In den 1970er Jahren fand ein fundamentaler Wandel unseres Zeit- und Geschichtsverständnisses statt. Der Historiker Fernando Esposito zeigt, dass unsere heutige Zukunftslosigkeit Ergebnis dieses Wandels ist und plädiert für eine Wiederbelebung unseres Möglichkeitssinns.
Zukunftslosigkeit: Eine Diagnose unserer Gegenwart
Was ist denn nur aus der Zukunft geworden? Auch sie ist offenbar nicht mehr, was sie lange Zeit einmal war. Wir vermögen es kaum noch, uns eine positive Zukunft vorzustellen, kennen nur noch Dystopien. Am Horizont zeichnen sich vornehmlich katastrophische, wenn nicht sogar apokalyptische Ahnungen ab: der nächste große Crash, die Verschärfung der „Weimarer Verhältnisse“, die Eskalation aktueller Kriege zum atomaren Weltenbrand und, last but not least, der Klimawandel und Untergang unseres Planeten.
Einst strahlte die Zukunft doch so hell und man schritt ihr frohen Mutes entgegen. Man glaubte an den Fortschritt, an die Plan- und Machbarkeit der Geschichte, daran, dass die Verwirklichung der Menschheitsträume zum Greifen nahe sei. Im Tempel der Zeit, den die Modernen in den Jahrzehnten um 1800 errichteten (siehe Abbildung), waren die Zeiten schön säuberlich geordnet, die Epochen lösten sich gewissenhaft ab und alles und jedes folgte dem stetigen, aus dem Gestern über das Heute ins Morgen fließenden Strom. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geriet dieser Strom indes durcheinander. Seitdem ist der Fluss der Zeit voll Wirbel und Turbulenzen und die Zukunft nicht mehr wiederzuerkennen.
Dieser Beitrag setzt unsere Zukunftslosigkeit in eine historische Perspektive. Er zeigt, dass der Zukunftsschwund in etwa in den 1970er Jahren einsetzte und mit einem fundamentalen Wandel unseres Zeit- und Geschichtsverständnisses einherging. Er beschränkt sich auf den sogenannten „Westen“ und insbesondere auf die Bundesrepublik Deutschland. Denn trotz aller globaler Verflechtungen ist die Transformation der Zukunft keineswegs verallgemeinerbar.
Mit dem Verallgemeinern ist es ohnehin so eine Sache, denn selbstverständlich schritten auch nicht alle Europäer*innen zwischen, sagen wir, 1789 und 1968 frohen Mutes der Zukunft entgegen – im Gegenteil. Ob auf dem Schlachtfeld von Verdun, in den nationalsozialistischen Lagern oder während der Kubakrise – immer wieder schauten die Europäer*innen in tiefste unmenschliche Abgründe. An apokalyptischen Zukunftsvorstellungen herrschte also auch schon früher keinerlei Mangel. Bei der ausweglosen Nicht-Zukunft, vor der wir heute stehen, handelt es sich aber um ein Phänomen anderer Art. Es lohnt, fünfzig Jahre zurückzublicken.
Die 1970er Jahre als Wendepunkt
In den 1970er Jahren endeten die drei Jahrzehnte des wirtschaftlichen Aufschwungs, die auf den Zweiten Weltkrieg gefolgt waren. Statt hoher Wachstumsraten und Vollbeschäftigung gab es Konjunktureinbrüche und die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Dies untergrub den bislang vorherrschenden Glauben an den Fortschritt. Zudem geriet die Modernisierung der vergangenen Jahrzehnte – bislang als Wundermittel gegen alle vorherrschenden Übel gepriesen – zunehmend in Verruf. Die Modernisierung wurde nunmehr als eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ wahrgenommen, als unzulässiger Eingriff des bürokratischen und ökonomischen Systems in das Leben des Menschen (Habermas 1981b: 552). Mit der Studentenbewegung wie dem linksalternativen Milieu veränderte die althergebrachte Moderne- und Fortschrittskritik nicht nur ihren Charakter, sie wurde auch immer lauter.
Als der Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums 1972 erschien, wuchs zudem das Bewusstsein dafür, dass Fortschritt auch Raubbau an der Natur bedeute. Angesichts von Seveso und Harrisburg, von Waldsterben und Tschernobyl fragten sich zahlreiche Zeitgenoss*innen, ob sich die ökologische Katastrophe überhaupt noch würde verhindern lassen. Ferner drohte das atomare Inferno, denn infolge des NATO-Doppelbeschlusses und des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan hatte sich 1979 der Kalte Krieg wieder verschärft. 1986, kurz nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, hieß es in Ulrich Becks Buch Risikogesellschaft: Risiken meinten „eine Zukunft, die es zu verhindern gilt“ (Beck 1984: 44). Es wurden indes nicht allein die Erwartungen an die Zukunft erschüttert, es veränderte sich auch das bisherige Verständnis der Geschichte.
