Die arabische Revolution hat das Leben einer ganzen Generation beeinflusst – derjenigen, die jetzt zwischen 30 und 40 sind. Sie hatte jedoch auch große Auswirkungen auf das Leben derer, die damals noch Kinder waren. Wie prägt die Revolution von 2011 sie noch immer? Ein Gespräch zwischen zwei Augenzeug:innen.
Wir sind Wizza und Inaam Hanim, zwei Ägypter:innen, die zu der Generation gehören, die die ägyptische Revolution nur im Fernsehen erlebt hat. Der ägyptische Aufstand in 2011 – der sogenannte arabische Frühling – keimte in unseren Herzen, seine Versprechen allerdings, gilt es noch zu ernten, wie baumelnde Früchte. Manche sagen, wir hätten nur Heimweh. Wir sagen: wer Freiheit liebt, muss ständig Heimweh haben. Und wir glauben, dass die hier beschriebenen Gefühle nicht nur von jungen Ägypter:innen empfunden werden; wir hoffen, dass jede:r, der/die* einen revolutionären Moment erlebt haben, sich angesprochen fühlt.
In diesem Sinne schauen wir uns an, was die Generation – zu der auch wir gehören – von diesem revolutionären Moment erinnert und welche nachhaltigen Auswirkungen die Revolution auf sie hat. Wizza hat Interviews mit sieben jungen Menschen geführt, die um den 25. Januar 2011 zwischen fünf und 13 Jahre alt waren. Rana war fünf, Ahmad war neun, Salma und Malak waren zehn, Ibrahim und Noor waren 12 und Sama war 13. Die Interviews sind der Ausgangspunkt unseres Gesprächs.
Wizza: „Ich war zum Zeitpunkt der ägyptischen Revolution 13 Jahre alt. Ich habe Ägypten verlassen, als ich 18 Jahre alt war. Ich erinnere mich an meine Gefühle: Es war ein Moment, in dem jede gute Veränderung in Ägypten unerreichbar schien. Die Entscheidung, das Land zu verlassen, war für mich eine Frage von Leben und Tod. Ich war eine Jugendliche, als die Revolution stattfand, ich erlebte große Veränderungen, ich habe zwei Jahre lang in Zeiten einer gewissen Freiheit gelebt. Aber im Jahr 2016 wurde mir die bloße Existenz dieser Freiheit verwehrt. Später wurde mir klar, dass ich die damalige Situation nicht mehr aushalten konnte. Ich erinnere mich an meine Ankunft in Europa. Mein Körper drängte mich, diese Situation in Ägypten zu verlassen, und ich reiste erschüttert nach Europa, die einzige Tatsache, an die ich mich gehalten habe, war, dass die Gewalt und die Unterdrückung der Freiheit unerträglich sind. Ich trug viele Fragen mit mir herum, und mir fehlte die Energie, sie zu beantworten. Ich war einfach erschöpft von all der Gewalt. Ich kam hierher (nach Europa) und versuchte zu überleben.
Inaam: "Ich bereitete mich darauf vor, Ägypten am 4. Jahrestag der Revolution zu verlassen. Ich ließ Ägypten zurück, voller Hoffnung, dass alles möglich ist. Der Tahrir-Platz hat es gezeigt, und so wird es auch sein."
Der Blick auf das, was man hinter sich gelassen hat
Die europäischen Städte sind verheißungsvolle Reiseziele, wie Amro Ali, Professor für Soziologie und Nahost-Analyst, über die Ankunft in Europa schreibt:
"(...) wo der:die neu angekommene Araber:in plötzlich (aber nicht immer) erkennt, dass die schreckliche Gewohnheit des Blicks über die Schulter - die er schmerzlich von zu Hause geerbt hat - allmählich verschwindet."
Eines bleibt aber vielleicht gleich: der sich wiederholende Blick auf das, was man hinter sich gelassen hat.
Wizza: "Jedes Mal, wenn ich nach Ägypten zurückkehre, nehme ich das Leben wieder auf, das ich 2015 verlassen habe. Ich fühle mich verwirrt, unfähig, weiterzumachen, wie andere es taten, wie andere es in Ägypten tun mussten. Als wäre die Zeit für uns stehen geblieben. Viele der Erinnerungen aus den Zeiten der Revolution wurden systematisch ausgelöscht."
