Olympische Spiele im Sommer 2024, in Paris. Das große Kino beginnt. Sportler*innen aus aller Welt kommen zusammen, um sich mit den Besten zu messen.
Sponsor*innen, tolle Sportler*innen, viel TV, die Welt reist an, die Welt schaut zu. Große Freude. Die Spiele sind eröffnet. Wettkampf um Medaillen, nach zwei Wochen geht das Feuer aus und darauf folgen die Paralympics und die Special Olympics Weltspiele im kommenden Jahr in Turin. Die Paralympics, Special Olympics? Was ist das eigentlich? Hat man vielleicht gehört, kurz in den Abendnachrichten.
Die Paralympics, Special Olympics? Was ist das eigentlich? Hat man vielleicht gehört, kurz in den Abendnachrichten.
Irgendwas mit #Inklusion, aber das ist immer gut. Gerade im Sport. So inspirierend.
Bei den Paralympics sind es körperbehinderte Sportler*innen, meistens gesponsert, zum Beispiel von „Ottobock“. Diese stellen hochwertige Prothesen her. Bei den sogenannten „Paras“ kann man sehen, was „Behinderte“ doch so können. Toll!
Es gab vor Jahren einmal eine Umfrage vor den paralympischen Spielen: „Würden Sie einen behinderten Menschen daten?“
Antwort: „Nein!“
Nach den Paralympics dieselbe Frage: „Würden Sie einen behinderten Menschen daten?“ Mehrere Menschen konnten es sich vorstellen und antworteten: „ja klar, warum nicht.“
Großes Kino! Ja?
Die Paralympischen Spiele werden erst seit kurzem bekannter. Aber trotzdem: Spielübertragung von 9 Uhr morgens im TV? Eher selten, wochenlang in den News nonstop? Nein. Lohnt sich kaum.
Sponsoren? Wenn man googelt, wirbt #Addidas, #Ottobock vorneweg. Aber danach wird es dünner. Es mag sie natürlich geben, die namhaften Sponsoren, aber prominent im TV? Eher nicht!
Aber wir brauchen Sichtbarkeit, wenn es um den paralympischen Sport geht. Ob mit oder ohne Behinderung: Hier geht es um Leistungssport, um weltklassige Athlet*innen die Sponsoring, Aufmerksamkeit und Berichterstattung verdient haben.
Die Paralympics schaffen eine Sichtbarkeit. Sie geben behinderten Menschen endlich die Chance gesehen zu werden.
Willkommen im Ableismus!
Wenn berichtet wird, wird von inspirierenden Sportler*innen und ihren „großartigen“ Leistungen berichtet, die Krankenakte natürlich immer live mit dabei. Ob die Sportler*innen wollen oder nicht, welche Krankheiten sie haben, welches Leid sie ertrugen, wird kommentiert. Trotz „Handicap“ hier live in Paris, Applaus! So inspirierend … „Inspiration Porn“ at its best.
Ja, die Paralympics sind zweifellos inspirierend für das Publikum, die Medien, Nachwuchssportler*innen – aber aufgrund ihrer sportlichen Leistung, nicht weil sie es „trotz“ irgendetwas geschafft haben.
Immer noch heftet unsere Gesellschaft dem Thema „Behinderung“ ein gewisses Unbehagen und Mitleid an, die Vorstellung, diese Menschen wären anders.
Lasst uns diese Paralympics zum Anlass nehmen, hier den eigenen Ableismus zu hinterfragen.
Stopp #Euphemismus, sag das B Wort!
Plötzlich werden behinderte Menschen sichtbar, flimmern durchs Wohnzimmer.
Menschen, die man besser nicht „Menschen mit Behinderung“ nennt? „Handicap“, „besondere Bedürfnisse“, „besondere Begabung“ ist das besser? Nein! Habt keine Angst vor dem Wort „Behinderung“. Denn es ist nichts Schlechtes, es ist keine Beleidigung.
„Handicap“ findet auf dem Golfplatz statt. Kann man nicht verbessern, muss man auch nicht, will man auch nicht verbessern. Nein, behinderte Menschen haben keine besonderen Bedürfnisse, sind keine Superheld*innen, sind nicht besonders inspirierend. Behinderte Sportler*innen sind einfach Sportler*innen. Sie gewinnen, sie verlieren, sie dopen oder nicht.