Die Transformation des modernen „Historizitäts-“ (Hartog 2015) oder „Zeitregimes“ (Assmann 2013) hat Hans Ulrich Gumbrecht prägnant beschrieben: Einst glaubten „wir […] in permanenter Vorwärtsbewegung – unablässig Vergangenheiten als abgeschlossene hinter uns zu lassen und immer neue Schwellen hin zu immer neuen offenen Zukünften zu überschreiten. [...] Zwischen den Vergangenheiten, von denen wir uns entfernten, und den Zukünften, in die hinein wir uns bewegten, erlebten wir die Gegenwart als [...] unüberbietbaren kurzen [...] Moment des Übergangs“ (Gumbrecht 2001: 772). Um die Jahrtausendwende schien sich das alles geändert zu haben: Aus der steten Vorwärtsbewegung war ein „rasender Stillstand“ (Virilio 2002), also eine beschleunigte, aber richtungs- und herrenlose Veränderung geworden. Zudem zeichnete sich die neue Zeit dadurch aus, dass es nicht mehr gelang, mit der Vergangenheit zu brechen und sie hinter sich zu lassen. Vor allem aber schien die für die Moderne typische „offene Zukunft“ (Koselleck 1979) verschlossen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Zukunft nicht mehr als ein „dem Handeln offenstehender Horizont von Möglichkeiten“ (Gumbrecht 2010: 67). Es schien, als seien es nicht wir, die auf diesen offenen Horizont zuschritten, vielmehr bewegte sich eine bedrohliche, verschlossene Zukunft – einem dunklen Unwetter gleich – auf uns zu. Was war passiert? Wo war die altbekannte Zukunft nur hin und was hatte zu deren Verschwinden beigetragen?
Verlust des Möglichkeitssinns und das Ende der Utopien
Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass unser „Möglichkeitssinn“ im Verlauf des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts verkümmerte. Vom „Möglichkeitssinn“ heißt es in Robert Musils 1930 erschienenem Roman Der Mann ohne Eigenschaften:
„Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (Musil 1978: 16)
In der Politik deutete sich das Absterben des Möglichkeitssinns etwa darin an, dass von Margaret Thatcher bis Angela Merkel immer öfter von „Alternativlosigkeit“ die Rede war. Nicht ohne Zynismus erinnerte Fredric Jameson (2003: 76) im Juni 2003 daran, dass es mittlerweile „einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus im kommunistischen Gewand scheint es ja in der Tat keine Alternativen zum kapitalistischen System mehr zu geben. Doch das Verkümmern des Möglichkeitssinns hatte weit früher eingesetzt, denn angesichts der Verbrechen der kommunistischen Regime hatte der Kommunismus schon lange seinen Glanz verloren. Wer seinen Glauben nicht schon während der stalinistischen Gewaltherrschaft verloren hatte, wurde in der Folge des 20. Parteitags der KPdSU, der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands (1956) und des Prager Frühlings (1968), des Erscheinens von Alexander Solschenizyns Archipel Gulag (1973), des Terrors der Brigate Rosse und der RAF oder aber der kambodschanischen killing fields abtrünnig: Der „späte Flirt mit den Roten Khmer“, so Gerd Koenen (2004: 465f.), wirkte „wie ein Todeskuss“ für die marxistische Utopie und Zukunft.
In einem Kursbuch, das sich 1978 den Utopien und dem „Zweifel an der Zukunft“ widmete, machte Hans Magnus Enzensberger (1978: 7) darauf aufmerksam, dass die „Projekte des 19. Jahrhunderts [...] von der Geschichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden“ seien. Nun wisse man, „dass wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen; und dass die Krise aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund hat.“ (vgl. auch Habermas 1981a) Da sich an diesem Befund seitdem nichts geändert, haben wir auch weiterhin Schwierigkeiten, neue politische Zukünfte zu entwerfen – zumindest solche, wie sie den Projekten der Moderne zugrunde lagen. Diese Projekte fußten allesamt auf einem geschichtsphilosophischen Verständnis der Geschichte, das in der Aufklärung wurzelte. Geschichte galt seitdem als zielgerichteter Prozess, als sinnhafte „große Erzählung“ (Lyotard 2009), die sich in der Zeit vollzog und in der Wirklichkeit konkretisierte. Auschwitz, Hiroshima, der Gulag, oder der „Große Sprung nach vorn“ hatten diese Erzählungen delegitimiert und als grausame Märchen entlarvt. Die Entzauberung der Utopien hatte mit dem stalinistischen Terror der 1930er Jahre und den faschistischen Vernichtungskriegen eingesetzt. Joachim Fest (1991: 81) konstatierte:
„Mit dem Sozialismus ist, nach dem Nationalsozialismus, der andere machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert. Was damit endet, ist der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse. Zersprungen sind all die scharfsinnigen Träume über die Menschheitszukunft, die aus der Welt ein riesiges Schlachthaus gemacht haben.“
Die Utopien hatten allesamt auf einer Überschätzung des menschlichen Wissens und der menschlichen Handlungsmacht in der Geschichte gefußt. Der Verwirklichung der Idee hatte man einen höheren Stellenwert zugemessen als dem individuellen Leben und es waren unzählige menschliche Opfer, aber auch weitere unbeabsichtigte Nebenfolgen billigend in Kauf genommen worden.