Inaam: "Stimmt! Ich möchte auch verstehen, wo die Erinnerung sich aufhält; wo man suchen muss, wenn der Aufenthaltsort entweder nirgendwo ist oder sich in einen imaginären Ort verwandelt. Du und ich haben erkannt, dass unsere Gefühle uns leiten können. Ich glaube, Erinnerung ist treu; sie bewahrt sich selbst über unser eigenes Vermögen hinaus zu begreifen.“
Doch manche Kräfte wirken dagegen, wie Ibrahim meint:
"[Die Revolution] wurde aus meinem Kopf gesaugt, ich denke nicht mehr daran".
Die Erinnerung ist wie Bechamel! Wenn man den Stoff, aus dem die Erinnerung besteht, bei mittlerer Hitze rührt, wird er oft dickflüssiger. Wenn man ihn nicht genug rührt, wird er klumpig und unbeweglich. Uns wurde jedoch bewusst, dass die Erinnerung auch zu einem schweren Wäschesack werden kann, zu schwer, um ihn mit sich herumzuschleppen, unter dem Namen "Nostalgie bis zur Verzweiflung".
Der Versuch, den Fluch der ritualisierten Nostalgie zu brechen
Wizza: "Ich erinnere mich, dass ich, wenn ich in Ägypten war und über die Revolution sprechen wollte, mich mit einigen Freunden in Kairo in der Privatsphäre ihrer Häuser treffen musste, oder ich musste es zufällig mit Familienmitgliedern, denen ich vertraue, ansprechen. Einige nahmen es gut auf und betrachteten es als eine heilige Sache, andere wiederum vermieden es. Es gibt auch eine Gruppe, die dazu neigt, zu glauben, dass alles eine Fortsetzung dieses vergangenen Moments ist.
Der Drang, vergangene glorreiche Zeiten wieder aufleben zu lassen, stillt zwar einen menschlichen Durst in uns, aber die Uhr tickt weiter, und wir sind dazu bestimmt, weiter zu ticken. Allzu oft wurden wir beim Gedanken an die Zeit auf dem Tahrir-Platz von Traurigkeit überflutet, als der demokratische Wind durch das Land wehte. Nichtsdestotrotz versuchten wir, den Fluch der ritualisierten Nostalgie zu brechen, wir versuchten, uns von der feierlichen Lebendigkeit des revolutionären Moments zu befreien; dem Triumph, der Euphorie, die unsere Körper durchströmte, als angekündigt wurde, dass Präsident Hosni Mubarak zurücktreten würde.
Wizza: "Weißt du, ich glaube, diese Euphorie hat sich erst später entwickelt. Neben den Menschen, die die Revolution verherrlichten, bemerkte ich, dass meine jüngste Schwester Rana, die zu dieser Zeit fünf Jahre alt war, starke Angstzustände entwickelte, etwas, das ich von keinem meiner anderen Geschwister kannte. Das muss unter anderem daran gelegen haben, dass sie in den Nachwehen einer Revolution aufwuchs, von der sie nicht viel wusste.
