Frankreich nach der Wahl: „Kompromisse sind extrem negativ besetzt“

Interview

Überraschend hat der rechtsextreme Rassemblement National bei der Frankreich-Wahl eine Niederlage erlitten – im Land selbst und auch in der EU ist die Erleichterung groß. Doch die Regierungsbildung könnte kompliziert werden und dauern, Frankreich droht eine Phase politischer Lähmung. Welche Konstellationen möglich sind und inwiefern sich Frankreichs Stellung in der EU verändern könnte, erkärt Marc Berthold, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris, im Interview.

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Menschen feiern nach den ersten Ergebnissen der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen auf dem Place de la Republique in Paris, am 7. Juli 2024.

Das Interview führte Nicole Sagener, Pressesprecherin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Aus dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahl in Frankreich ist das Linksbündnis Nouveau Front populaire (Neue Volksfront NFP) überraschend als Gewinner hervorgegangen, während Emmanuel Macrons Bündnis Ensemble zweitstärkste und Marine Le Pens rechtsextremer Rassemblement National (RN) drittstärkste Kraft wurde. Wie konnte es allen Vorhersagen zum Trotz zu solch einer Wendung kommen?

Marc Berthold: Es gab – und das ist einer der positiven Aspekte, die durch die Entscheidung zu Neuwahlen sichtbar wurde – im Vorfeld eine enorme Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Allen war klar, dass es jetzt darum geht, die Machtübernahme des RN zu verhindern. Selbst Fußballer der französischen Nationalmannschaft haben sich zu Wort gemeldet. Zum zweiten Wahlgang haben sich dann die neue Volksfront und Macrons Ensemble in den meisten Wahlkreisen darauf verständigt, nicht gegeneinander anzutreten, wenn nur eine der beiden Parteien eine Chance hat, gegen den Rassemblement National zu gewinnen. Schließlich war die Wahlbeteiligung für französische Verhältnisse mit knapp 67 Prozent sehr hoch – alleine der Anteil der Erstwähler*innen lag um 20 Prozent höher als 2022. Dass die neue Volksfront letztlich insgesamt vorne lag, war trotzdem für alle eine Überraschung. 

Warum haben die Wähler*innen eine rechtsextreme Regierung letztlich abgelehnt?

Viele Menschen haben in den vergangenen Jahren in anderen Ländern beobachtet, was es bedeutet, wenn Populisten oder Rechtsextreme regieren –  den Brexit und seine Folgen, Orbans Staatsumbau in Ungarn, Donald Trumps Regierungszeit. Die konkrete Vorstellung von einem rechtsextremen Rassemblement National vor den Toren der Macht hat vielen dann doch Angst gemacht – trotz der Strategie von Marine Le Pen, den RN etwas zahmer und sich selbst staatstragender darzustellen. 

Ausschlaggebend war zuletzt wohl auch, dass sich einige regionale RN-Kandidaten in ihrer Unkenntnis von Politik und vom Programm ihrer eigenen Partei und mit kruden Thesen entblößt haben. Das hat den Analysen zufolge Wähler*innen in etlichen Wahlkreisen wirklich abgeschreckt.

Aber einen großen Teil der Bevölkerung hat der RN überzeugt ….

Marc Berthold

Marc Berthold ist Leiter des Büros Paris der Heinrich-Böll-Stiftung.

Von Januar 2018 bis Juli 2019 betreute der studierte Politikwissenschaftler das Programm "Sicherheit im Wandel" des Zentrums Liberale Moderne in Berlin und war von 2014 bis Ende 2017 Büroleiter des damaligen Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/ Die Grünen, Cem Özdemir.

Zu seinen Stationen in der Heinrich-Böll-Stiftung zählte die Leitung des Referats Europäische Union und Nordamerika von 2019 bis 2022, Direktor des Israel-Büros in Tel Aviv von 2011 bis Ende 2013, nachdem er zuvor vier Jahre als Referent für Außen- und Sicherheitspolitik gearbeitet hatte. Zwischen 2001 und 2007 koordinierte er das Programm für transatlantischen Klimadialog der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, DC.

Der RN verzeichnet in der Tat einen Zuwachs: Sie haben die Anzahl ihrer Sitze von 89 auf 143 Sitze steigern können und sich damit in der Fläche weiter etabliert. Sie wird stärkste Oppositionspartei. Der RN hat mit der Angst gespielt und alle großen Herausforderungen, vor denen Frankreich steht – gestiegene Preise, schwächelnde Kaufkraft, die Frage der Klimakrise – rassistisch gedreht. Immer waren Migranten und das Ausland Schuld.

Der großen Erleichterung über den Wahlausgang folgt nun die Einsicht, wie kompliziert eine Regierungsbildung werden könnte, denn keine der drei stärksten Kräfte hat eine eigene Mehrheit. Wie wahrscheinlich ist die Gründung einer Minderheitsregierung?

Die neue Volksfront verhandelt gerade, wen sie als Premierminister vorschlagen. Sollten sie entscheiden, zusammenzubleiben und allein eine Minderheitsregierung bilden und einen Premierminister stellen, könnte Macron das kaum ignorieren. Sein Bündnis ist allerdings nicht wirklich bereit, mit der Volksfront als Ganzes zu kooperieren. Die Frage ist also, wo es zurzeit überhaupt Mehrheiten geben könnte. Es steht immer mal im Raum, dass man auch mit Dekreten regieren kann. Oder mit dem Artikel 49.3, der es der Regierung ermöglicht, ein Gesetz ohne parlamentarische Abstimmung durchzusetzen, wie es Macron bei der umstrittenen Rentenreform getan hat. Dagegen sind aber Zivilgesellschaft und linke Parteien auf die Straße gegangen, weil sie diesen Weg als undemokratisch empfanden. Insofern würde sich das Linksbündnis unglaubwürdig machen, wenn es diese Optionen künftig selbst nutzen würde.

