Ein schmutziger Wahlkampf in Serbien und immer stärkerer Druck sind indirekter Beweis, dass das Rating der amtierenden Fortschrittspartei sinkt, weswegen ein Machtwechsel in Belgrad gewiss erscheint. Mit der Gründung der Koalition „Serbien gegen Gewalt“ bekommt die Regierungspartei SNS erstmals ernst zu nehmende Konkurrenz, sodass Präsident Aleksandar Vučić die ganze Last des Wahlkampfes persönlich auf sich genommen hat – auch wenn er nicht zu den Wahlen antritt.
Die Rückkehr der Ungewissheit
Zum ersten Mal, seitdem die Serbische Fortschrittspartei (Srpska napredna stranka, SNS) an die Macht kam, stehen in Serbien Wahlen mit einem ungewissen Ausgang bevor: Meinungsforscher*innen sprechen von einem wahrscheinlichen Regierungswechsel in Belgrad, und auch eine Umstrukturierung der Machtverhältnisse auf Ebene der ganzen Republik Serbien scheint nicht undenkbar.
Es ist also die Zeit für die stärkste Trumpfkarte gekommen, um die eigene Position zu schützen: Bei der Verteufelung der Opposition kommen die schmutzigsten Mittel zum Einsatz, und die Wähler*innen sind massenweise Bestechung und starkem Druck ausgesetzt. Die ganze Last des Wahlkampfes hat Serbiens Präsident Aleksandar Vučić persönlich auf sich genommen – auch wenn er nicht zu den Wahlen antritt. Seine Amtszeit als Präsident endet erst 2027 und er steht auch nicht länger an der Spitze der SNS, aber nichts von dem stand dem im Wege, dass alle Wahllisten der Partei unter seinem Namen geführt werden.
Fünfmal hat die Regierung unter der SNS bisher Wahlen organisiert, jedes Mal im Frühling (2014, 2016, 2017, 2020, 2022). Nun wurde erstmals ein Termin im Winter gewählt: der 17. Dezember. Ausgeschrieben wurden Parlamentswahlen (auch wenn unklar bleibt, warum), aber auch Wahlen für das Parlament der Provinz Vojvodina und Kommunalwahlen in 66 Gemeinden und Städten, darunter auch Belgrad, obwohl der reguläre Termin für Kommunal- und Provinzwahlen erst im Frühling nächsten Jahres gewesen wäre. Um das möglich zu machen, sind die Vorsitzenden und Bürgermeister*innen der jeweiligen Gemeinden zeitgleich zurückgetreten, ohne einleuchtende Begründung.
Eine interessante Erläuterung kam dann von Milan Stamatović, Gemeindevorsitzenden von Čajetina, unlängst noch bei der Opposition, nun Koalitionspartner der SNS: die Partei könne auf diese Weise ihre Anhänger*innen von jenen Gemeinden, wo keine Wahlen stattfinden, in Gemeinden bewegen, wo gewählt wird und somit ihre Siegeschancen erhöhen.
Die Bürger*innen wachen auf, die Angst ist geringer
Das ist einer der Gründe hinter der Einschätzung, dass die Integrität der Wahlen von vornherein gefährdet sei, wovon auch das Fazit des Wahlbeobachtungsteams der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zeugt, dass nämlich der Wahlkampf „sehr polarisiert“ sei und „gekennzeichnet von einem bis dato nicht bekannten Ausmaß an negativen Kampagnen und Angst, Angriffen auf die Opposition und Reporter sowie ernst zu nehmenden Zwischenfällen im Bereich der Medien“.
Es ist deutlich, wieso die SNS ihren Wahlkampf noch sorgfältiger manipuliert als je zuvor. In nur anderthalb Jahren seit den vorherigen Wahlen hat sich die Stimmung im Land erheblich geändert. Es kam zu einem deutlichen „Erwachen“ der Bürger*innen und schwindender Angst vor den Repressalien der autoritären Regierung. Hierzu hat der Schock nach den Massentötungen mit 19 Opfern an der Grundschule „Vladislav Ribnikar“ und in den Dörfern um Mladenovac Anfang Mai beigetragen.
Die zwei Anschläge, auf die die Regierung extrem verantwortungslos reagierte, wurden zum Auslöser für umfangreiche und mehrmonatige Proteste unter dem Motto „Serbien gegen Gewalt“ in Belgrad, aber auch in ganz Serbien. Die SNS versuchte mit ihrer Gegendemonstration „Ein Serbien der Hoffnung“ am 26. Mai zu kontern – und scheiterte damit.
Die Zahl der Versammelten, die aus ganz Serbien gebracht wurden, war deutlich geringer als die Zahl der Beteiligten an den Protesten gegen Gewalt, und viele von ihnen gingen noch vor Vučićs Ansprache. Das war ein durchaus offensichtliches Anzeichen für Rückgang der bisherigen Wählerschaft der SNS.