Ich habe ihre Angst hautnah miterlebt, als wir ein paar Jahre älter waren. Im Jahr 2021 besuchten mich meine jüngeren Schwestern Rana und Sara, 18 und 23 Jahre alt, in meiner Wohnung in der Nähe des Kairoer Stadtzentrums, wo ich zu dieser Zeit wohnte. Wir machten einen Spaziergang von El Zamalek nach Downtown, wo sich der Al-Tahrir-Platz befindet. Etwa eine halbe Stunde vom Tahrir-Platz entfernt, in der Al Gezira Straße, wurden Sara und ich vorsichtig was wir besprachen und was wir taten. Rana andererseits schrie - das Letzte, was wir in diesem Moment brauchten. Sie schrie voller Wut und fast mit Tränen in den Augen: ‘Leben wir nicht in einem freien Land, können wir nicht sagen, was wir wollen?’, als würde sie um Hilfe bitten oder um Bestätigung für die Existenz von Meinungsfreiheit, an die sie fest glaubt. Sara und ich lachten ein wenig verzweifelt, denn wir konnten ihr unsere Angst nicht wirklich erklären. Wir taten es ab und sagten, wir könnten jetzt nicht darüber reden. In meinem Kopf dachte ich: 'Wo sollen wir anfangen? Muss ich mich mit ihr hinsetzen und ihr alles erklären, was seit 2011 passiert ist? Und will ich - diejenige, die Ägypten verlassen hat - jemanden täuschen, die keine andere Wahl hat, als hier zu bleiben? In diesem Moment begann ich besser zu verstehen, was der Ursprung ihrer Angst ist. "
Die Uneindeutigkeit der Wahrheit
Auf der Suche nach diesem Ursprung bekamen wir nicht nur Hinweise auf die Wurzeln von Ranas Angst, sondern auch auf das, was wir als Teenager der ägyptischen Revolution von 2011 vielleicht immer noch mit uns herumtragen; auf die Auswirkungen der Revolution auf uns, und weniger auf das Ergebnis. Persönliche Eigenschaften oder Unvermögen wie Energielosigkeit, Hilflosigkeit, oder Schwierigkeiten, Worte zu finden, waren Symptome des großen Knalls, der früher in unserem Leben passiert war. Ibrahim teilt die gleiche Empfindung:
"Manchmal, wenn [die Welt] so unerträglich wird, dass es schwer zu verstehen ist, hört man einfach auf, sich zu bemühen."
Auch nach der Revolution blieb das Misstrauen gegenüber verbreiteten Informationen bestehen, wie Salma sagt:
"Die Wahrheit ist zweideutig, die Wahrheit bleibt zweideutig, solange man sie nicht vor seinen Augen sieht."
Es scheint, dass ein verwirrender Grauschleier viele von uns geblendet hat, als ob eine Nebelmaschine im Spiel war. Sowohl der Nebel als auch der Mangel an den richtigen Worten zogen uns zurück in die Umlaufbahn der Revolution:
Inaam: "Du hast mich einmal angerufen: 'Lass uns unser Projekt verwirklichen, wir können sagen, was wir wollen.' Begeistert sagte ich zu. Es erschien mir wie eine neue Möglichkeit, mit einer neuen Generation in Gespräch zu kommen, die sich - genau wie wir - lebhaft an dieses Ereignis erinnert. Das Ereignis. Ähnlich wie bei dem Kinderspiel ‘kaputtes Telefon’, bei dem man seinem:r Nachbar:in schnell ein Wort ins Ohr flüstert und wartet, bis es zurückkommt. Ich war neugierig, was von der Revolution übriggeblieben ist. Was weiß diese jüngere Generation noch, was hat sie inmitten der lauten Kakophonie des Mainstreams davon gehört? Ich war selbst 14 Jahre alt und kann mich an vieles erinnern. Woran erinnern sich diejenigen, die neun waren? Nicht nur, dass die früheren Versammlungsorte komplett renoviert wurden, es sind auch viele Gesichter hinter Gittern oder hinter Grenzen. Wohin sollen wir gehen, um uns zu erinnern? Die Revolution ist wie ein leises, nachlässiges Flüstern aus der Zukunft. Wir wollten mithören, was hat sie denn noch zu sagen?"
Wizza: Da bin ich einer anderen Meinung, In’am; Ich muss sagen, dass ich zunächst nicht viel von der Idee gehalten habe, diese Recherche zu machen, weil es mir unangenehm war, an einem Projekt zu arbeiten, das mit ‘der Revolution’ zu tun hat. Vielmehr waren es immer Leute aus der Revolutions-Generation, die davon am begeistertsten waren. Z. und O., die Teil der Revolution waren, motivierten mich, weiter zu recherchieren. Z.s größte Sorge nach den Protesten war, dass niemand aus der jüngeren Generation davon wissen würde."
Wohin sollen wir gehen, um uns zu erinnern?
Die gespenstischen Spuren einer Revolution
Wir wollten die unsichtbaren Folgen der Revolution betrachten, wie ihre Auswirkungen auf uns und zwischen uns weiterleben.
