Phänomen POLIN besteht aus einer Ausstellung, die über viele Jahre hinweg unter der Leitung von Prof. Barbara Kirshenblatt-Gimblett von mehr als einhundert hervorragenden Wissenschaftlern ausgearbeitet wurde, die verschiedene Schulen, Institute und Universitäten repräsentieren, darunter eine Vielzahl von Forschenden aus Geschichtswissenschaft, Ethnographie und Anthropologie – mit einem Wort, die besten Fachleute der Welt. Die Initiative zur Gründung des Museums der Geschichte der polnischen Juden (den Namen POLIN haben wir erst einige Jahre nach der Eröffnung der Dauerausstellung hinzugefügt) ging vom Umfeld des Vereins des Jüdischen Historischen Instituts in Polen (SŻIH) aus. Nach der Eröffnung und einem Besuch des Holocaust Memorials in Washington kehrten die Mitglieder des SŻIH nach Polen zurück und sagten: „Wir wollen kein weiteres Holocaust-Museum haben, wir wollen kein Museum darüber, wie sie starben, sondern gerade darüber, wie sie gelebt haben.“ Die vorletzte Galerie der Dauerausstellung zeigt die Vernichtung der jüdischen Diaspora in Polen. Alle vorherigen Galerien, beginnend mit der Galerie „Wald“, die die Ankunft der ersten Juden in Polen zeigt, sind der Entwicklungsgeschichte der jüdischen Gemeinde, der Kultur, den Traditionen der großen Strömungen des Judentums, der Industrie und Wirtschaft, der Wissenschaft, Schriftstellern, Dichtern, Malern und Komponisten sowie herausragenden Persönlichkeiten im Allgemeinen gewidmet, die aus dem Umfeld des polnischen Judentums stammten. Wir erzählen ihre Geschichten in der Galerie „Erbe“, wo wir die Profile von Menschen präsentieren, die einen gigantischen Beitrag zur Entwicklung der globalen Zivilisation geleistet haben. So umfasst sie etwa jene Hollywood-Autoren, die vor dem Antisemitismus aus Polen geflohen waren und später die amerikanische Film- und Unterhaltungsindustrie mitbegründet haben. Nach der Eröffnung der Galerie wurden wir sofort gefragt, warum Rosa Luxemburg ebenfalls zu den herausragenden Persönlichkeiten gezählt wird. Arthur Rubinstein ist in Ordnung, Samuel Goldwyn auch, Ben Gurion natürlich, denn er ist einer der Schöpfer des Staates Israel, hervorragende Schriftsteller, Nobelpreisträger, Philosophen, Rafał Lemkin, der Schöpfer des Konzepts des Völkermords, Helena Rubinstein, usw. Aber warum nur Rosa Luxemburg? Gerade deshalb, weil Rosa Luxemburg ebenfalls zur Geschichte der polnischen Juden gehört. Ihre Geschichte ist es ebenso wert, erzählt zu werden, und so haben wir es dann auch getan. Uns geht es nicht um die politischen Ansichten der präsentierten Personen, also darum, dass Luxemburg zufolge die Nationalstaaten aufhören sollten zu existieren und an ihrer Stelle das Proletariat die Macht übernehmen sollte. Das zeigt doch gerade den außerordentlichen Reichtum dieses Erbes.
Ich komme nochmals auf die Frage der Erinnerungskultur zurück. Wer entscheidet darüber, wie die Geschichte der Juden und die Geschichte des Holocaust und des Aufstands im Warschauer Ghetto erzählt wird? All das dient doch mitunter auch als politisches Instrument.
Über das Programm entscheidet das POLIN Museum. Ich könnte natürlich behaupten, ich als Direktor tue das, aber das entspräche nicht der Wahrheit. POLIN ist ein Team von großartigen Fachleuten, die Programme vorbereiten, die mit den renommiertesten Preisen der Museologie ausgezeichnet wurden. Der Erfolg des Museums ist in erster Linie ihr Erfolg. Natürlich nehme auch ich an programmatischen Treffen teil, ich bin ausgebildeter Historiker, aber den größten Teil meines Berufslebens habe ich große Projekte geleitet, ich bin also ein typischer Manager.
Wir entscheiden gemeinsam über die Themen der nächsten Sonderausstellungen, versuchen sie möglichst vielfältig zu gestalten und dabei verschiedene Themen zu berühren, die wir das eine Mal über die Kunst, das andere Mal mittels der jüdischen Küche oder mit Blick auf das Schicksal von Zivilisten während des Ghettoaufstands beschreiben. Wir sind es auch, die die inhaltlichen und medialen Partner auswählen.