Trümpfe der Regierung: Geschenke, Geld, Vučić
Auch das Narrativ vom „goldenen Zeitalter“ das Präsident Vučić gerne permanent in der Öffentlichkeit zelebriert, scheint nicht mehr so wirksam zu sein wie früher. Nach dem Hoch von 16,2 Prozent im Frühling konnte die Inflation zwar gesenkt werden, sie zählt aber immer noch zu den höchsten in Europa. Die enormen Teuerungen haben die Bürger*innen in die Verarmung getrieben, sodass soziale Unzufriedenheit ausgedrückt in zahlreichen Streiks, zunimmt. Zugleich sind die Wähler*innen anfälliger geworden für unterschiedliche Formen der Bestechung.
Aktivist*innen und Funktionär*innen der SNS verteilen in ganz Serbien „Hilfspakete“ und „Gaben“, wobei die Agentur für Korruptionsbekämpfung beide Augen darauf zudrückt. An unterschiedliche Bevölkerungsgruppen wird auch offen Geld aus dem Haushalt ausgeteilt, wobei jedes Mal Vučić persönlich derjenige ist, der diese „frohe Botschaft“ verkündet.
Laut Meinungsforschungen ist das Rating der SNS seit Frühling um einige Prozent zurückgegangen, jedoch sei Vučić weiterhin deutlich beliebter als die Partei, wenn auch nicht ganz stabil. Erstmals erhielt er mehr negative als positive Bewertungen. Der Wahlkampf der Partei entfaltet sich ganz im Sinne dieser Einschätzungen – allein Vučić ist sichtbar, er spricht bei den Versammlungen, ist beinahe täglich in Fernsehsendungen zu Gast und hat auch zahlreiche Wahlvideos aufgenommen; in denen er unter anderem die Bürger*innen im ganzen Land besucht.
Und während die regierende Partei im Kampf ums Überleben auf die Ausschöpfung des Persönlichkeitskultes um Vučić setzt, versucht die Opposition, die steigende Unzufriedenheit unter den Bürger*innen zum eigenen Nutzen zu wenden. Den Umfragen nach gibt es jedoch weiterhin mehr Regierungsgegner*innen als Sympathisant*innen der Opposition („ich würde gegen die Regierung wählen, aber ich weiß nicht, wen“).
Die Opposition: Vereinigung und etwas Streit
Einen sichtbaren Fortschritt gibt es trotz Medienpropaganda, der Abneigung der Bürger*innen gegenüber den politischen Parteien und auch trotz interner Konflikte, die meist durch persönliche und kaum durch ideologische Gründe motiviert sind.
Auf der Protestwelle „Serbien gegen Gewalt“ ist es den pro-europäisch orientierten parlamentarischen Parteien gelungen, die gleichnamige Wahlkoalition zu gründen; erweitert um einzelne außerparlamentarische Parteien:„Srce“ mit Parteichef Zdravko Ponošoder neu entstandene Organisationen: „Volksbewegung für Serbien“, entstanden nach dem Austritt von Miroslav Aleksić aus der Volkspartei„Narodna stranka“ von Vuk Jeremić.
Die pro-europäische Opposition konnte sich der Öffentlichkeit besonders im parlamentarischen Kampf, der mit den Protesten gegen Gewalt einherging, in einem guten Licht zeigen. Eine der schwierigsten Aufgaben – die Begründung der Forderung nach Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, der die Umstände der Amokläufe ermitteln würde, welche zu den Verbrechen geführt haben – bewältigte Radomir Lazović von der „Grün-Linken Front“ (ZLF). Als einer der aktivsten Abgeordneten, überzeugte Lazović auch als begabter Polemiker. Auch der Rest der Fraktion stand ihm in nichts nach, indem sie eine gründliche Vorbereitung für die Diskussion an den Tag legten.
Die Grün-linke Front: Wachstum in einer nationalistisch geprägten Gesellschaft
Somit bewies ein links-grüner Akteur, dass selbst in einer ausgesprochen nationalistisch geprägten Gesellschaft progressive Politik möglich ist, was eine der bedeutendsten Veränderungen auf der politischen Szene seit den letzten Wahlen verheißt. Auf dem Weg von der Bewegung „Ne davimo Beograd“ (dt. „Wir lassen Belgrad nicht untergehen“) bis zur Partei „Zeleno-levi front“ (dt. Grün-Linke Front/ ZLF) ist ein Teil der informellen Lockerheit geschwunden und die ungewöhnliche Art des Zusammenschlusses wurde durch eine Parteistruktur ersetzt, mit einer Neuerung: Die Partei hat zwei Ko-Vorsitzende, einen männlichen – Lazović, und eine weibliche - Biljana Djordjević.