Wizza: "Als ich letztes Jahr im Oktober nach Ägypten reiste, schien die Arbeit an diesem Projekt inmitten der Nachrichten aus Palästina fehl am Platz zu sein. Und es war O., der ein Gefühl der Dringlichkeit in mir weckte: 'Wizza, du musst es tun. Meine ganze Generation - die Generation der Revolution - ist verzweifelt und denkt, dass wir gescheitert sind. Mit der Frage nach den unsichtbaren Überbleibseln und Auswirkungen der Revolution von 2011 berührst du etwas Wichtiges.
Mit diesem Impuls interviewte ich Menschen in meiner Umgebung. Die Leute brachten mich mit anderen außerhalb unserer Kreise in Kontakt. Es war das Vertrauen, das uns in einem engen Netzwerk zusammenhielt. Ich befragte sieben junge Menschen. Meine Fragen drehten sich um ihre Erinnerungen, ihre affektiven Assoziationen mit der Revolution, wie sie die Zukunft sehen und ob sie Spuren der Revolution im aktuellen Geschehen finden können.
Zuerst sprach ich mit Salma, die heute 23 Jahre alt ist. Salma und ich trafen uns im Haus meiner Familie, ein Glücksfall, denn wir sind beide verwandt und wohnen im selben Dorf. Wir setzten uns aufs Bett, schlossen die Tür ab und stellten sicher, dass niemand von außen lauschen konnte. Der am weitesten von der Tür entfernte Teil des Raumes, in dem wir sitzen konnten, lag in der Nähe eines Lichtschachtes, aber sie achtete dennoch darauf, selbstbewusst und laut zu sprechen; sie schien die Situation besser einschätzen zu können als ich. Im Interview erwähnte sie, wie vorsichtig sie mit Informationen umgeht:
‘Ich muss die Tatsachen mit eigenen Augen sehen, um zu glauben, dass sie wahr sind.’
Sie ist normalerweise vorsichtig, wenn es darum geht, sich in einem Gespräch klar zu positionieren. Wenn ich mich über Leute in meiner Familie ärgere, ärgere ich mich auch, dass Salma unfähig ist, ihre Meinung deutlich zu äußern. In ihrem Kopf ist immer Raum für Zweifel, selbst an ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie beschreibt dieses Zögern:
"Einmal beklagte ich bei einem Familienmitglied die Ermordung von Mitgliedern der Muslimbruderschaft, dann brachte dieses Familienmitglied die Ermordung von Polizisten auf und sagte schlechte Dinge über die Muslimbruderschaft. Ich war dann nicht in der Lage dagegen zu argumentieren und fühlte mich verwirrt."
Enthüllte Geheimnisse
Wizza: "Ich habe viel über unsere Familie gelernt, Dinge, die ich vorher nicht wusste. Nach über zehn Jahren war es an der Zeit, diese Geheimnisse zu lüften. Ich war zum Beispiel erstaunt, dass Salma oft mit einer Freundin zu den Protesten ging und am Straßenrand wartete, bis ihre Freundin mit dem Skandieren fertig war. Im Jahr 2012, nach dem Tod eines Nachbarn, nahm sie an einer Demonstration in unserem Dorf teil.
Ich hatte ehrlich gesagt gedacht, ich sei die Person, die am meisten mit der Revolution verbunden ist! Ich dachte, ich sei die mutigste in der Familie. Ich bin ausgewandert, habe viele Regeln gebrochen und – in gewisser Weise – ein völlig anderes Leben als der Rest meiner Familie geführt. Ich glaube, ich habe mich geirrt, die Revolution inspiriert uns alle auf unterschiedliche Weise.
Salma wiederholte immer wieder: ‘Die Revolution kommt’. Sie sagte es bestimmt und gleichzeitig auf eine entspannte Art. Ich malte mir in bunten Farben aus, wie eine Revolution in unserem Dorf aussehen würde. Die Vorstellung belastete mich, ‘natürlich wird sie kommen’, bestand sie darauf. Ihre Beharrlichkeit erinnerte mich an das, was Z. mir über Hannah Arendts Theorie des Möglichkeitssinns erzählt hatte: Wenn Menschen große Veränderungen erleben, glauben sie eher, dass es wieder passieren kann."