Das von den Zeitgenoss*innen diagnostizierte Ende der Utopien ging mit einem „Zukunftsschock“ (Toffler 1970) einher, der auch die liberal-kapitalistische Erzählung in Mitleidenschaft zog. So stellte Eric Hobsbawm (1978: 44) fest:
„Once upon a time, say from the middle of the nineteenth century to the middle of the twentieth, the movements of the left […] like everybody else who believed in progress, knew just where they wanted to go and just what, with the help of history, strategy, and effort, they ought or needed to do to get there. Now they no longer do. In this respect they do not, of course, stand alone. Capitalists are just as much at a loss as socialists to understand their future, and just as puzzled by the failure of their theorists and prophets.“
„Es gab einmal eine Zeit, etwa von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, da wussten die linken Bewegungen [...] wie alle, die an den Fortschritt glaubten, genau, wohin sie wollten und was sie mit Hilfe von Geschichte, Strategie und Anstrengung tun sollten oder mussten, um dorthin zu gelangen. Jetzt wissen sie es nicht mehr. In dieser Hinsicht stehen sie natürlich nicht allein. Die Kapitalisten sind ebenso ratlos wie die Sozialisten, was ihre Zukunft angeht, und ebenso verwirrt über das Versagen ihrer Theoretiker und Propheten.“ (Übersetzung der Heinrich-Böll-Stiftung)
Was nun?
Wir wissen immer noch nicht, wohin wir eigentlich wollen und was wir tun können, um dorthin zu gelangen. Es wäre schon ein Erfolg, wenn wir Einigkeit darüber herstellen könnten, was es unbedingt zu verhindern gilt.
Der Zeitenwandel der vergangenen Jahrzehnte hat jedenfalls ein zutiefst konservatives Antlitz, denn unsere Zukunftsangst mündet in zurückhaltende Gegenwartsaffirmation. Aus der Haltung des „es ist zwar nicht gut, es könnte aber noch viel schlimmer sein“ resultiert ein Hang zur Beharrung. Folgt man dem Politikwissenschaftler Michael Hirsch (vgl. 2016), erleichtert Zukunftsangst die Unterwerfung des Einzelnen unter die bestehende Ordnung: Wo Zukunftsangst herrscht, wird der Einzelne gefügig, willfährig und unsolidarisch. Hirsch plädiert für eine Rekonstruktion des Fortschrittsbegriffs. Vermutlich bedarf es aber eines anderen, weniger großspurigen Konzepts. Denn die vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Geschichte vorgebrachte Kritik am Fortschritt und an den Utopien war ja mehr als berechtigt. Neue große Fortschrittserzählungen werden uns also beim Versuch, der „absoluten Gegenwart“ zu entkommen, weniger behilflich sein. Es bedarf vielmehr des Möglichkeitssinns. Anstatt fortzuschreiten würden wir dann vielleicht umherwandeln.
Literaturverzeichnis
Assmann, Aleida (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Hanser.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Enzensberger, Hans Magnus (1978): Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. In: Kursbuch 52: Utopien I. Zweifel an der Zukunft: 1−8.
Fest, Joachim (1991): Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin: Siedler.
Gumbrecht, Hans Ulrich (2001): Die Gegenwart wird (immer) breiter. In: Merkur 55: 769−784.
Gumbrecht, Hans Ulrich (2010): Unsere breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1981a): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders.: Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt a. M: Suhrkamp: 444–464.
Habermas, Jürgen (1981b): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hartog, François (2015): Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York: Columbia University Press.
Hirsch, Michael (2016): Jenseits des Banns. Mythos des Immergleichen oder neue Fortschrittssequenz. In: Quent, Marcus (Hrsg.): Absolute Gegenwart, Berlin: Merve: 86–112.
Hobsbawm, Eric (1978): Should the Poor Organize?. In: The New York Review of Books 25: 44–49.
Jameson, Fredric (2003): Future City. In: New Left Review 21: 65–79.
Koenen, Gerd (2004): Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967−1977, Frankfurt a.M.: Fischer.
Koselleck, Reinhart (1979): „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 349–375.
Lyotard, Jean-François (2009): Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982−1985, Wien: Passagen.
Meadows, Dennis; Meadows, Donella; Zahn, Erich; Milling, Peter (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: DVA.
Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Toffler, Alvin (1970): The Future Shock, New York: Random House.
Virilio, Paul (2002): Rasender Stillstand. Essay, Frankfurt a.M: Fischer.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de