Türkei: "Es gibt viele, die sich jetzt wirklich große Sorgen machen"

Interview

In der Türkei hat Präsident Erdoğan die Stichwahl gewonnen und bleibt damit im Amt. Über die Folgen dieser Wahl, sowohl für die türkische Innenpolitik als auch die Außenpolitik, sprechen wir mit dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Dawid Bartelt.

Recht knapp hat Erdoğan die Stichwahl für sich entschieden. Wie erlebst du die Stimmung in Istanbul und in der Türkei insgesamt?

Dawid Bartelt: Das hängt sehr davon ab, wen man fragt. Noch in der Wahlnacht hat es Feiern und Kundgebungen von Erdoğan Anhänger*innen des alten und neuen Präsidenten RecepTayyip Erdoğan in Istanbul gegeben, auch in Ankara und in anderen Städten, da waren sehr viele Menschen. Auf der anderen Seite gibt es auch viele, zum Beispiel diejenigen, mit denen wir als Stiftung zusammenarbeiten, die sich jetzt wirklich große Sorgen machen. Das sind Menschen, die beispielsweise in Menschenrechtsorganisationen, Frauen- oder Umweltorganisationen arbeiten. Die fragen sich: Was machen wir denn jetzt? Bin ich jetzt gefährdet? Oder noch mehr gefährdet?

Erdoğan hat in seiner Rede nach der Bekanntgabe des Ergebnisses zunächst gesagt, sein Sieg sei ein Sieg für die Türkei und er wolle der Präsident aller Türkinnen und Türken sein. Nur um dann wieder seine Angriffe auf die Opposition weiterzuführen, seine Polemiken gegen den Westen und gegen das, was er die “perversen Bewegungen” nennt, also gegen LGBTIQ-Organisationen, gegen die er in der letzten Zeit massiv Stimmung gemacht hat. Stellvertretend für alle zivilgesellschaftlichen Kräfte, für demokratische Kräfte, die mit diesem Weg in einen autoritären Staat nicht einverstanden sind.

Diese Rede, die Erdoğan nach seinem Sieg gehalten hat, wurde von Beobachter*innen als eine unversöhnliche Rede wahrgenommen. So hat er zum Beispiel gesagt, dass “wir bis zum Tod zusammen sein werden”, was von einigen interpretiert wurde, dass er bis zu seinem Lebensende regieren möchte. Wie hast die Rede wahrgenommen?

Man kann das so interpretieren, dass Erdoğan sich legitimiert fühlt, schon mal anzudeuten, dass dies womöglich nicht die letzten fünf Jahre seiner Regierunszeit sein werden. Nach der derzeitigen Verfassung war schon die Legitimität seiner jetzigen Kandidatur umstritten. Und es ist natürlich denkbar, dass er die Verfassung ändert oder sich etwas anderes einfallen lässt, um weiter zu regieren. Das hat sein Alliierter Russland, also Putin, ja vorgemacht. Aber im Moment finde ich das nicht so relevant. Die Wahl gibt ihm fünf lange Jahre, und schon im Frühjahr nächsten Jahres finden hier in der Türkei landesweit Kommunalwahlen statt. Die wichtigsten Städte, allen voran Istanbul und Ankara, werden derzeit von der Opposition regiert; Erdoğan will sie für die AKP zurückzuerobern.

Ist das denn realistisch? Sind die Großstädte nicht eher progressiv geprägt?

Wenn man sich die aktuellen Wahlergebnisse anschaut, dann gilt das so deutlich nur für Izmir, die drittgrößte türkische Stadt. Hier hat der Oppositionskandidat Kılıcdaroğlu 67 Prozent der Stimmen geholt. Als gemeinsamer Kandidat eines Sechs-Parteien-Bündnisses wohlgemerkt. Und als solcher hat er in Ankara und in Istanbul nur etwas über 52 Prozent bekommen. Wenn dieses Bündnis nicht bis zu den Kommunalwahlen hält, dann schrumpfen die Chancen für die Opposition, zumal bei den undemokratischen Bedingungen, mit denen sie es in der Türkei zu tun hat.