Die Umfragen haben deutlich gezeigt, dass die Wähler*innen durchaus einen Bezug zur Tätigkeit der Grün-Linken Front verspüren, wovon auch die Tatsache zeugt, dass auf einer Koalitionsliste für die Parlamentswahl, zusammengestellt aufgrund Daten über den Einfluss der Organisationen, den Vertreter*innen dieser Partei 14 Prozent der Sitze zukamen. Unter den ersten 71 Kandidat*innen, deren Einzug ins Parlament als gewiss eingeschätzt wird, sind 10 Kandidat*innen der Grün-Linken Front, darunter an erster Stelle Lazović, gefolgt von Miroslav Aleksić. Auf der Belgrader Liste belegt Platz eins Mila Popović, Kandidatin der Liste für Freiheit und Gerechtigkeit als einzeln stärkster Oppositionspartei, gefolgt von Dobrica Veselinović von der Grün-Linken Front auf Platz zwei.
Ein Zusammenschluss im rechts-nationalistischen Spektrum ist jedoch nicht gelungen, trotz Einsatz einzelner renommierter nationalistisch ausgerichteter Intellektueller. Vereint haben sich lediglich „Dveri“ und „Zavetnici“ (dt. „Pforte“, bzw. „Eidwächter“), die unter dem Namen „Nationalversammlung“ zu den Wahlen antreten. Überlebt hat auch das Bündnis „NADA“ (Neue demokratische Partei Serbiens und Bewegung für die Wiederherstellung des Königreichs Serbien), während sich nun auch die Volkspartei (Narodna stranka) von Vuk Jeremić, die selbstständig zu den Wahlen antritt, eindeutig in das rechte Spektrum eingegliedert hat.
Außer dass sie es versäumt haben, die Synergie der Vereinigung für sich zu nutzen, riskieren die rechten Partien mit ihrem gespaltenen Auftritt auch, einzelne von ihnen unter der Wahlhürde von 3 Prozent zu verlieren.
Links und rechts – der Weg zur Veränderung?
Die Zahl der antretenden Parteien ist abermals hoch – für die Parlamentswahlen sind 18 Listen registriert worden, für die Belgrader Kommunalwahl - 14. Deshalb ist es durchaus wieder möglich, dass eine beachtliche Anzahl der oppositionell orientierten Stimmen unter der Sperrklausel bleibt. Zugleich erleichtert der Wahlantritt von Listen, die der Regimenähe verdächtigt werden, Betrug bei der Stimmzählung bzw. das Überstimmen in den Wahlausschüssen.
Selbst in Belgrad, wo die SNS laut Umfragen am schlechtesten abschneidet, ist die Machtstruktur so aufgeteilt, dass für einen Regierungswechsel die Zusammenarbeit zwischen pro-europäischen und nationalistischen Parteien notwendig sein könnte. Es kursiert auch die Idee einer Interimsregierung mit kurzer Legislaturperiode, mit der Aufgabe, neue Wahlen unter fairen Bedingungen vorzubereiten. Ihre Bereitschaft für eine solche Vereinbarung haben am deutlichsten die Koalitionen „Serbien gegen Gewalt“ und „NADA“ bestätigt.
Auch wenn sie wiederholt an die Macht kommt, wird die SNS laut Meinungsumfragen auf Ebene der Republik Serbien höchstwahrscheinlich einen Partner brauchen, und das wären wohl die Sozialisten (SPS). Bereits das würde eine Veränderung verheißen im Vergleich zu den mehreren Jahren der absoluten Macht der SNS, und wäre ein Grund für weitere Machtverschiebungen innerhalb der nicht mehr ganz so felsenfest konsolidierten Partei.
Diese Aussichten bringen Ivica Dačić, den Parteichef der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), in Misstrauen, er hätte seine Loyalität gegenüber Vučić unter Beweis zu stellen. Derzeit ist es schwer einzuschätzen, ob er es sich anders überlegen und Serbiens Schicksal wieder wenden könnte, so wie er es 2012 tat, als er die Koalition mit Boris Tadić verließ und es der SNS ermöglichte, die Regierung zu bilden. Mit seinem ausgeprägten Überlebenssinn muss Dačić jedoch eingesehen haben, dass mit der Koalition „Serbien gegen Gewalt“ Vučić zum ersten Mal ernst zu nehmende Konkurrenz erfährt.
Abschließend noch etwas Wissenswertes: Sowohl Slobodan Milošević in den Neunzigern als auch die Demokratische Opposition Serbiens (DOS) in den Zweitausender Jahren waren jeweils 12 Jahre lang an der Staatsspitze. Die Serbische Fortschrittspartei hat die Regierung in 2012 gebildet.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de