Inaam: "Als ich mir die Interviews anhörte, spürte ich, dass das Meiste, was gesagt wurde, mir bekannt vorkam: die Aufregung im Haus, die Erwartungen der Eltern, die Verwirrung darüber, wer wer ist. Ich erinnere mich, dass ich mit einem Onkel am Telefon sprach, der sich über die Demonstranten auf dem Tahrir lustig machte: ‘(...) die Mahlzeiten, die die Demonstranten von KFC erhalten haben, müssen doch genug Motivation gewesen sein, um im Midan zu bleiben, oder?’"
Die üblichen Vereinfachungen wurden zu einer symbolischen Anspielung für etwas Anderes, etwas Bedeutungsvollerem. Kentucky Fried Chicken wurde zum Symbol für die ausländische Einmischung in Ägypten – auch Englisch zu sprechen – und die bloße Jugend; die Jungen waren schuldig, bis das Gegenteil bewiesen war.
Inaam: "Meine Mutter stürmte in mein Zimmer und fragte: 'Was wollt ihr alle? Ich will es verstehen', als ob ich und wir und ihr jetzt ein und dasselbe wären. Ich habe ein komisches Gefühl im Magen, wenn ich darüber spreche.
Wizza: "Ja, ja! Ich habe es auch mit dem ganzen Körper gespürt! In gewisser Weise habe ich es noch einmal erlebt. Mein Gespräch mit Ibrahim war besonders schmerzhaft. Als ich Ibrahim, der jetzt 25 Jahre alt ist, von der Recherche erzählte, war er so glücklich. Ich war überrascht, da er mir eher zynisch erschien. Wir trafen uns in einer Wohnung, die ich in Kairo bewohnte. Nach dreißig Minuten wurde das Gespräch trostlos. Seine Traurigkeit und sein Zynismus spiegelten etwas von der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation Ägyptens wider."
Wenn Menschen getötet werden, ist es nicht wie in Filmen, [die Kamera] zoomt nicht auf ihre Gesichter. Sie fallen einfach auf die Seite.
Die Revolution auf einem Kreis festhalten
Wizza: "Ich habe gemerkt, dass die Leute, wenn ich von der Revolution spreche, nur an das Jahr 2011 denken, was normalerweise eine Blockade für unser Gespräch darstellt. Ich musste dann erklären, dass ich auch die Ereignisse nach 2011 meine. Erst dann hat Ibrahim angefangen, mehr zu sagen. Er ist ein Künstler aus einer mittelständischen Familie, begabt mit der Fähigkeit, Dinge mit seinen Worten zu visualisieren, ich konnte seinen Schmerz vor mir sehen. Er erzählte:
‘Wenn Menschen getötet werden, ist es nicht wie in Filmen, [die Kamera] zoomt nicht auf ihre Gesichter. Sie fallen einfach auf die Seite.‘
Mein Kopf begann zu brummen, der Satz: 'Ich will so nicht sterben!' schoss mir durch den Kopf. Ich hatte Angst, mein Körper schmerzte. Die Angst nahm überhand, und es war, als ob sich mit seinen Worten die Mauern auflösten und die Erinnerungen und Bilder eines anderen Aufstandes im Hintergrund sichtbar wurden. Ich war allein in einer Wohnung in Kairo, und ich dachte: Oh mein Gott, ich könnte angegriffen werden, sollte es wieder passieren. Ich spürte ein Gefühl der Unsicherheit, und obwohl ich die derzeitige Situation in Ägypten zutiefst verachte, hatte ich Angst vor dem Schaden, den es anrichten würde, sie zu ändern!"
Inaam: "Wow, das tut mir leid! Ich hatte eine ähnliche Erkenntnis wie du. Wir waren nostalgisch. In mehrfacher Hinsicht hatten wir diesen vergangenen Moment romantisiert. Aber es war nicht nur das poetische Festhalten an einem vergangenen Moment, das uns in seinen Bann zog, sondern es gab auch reale, substanzielle, intuitive Sorgen um unsere eigene Sicherheit. Ein Wort, das auf den Straßen unserer Exil-Stadt zu hören war – ein Geräusch, das mich zu sehr an meine Heimat erinnerte – und mein Herz raste und ich rannte zum nächstgelegenen Ausgang. Wir waren zwar ein Mittelmeer weit weg, aber wir zitterten vor den Nachrichten über das Verschwinden, die Vertreibung, Inhaftierung, Bedrohung von Familie und Freund:innen. All diese erschreckenden Dinge lassen sich auf das Missverständnis eines Wortes, einer Geste oder eines Fotos zurückführen, das am falschen Ort und zur falschen Zeit aufgenommen wird. Oh, wie sehr wünschte ich, ich könnte mit dir vernünftig reden, meine Liebe, mein Ägypten, auch wenn du mir mit Misstrauen begegnest."