Denn auch wenn die Wahlen in einem unmittelbar technischen Sinn, vom Ablauf am Wahltag her, einigermaßen frei waren – allerdings nicht frei von Manipulations- und Einschüchterungsversuchen - , so waren sie auf keinen Fall fair. Schon seit Jahren gibt es hier keinen fairen politischen Wettbewerb. Politische Gegner, zivilgesellschaftliche Organisationen werden massiv kriminalisiert. In den herrschenden Medien findet kaum etwas anderes als Erdoğan und seine Sicht der Welt statt. Und wenn man das alles in Rechnung stellt, dann ist es sehr offen, wie diese Wahlen ausgehen. Zumal gegen den Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu noch ein politisches Verfahren läuft – wegen “Beleidigung der Wahlkommission”. Wenn sich das Urteil gegen ihn bestätigt, muss er ins Gefängnis und verliert seine politischen Rechte. Das wäre ein weiterer großer Rückschlag für die Opposition, denn er gilt als Hoffnungsträger und es ist gut möglich, dass er jetzt versucht, von Kılıcdaroğlu den Vorsitz der größten Oppositionspartei CHP zu übernehmen.

Schon seit Jahren gibt es hier keinen fairen politischen Wettbewerb

Die Opposition hat gut gekämpft, aber sie hat auch Fehler gemacht und muss nun unverzüglich eine kritische Selbstanalyse vornehmen – die Zeit bis zu den Kommunalwahlen ist knapp. Wie in immer mehr Ländern, ist auch die türkische Gesellschaft polarisiert – eine Polarisierung, die bis in die Familien hineinreicht.

Auch gegen die prokurdische Partei HDP läuft ein Verfahren, schon seit 2021, sie soll verboten werden. Kann man davon ausgehen, dass der türkische Verfassungsgerichtshof dazu bald sein Urteil veröffentlicht?

Die HDP hatte damit schon vor der Wahl gerechnet und auch bereits Konsequenzen gezogen, indem sie unter dem Dach der Grünen Linkspartei angetreten ist. Aber wir wissen nicht, was passiert. Diese Regierung hat so viel Handhabe. Wenn eine legal operierende HDP Erdoğans politischen Zielen irgendwie gefährlich wird, wird er handeln, dann wird das Verbot wohl kommen.

Rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung sind Kurd*innen. Viele von ihnen sind Anfeindungen ausgesetzt, werden unterdrückt und unter Erdoğan wurden auch zahlreiche kurdische Politiker*innen, Journalist*innen, Anwält*innen und Aktivist*innen inhaftiert. Was bedeutet Erdoğans Sieg für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei?

Interessant ist, dass Erdoğan 2012 den sogenannten Friedensprozess mit den Kurden selbst angestoßen hat. Jetzt führt derselbe Erdoğan Krieg gegen die PKK, sowohl in der Türkei, als auch im Norden Syriens. Und er verunglimpft die HDP als Terroristen, nur weil sie mit der PKK redet. Und damit auch viele andere Kurden im Land. Die Kurdinnen und Kurden sind in seinem Diskurs wieder als der „innere Feind“ markiert, ein ganz wichtiges Element des türkischen Nationalismus. Im Moment läuft innerhalb der HDP und innerhalb der kurdischen Gemeinde eine heftige Diskussion darüber, ob die Wahlkampfstrategie, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen und so indirekt Kılıcdaroğlu zu unterstützen, richtig oder falsch war. Denn die HDP hat deutlich Stimmen verloren in ihren Gebieten.

Kommen wir zur Außenpolitik, Stichwort NATO-Beitritt Schwedens. Bisher blockiert Erdoğan diesen. Denkst du, er wird da nachgeben, aber sich das bezahlen lassen?