Selbstverständlich sind wir offen für Diskussionen und Kontroversen mit Fachleuten aus Wissenschaft und Forschung. Wir wissen, dass der Aufbau von Glaubwürdigkeit Jahre in Anspruch nimmt. Und dass man sie im Handumdrehen wieder verlieren kann.
Bis zum Ausbruch der Pandemie kam die Hälfte unserer Besucher als ausländische Touristen zu uns. Am zahlreichsten waren darunter Amerikaner, Israelis, Deutsche, Franzosen, Engländer, Spanier, Kanadier und heute, was uns sehr freut, auch Ukrainer, die in Polen Zuflucht gefunden haben. Die Bildungsabteilung hat für sie, insbesondere für Schülerinnen und Schüler, ein einzigartiges Programm vorbereitet, das sowohl die Geschichte der Juden vermittelt als auch das Kennenlernen des neuen Landes, in das diese Jugendlichen geflohen sind, vor dem Hintergrund der äußerst schwierigen, dramatischen Geschichte, die ihre persönliche Erfahrung darstellt, erleichtert. Wir sind nicht gleichgültig. Gleich am ersten Tag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine haben wir die ukrainische Flagge vor dem Museum gehisst. Wir beschäftigen 12 Mitarbeiter aus der Ukraine. Wir haben sie dazu eingeladen, einer normalen beruflichen Tätigkeit in einem fremden Land nachzugehen, das vielleicht, wer weiß, schon für immer ihr Land sein wird. Wir können nicht vorhersehen, wie dieser Krieg enden wird und ob sich diese Menschen dazu entscheiden, in die Ukraine zurückzukehren oder ob sie es vorziehen werden, ihr Leben in Polen fortzusetzen.
Wie stellen Sie sich die nächsten Jahrestage des Aufstands im Warschauer Ghetto vor? Wie soll diese Erinnerungskultur aussehen?
Wir verfügen über einzigartige Aufzeichnungen und Berichte von bereits verstorbenen Zeitzeugen, sodass sich an unser Bildung mittels Elementen von Oral History, die bei uns eine Schlüsselrolle spielt, nichts ändern wird. Wir werden die Hüter der Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto sein und uns lautstark gegen alle Formen von Ausgrenzung, Segregation, Rassismus und Antisemitismus wehren. Meine Kollegen aus dem Team von POLIN, die mehrere Generationen jünger sind als ich, werden sich mit Sicherheit dieser Aufgabe annehmen.
Im Jahr 2022 nahmen mehr als 500 000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Polen an der „Aktion Narzissen“ teil. In diesem Jahr organisieren wir diese Aktion abgesehen von Warschau auch in Białystok, Lublin, Łódź, Krakau und Breslau. Von Jahr zu Jahr werden es mehr Partnerstädte. POLIN ist Vertragspartei des Abkommens zwischen Ronald Lauder, dem Vorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses, und Rafał Trzaskowski, dem Stadtpräsidenten von Warschau. Wir haben Narzissen und Bildungsmaterialien an über einhundert jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt geschickt, die vom Jüdischen Weltkongress ausgewählt wurden, wir haben auch Narzissen an das Europäische Parlament, den Knesset sowie an den Senat und Kongress geschickt.
Das Museum erreichen Anfragen von ausländischen Partnern, was ein Beweis dafür ist, dass die Aktion immer bekannter und ihr Wertschätzung entgegengebracht wird. Kürzlich erhielt ich eine E-Mail von einer Lehrerin in Christchurch in Neuseeland, die mich darum bat, ihr Narzissen und Unterrichtsmaterialien zu schicken. Sie sind gerade angekommen. 10 000 km und 27 Flugstunden von Warschau entfernt…
Die Zahl solcher ad hoc entstandenen Reaktionen wird sicherlich weiter wachsen. Daraus schließen wir, dass das Programm des POLIN-Museums, die „Aktion Narzissen“ und das Eintreten für das elfte Gebot „Sei nicht gleichgültig“ sinnvoll sind, weil wir dabei über universelle Werte sprechen, die für die ganze Welt von Bedeutung sind. Unsere langjährige Arbeit war also nicht umsonst. Vor einem Jahr kamen rund 50 Millionen Menschen weltweit in Kontakt mit dem Hashtag #łączynaspamięć (dt. #DieErinnerungVerbindetUns). Wie viele es wohl dieses Jahr werden? Wir werden sehen…
Das Interview führte Joanna Maria Stolarek, Leiterin des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung
Dieser Artikel erschien auf Polnisch und Englisch zuerst hier: pl.boell.org
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