Wie gewichtig würden grüne Themen, sollte es zu einer Minderheitsregierung der Neuen Volksfront kommen?

Fragen, wie soziale Herausforderungen angegangen und die Gesellschaft befriedet werden kann, werden nicht ohne ökologische Aspekte behandelt werden können. Die Klimakrise ist in Frankreich sehr präsent und Klima- und Ökologiethemen würden sicher mehr in den Vordergrund rücken, als zuvor bei Emmanuel Macron oder mit dem RN. 

Frankreich muss sich die Frage stellen, ob es nicht künftig den Weg von Regierungskoalitionen geht.

Alternativ könnte künftig auch eine Koalition regieren – das aber gab es noch nie in Frankreich. Warum war das bislang undenkbar?

Kompromissfindung ist in Frankreich extrem negativ besetzt und wird als Verrat an den Wähler*innen betrachtet. Auf das, was etwa in Deutschland normal ist, sind dort weder die Parteien noch die Gesellschaft vorbereitet. Frankreich muss sich die Frage stellen, ob es nicht künftig den Weg von Regierungskoalitionen geht. Doch ob das jetzt schon gelingen würde, ist fraglich. 

Könnte ein geändertes Wahlrecht – weg vom starren Mehrheitsprinzip hin zu einem Verhältniswahlsystem – daran etwas ändern?

Sollte eine Debatte über die Änderung des Wahlrechts entstehen, würde sich das Thema Koalition aufdrängen. Denn ohne Mehrheitswahlrecht gäbe es auch die Parteiblöcke in ihrer jetzigen Form nicht mehr. Dazu müsste aber eine große Debatte dazu stattfinden, dass sich die Diskussionskultur, der Politikstil, die politische Entscheidungsfindung ändern müssen – und noch gibt es auch keine konkrete Initiative. Ob sich die politische Landschaft in der aktuell komplizierten Lage so schnell auf etwas ganz Neues einstellen kann, ist unklar. Zumal sich gerade andeutet, dass Macrons Ensemble versuchen könnte, an der Macht zu bleiben.

Auch mit einer Minderheitsregierung…

Genau. Erste Politiker der Präsidentenpartei sagen, dass doch eigentlich Ensemble mit der neuen Volksfront quasi gleichauf sei, dass das Linksbündnis doch gar nicht wirklich gewonnen habe.

Marine Tondelier, Chefin der französischen Grünen, erfährt gerade viel Aufmerksamkeit mit Blick auf eine mögliche Mehrheitsfindung, weil sie eine Brücke zwischen den traditionell zerstrittenen Sozialisten und der weit links stehenden Partei La France insoumise (LFI) schlagen könnte. Wie viel Einfluss könnten die französischen Grünen bekommen?

Marine Tondelier spielt in der Volksfront gerade eine Schlüsselrolle. Erst hat sie dieses Bündnis noch am Abend der Europawahl ins Rollen und dann im zweiten Wahlgang die Einigung mit Ensemble zur Wahlkreisaufteilung auf den Weg gebracht. Sie will die grüne Partei auch mehr zur Mitte hin öffnen. Tondelier kann für die neue Volksfront und den Ton der gesellschaftlichen Debatte in der kommenden Zeit sehr wichtig sein: Sie kommuniziert sehr klar und optimistisch, geht aber auch offen damit um, dass sie jetzige politische Situation ungewohnt und verantwortungsvoll ist.

Solange es keine handlungsfähige Regierung gibt, wird Frankreich vorübergehend ein stückweit in der EU ausfallen.

Lässt sich schon absehen, wie es um Frankreichs künftige Stellung in der EU bestellt sein wird? Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash prognostizierte kürzlich in einem Gastbeitrag für die ZEIT Frankreich eine schwache, instabile, zerstrittene Regierung, worunter die gesamte EU leiden werde. 

Solange es keine handlungsfähige Regierung gibt, wird Frankreich vorübergehend ein stückweit in der EU ausfallen. Aber der europaskeptische LFI würde weder den Europaminister, noch den Außen- oder Verteidigungsminister stellen und die restlichen Parteien der neuen Volksfront - die Sozialisten, die Grünen und auch die Kommunisten – sind sich der Bedrohung durch Putin, der Verantwortung für die Ukraine und der Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik sehr bewusst. Anders als bei der befürchteten Mehrheit für den Rassemblement National wird Frankreich in Europa nicht mit unterschiedlichen Stimmen sprechen. 

Das heißt, auch beim Green Deal wird Frankreich keine destruktive Rolle spielen? 

Damit rechne ich nicht, weder unter einer Koalition, noch unter einer linken Minderheitsregierung.

Was sind jetzt die nächsten wichtigen Fragen zur Regierungsbildung?

Einigt sich die Volksfront auf einen Kandidaten für den Premierminister und wird Macron diesen Vorschlag annehmen? Oder versucht sich Ensemble an der Macht zu halten? Vor dem 18. Juli – also acht Tage vor den Olympischen Spielen in Frankreich – wird sich die Nationalversammlung das erste Mal zusammensetzen. Dass die jetzige Regierung bis dahin geschäftsführend weiterregiert, ist nachvollziehbar. Doch möglicherweise spielt Ensemble auch auf Zeit und hofft, selbst eine Minderheitsregierung zu stellen. Dann allerdings wären große Demonstrationen und Streiks vorhersehbar. 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de