Ja, das glaube ich. Die Schweden haben ja reagiert und neue Anti-Terror-Gesetze verabschiedet. Aber Erdoğan wird dafür seinen Preis nennen. Und dann denke ich, dass Schweden in den nächsten Monaten der NATO wird beitreten können. Es wird im Verhältnis zwischen „dem Westen“ und der Türkei darauf ankommen, im Gespräch zu bleiben, aber sich auch nicht erpressen zu lassen. Ich finde immer noch, dass z.B. die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Freilassung politischer Gefangener, die ja eigentlich bindend sind für die Türkei, ganz oben auf der Liste des Nichtverhandelbaren stehen sollte.

Wird Erdoğan tatsächlich die vier Millionen syrischen Flüchtlinge ausweisen, wie im Wahlkampf angekündigt? Selbst Kılıcdaroğlu hatte dies ja vor der Stichwahl versprochen, um rechtsnationale Stimmen zu gewinnen.

Die große Mehrheit der Türkinnen und Türken sagt in Umfragen, die syrischen Geflüchteten sollten das Land verlassen, das liegt auch an der Wirtschaftskrise. Rund 500.000 Syrerinnen und Syrer sind schon zurückgeschickt worden. Ich denke aber nicht, dass das eine von Erdoğans Prioritäten sein wird und es ist auch gar nicht so einfach möglich, ganz abgesehen von Fragen der Menschenrechte. Viele von ihnen sind mittlerweile türkische Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger geworden, viele Kinder von Geflüchteten aus Syrien sind hier geboren, gehen hier zur Schule, die Leute haben Arbeit, Die türkische Gesellschaft wird nach wie vor mit einem erheblichen Anteil syrischer Flüchtlinge, die sich hier integriert haben, zu leben haben.

Tatsächlich aber werden sich zwei Themen nun wieder in den Vordergrund drängen, die Erdogan im Wahlkampf umgangen hat: die Wirtschaftskrise, mit einer Inflation, die die Kaufkraft massiv entwertet, und die unglaublichen Zerstörungen, die Obdachlosigkeit und das Leid von Millionen nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar.

Rechnest du damit, dass eine nennenswerte Zahl von Anhänger*innen der Opposition nach dieser Niederlage das Land verlassen werden, weil sie sich ein Leben in der Türkei nicht mehr vorstellen können oder wollen?

Das höre ich in der Tat. Auch vor der Wahl schon, diesen Satz: “Wenn Erdoğan gewinnt, bin ich weg”. Nun ist es aber nicht so einfach, ein Land zu verlassen. Dafür braucht man Geld, einen Job und man braucht ein Visum. Und die Visumsvergabe ist gegenüber Türkinnen und Türken immer restriktiver geworden. Der Knackpunkt ist die sogenannte Rückkehrperspektive. Wenn diese nach Einschätzung der Behörden nicht vorliegt, dann wird das Visum nicht erteilt. Und die haben Leute, die gehen, weil sie sich politisch gefährdet fühlen oder weil sie hier keine Zukunft sehen, eher nicht. Für diese Menschen müsste sich die Politik der Visumsvergabe Deutschlands und der EU ändern, sich anpassen an diese politischen Verhältnisse.

Die Türkei ist zu wichtig, um sie einem autoritären Nationalkonservatismus zu überlassen

Wenn sich die deutsche, die europäische Außenpolitik jetzt fragt: Was können wir tun, um demokratische Prozesse in der Türkei zu stärken, dann steht an erster Stelle diese Notfallfrage: was können wir tun, um denen zu helfen, die gefährdet sind, die keine Zukunft sehen in ihrem Land. Da ist eine deutlich freizügigere Visavergabe etwas sehr Konkretes, was machbar ist und in der Hand unserer Regierung, unserer Behörden liegt. Und dann brauchen wir tatsächlich eine Demokratieförderungsstrategie für die Türkei. Das wird nicht leicht, aber die Türkei ist zu wichtig, um sie einem autoritären Nationalkonservatismus zu überlassen. Wie die Menschen hier in der Türkei – oder in Ungarn, in Polen, in Italien, bei uns in Deutschland – davon überzeugen, dass dies kein Weg ist, der für sie in eine gute Zukunft führt? Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage.


Dieses Interview ist eine gekürzte und bearbeitete Version eines Gesprächs auf Twitter Spaces. Die Fragen stellt Laura Endt.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de