Sprachlos, immer noch
Wizza: "Du hast meine Gefühle eingefangen; manchmal war ich tagelang wie gelähmt. Einmal schnitt ich das Interview mit Ibrahim neben meiner:m Partner:in, der:die US-Amerikaner:in ist, und ich musste die Arbeit unterbrechen, weil ich zu unruhig wurde. ‘Wir müssen reden’, sagte ich. Sie:er sagt mir oft, ich würde mich verstecken. Früher habe ich immer versucht, zu erklären, was mich als Ägypterin im Exil geprägt hat. Die Ereignisse seit 2011 sind ein großer Teil davon. Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, kommt mir die Erinnerung wie eine Explosion vor. Dennoch waren mir die Auswirkungen auf mich nicht klar. Ich hielt meine:n Freund:in fest und drängte sie:ihn, Ibrahim zuzuhören und sagte: 'Schau, ich bin immer noch sprachlos darüber, aber diese Person sagt etwas, das dir helfen kann, mich besser zu verstehen.' "
Manchmal werden wir angesichts der neuen Umstände sprachlos. Das Schweigen ist besonders stumm, nachdem wir zuvor, bei einer Revolution, den Mund voller Worte hatten. Ibrahim bringt dies auf den Punkt, indem er sich an eine Aussage erinnert, die er von einem Freund gehört hat:
"Alle diese unbekümmerten Tiere sprechen jetzt über Politik, sogar du!"
Leblos, geistlos, aber laut
Die Revolution ist eine Zeit, in der Vulkane der Sprache ausbrechen.
Wie der Nil, der den Schlamm aus dem Süden mit sich führt, zu einem Lotus erblüht und sich ins Meer ergießt, strömte der Aufstand. Die Sprache floss, wir versammelten uns wie wilde Wesen, um zu trinken, unsere lispelnden Zungen schwangen mit Worten, mit Schimpfwörtern, mit melodischen Gesängen. Die Revolution ist eine Zeit, in der Vulkane der Sprache ausbrechen. Jeder spricht mit jedem, mit sich selbst, mit der Stadt. Haytham Al-Wardani, der in Berlin lebende Schriftsteller, erforscht in seinem unübersetzten Buch Jackals and the lost letters, when animals speak in fables:
In ‘Kalila Wa Dimna’ sprachen die Tiere zum ersten Mal fließend auf Arabisch, und ihre Gespräche fanden vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Konflikte des 19. Jahrhunderts statt, wobei die arabische Sprache eine der entscheidenden Fronten darstellte.
Auch wir haben den politischen Diskurs während der Revolution, einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, entdeckt:
Inaam: "Wenn sich dunkle Zeiten nähern und wir die Dringlichkeit spüren, eine Lösung zu finden, sagen wir - die Ägypter:innen -: 'Sogar leblose Steine würden sprechen!' Ich glaube, deshalb hat sich mein Wortschatz in dieser Zeit vergrößert. Ich erinnere mich, dass ich mir Wörter wie: ‘Karikaturistisch, deep state, ancien régime, Ultimatum, Willkür, technokratisch’ angeeignet habe. Jetzt ist mir klar, dass wir als unterschiedliche Generationen miteinander verbunden sind. Musik, Gedichte und lebendige Erinnerungen verbinden uns. Überlieferungen und Gefühle strecken sich in Synapsen zu einer vielschichtigen Gegenwart aus, die wir alle teilen. Wir graben aus, Fragen überfluten uns, aber die Fragen gehen uns nie aus".
Die Macht der Emotionen
Gefühle hinterlassen tatsächlich Spuren. Indem wir den Gefühlen folgen und sie nachvollziehen, erhielten wir Informationen über die Zukunft:
Wizza: "Selbst seltsame Gefühle können ein Werkzeug sein, um mutige Dinge zu tun! Als ich Ahmad in einer Buchhandlung am Ostufer des Nils traf, hörte ich, wie er über die Teilnahme an einer Demonstration sprach. Beharrlich fragte er eine andere Person, die sich in den Bücherregalen umschaute, ob sie ihm sagen könnte, ‘was heute auf der Straße passiert ist’. Alarmiert lehnte die Person ab, daran beteiligt zu sein, aber ich war gespannt, mehr zu erfahren. Später, nach ein paar weiteren Besuchen in seiner Buchhandlung, lud ich Ahmad für ein Interview nach Hause ein. Wir saßen auf dem Sofa am Balkon und schauten auf den Nil. Es war ein staubiger Tag und ich bereitete mich darauf vor, Ägypten zu verlassen. Ich hielt es für riskant, jemanden zu interviewen, den ich nicht so gut kannte. Ich hoffte, dass ich Ägypten in Sicherheit verlassen würde.
Ahmad hält die Generation der Revolution für hoffnungslos. Sein Pessimismus ist jedoch sein Antrieb. Jemandem zuzuhören, der negativ über die Revolution spricht, war eine Herausforderung, aber ich konnte mich in seine Lage versetzen. Und seine Verzweiflung als Reaktion auf eine Revolution zu akzeptieren, die nicht lange dauerte, ist auch in Ordnung. 'Ich werde es sehr bedauern, wenn ich eine weitere Chance verpasse, Teil des Wandels zu sein', spielte er auf seine Befürchtung an, etwas zu verpassen, was seine Neugier auf den minimalen politischen Spielraum in Ägyptens verstopftem politischen Klima weckte."
"Die Pilze haben angefangen zu wachsen, morgen erben wir die Erde" - Tayf von Mashrou' Leila
Zu Beginn dieses Projekts trugen wir unsere Gerätschaften zusammen, sortierten unsere Gedanken, fragten hier und da. Uns wurde klar, dass wir mittlerweile – nach acht Jahren der Migration – einen Schatz haben; ein Netzwerk von Menschen, die uns mit Studios, Mikrofonen, Schnitt, Kunst, Theorie, und Wörtern unterstützen und uns sogar ihre Stimmen schenkten. Für sie alle sind wir zutiefst dankbar. Wahrhaft, das Ich und das Du und das Wir sind manchmal ein und dasselbe.
Vielleicht verdecken die Umwälzungen der Revolutionen den langsamen, aber stetigen Fluss all der verzweigten Bäche, die zum Meer fließen. Dennoch ist das Wasser dazu bestimmt, sich im Mündungsgebiet zu verlangsamen. Hinter dieser Kulisse warten andere Organismen Tag und Nacht, um sich einen Platz unter den Gezeiten der Wolken zu sichern. Nehmen wir Sylvia Plath's Mushrooms, wie sie sich aufrichten, wie sie aus dem Boden schießen, wie aus dem Nichts. Niemand sagt ihr Auftauchen voraus, bevor sie aus den Ritzen und Spalten hervorkommen.
Auf einer Veranstaltung, die von der ägyptischen Journalistin Lina Attalla geleitet wurde, stellte jemand die Frage über Ägypten und Palästina, und was wir tun sollten. Lina sagte:
"Niemand weiß es, und wir wussten nie, was wir während der Revolution taten und was wir tun sollten. Aber wir haben etwas getan. Und es ist immer gut, etwas zu tun. Dem zu folgen, wohin dich dein Körper führt."
Wizza: "In diesem Sinne bin ich froh, dass ich Rana, meine Schwester, die viel Unruhe spürt, interviewt habe, auch wenn das Gespräch sehr kurz war. Nachdem ich ihr alle meine Fragen gestellt hatte, fügte sie hinzu:
'Weißt du was? Ich denke sehr oft über die gesellschaftliche Spaltung nach. Ich sorge mich täglich darum. Ich habe nur nie den Zusammenhang zwischen meinen Ängsten und der Revolution gesehen."
Beide Autor*innen dieses Beitrags schreiben unter Pseudonym.
Wenn Sie mehr Geschichten über die junge Generation Ägyptens und den Einfluss der Revolution auf sie hören wollen, finden Sie hier zwei Podcastfolgen der Autor*innen auf Englisch und Arabisch.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de