Ableismus ist ein Begriff, der im deutschen Sprachgebrauch noch fast gänzlich unbekannt. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, kennt jede*r. Was ist aber Ableismus?
Ableismus betont die Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen und stereotypen Zuweisungen die Menschen wegen ihrer Behinderung erfahren. Es gibt eine normative Vorstellung davon, was Menschen leisten oder können müssen. Wer von dieser Norm abweicht, wird als behindert gekennzeichnet und als minderwertig wahrgenommen. [1]
Behinderte Menschen wirken während der Spiele so „empowernd“, so „inspirierend“. Sie zeigen, dass man alles schaffen kann.
Trotz! Ja man hat es geschafft: Trotz Diskriminierung, trotz Ausgrenzung, trotz Ableismus, trotz weniger oder gar keinen Sponsoren, trotz, trotz, trotz.
Monica Lierhaus, eine Journalistin mit Behinderung, darf moderieren, aber bitte nur, wenn es um die Paralympics geht.
Die WM/ EM kommentieren? Als behinderte Frau, als behinderte Journalist*in? Nein. Da geht es nicht um behinderte Menschen. Nach den Paralympics ist vor den Special Olympics. Jede*r seine Kategorie.
Die Darstellung behinderter Sportler*innen bei den Wettspielen ist richtig und wichtig, aber stellt natürlich nicht die Realität behinderter Menschen im Alltag dar.
Auch im alltäglichen Sport wird diskriminiert. Die meisten Menschen mit Behinderungen haben keinen Zugang zu Sport. Sportrollstühle werden nicht erstattet, Vereine bieten selten Möglichkeiten, die inklusiv oder barrierefrei sind. Oder noch immer ist es vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten schwierig, Fuß in Sportverbänden zu fassen.
Auf kommunaler Ebene, im Breitensport gibt es mit Glück den „Behindertensport“ aber als Mensch mit Trisomie 21 im Fußballverein ums Eck? Nein. Dafür ist man doch nicht ausgebildet als Trainer*in. Oder: Dafür ist die Gesellschaft noch nicht bereit. Wer entscheidet eigentlich darüber, ab wann Menschenrechte umgesetzt werden?
Das Problem ist nicht die Behinderung, sondern es sind die Barrieren, die unsere Gesellschaft weiter stellt.
Noch immer kämpfen Eltern behinderter Kinder um einen Regelschulplatz, behinderte Menschen kämpfen um Assistenz, politische Teilhabe, eine barrierefreie Wohnung, um Geld - als würde man etwas „extra“ wollen. Nein, es geht nicht um etwas „extra“, es geht um tägliche Teilhabe.
Wir wissen kaum was von behinderten Menschen, denen Gewalt passiert. Behinderte Frauen sind am meisten von Gewalt betroffen. Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung sind immer noch gängige Praxis über die keiner spricht.
Barrieren überwiegen Barrierefreiheit wohin man sieht. Der Privatsektor ist immer noch nicht gesetzlich verpflichtet, Barrierefreiheit umzusetzen.
Menschen mit Behinderungen werden weiterhin in Sonderwelten abgeschottet. Behindertenwerkstätten, Einrichtungen: Nach 1945 haben wir eine perfekte exklusive Gesellschaft aufgebaut. Bitte nicht stören, du kommst hier nicht rein- zu deinem Schutz. Aber Schutz vor wem?
Wo sind sie denn, die behinderten Menschen? Behinderte Menschen im Alltag kennt man kaum. Ihre Stories auch nicht.
Behinderte Menschen sind unsichtbar mit oder ohne sichtbare Behinderung: Nicht im Film, nicht im alltäglichen Sport, nicht in der Politik, nicht im öffentlichen Leben.
Falls ja sind behinderte Menschen allenfalls „Pilotprojekte“.
Der Sport kann ein Türöffner sein, für eine inklusive Gesellschaft im Arbeitsbereich, Bildung, Frauenrechte.
Wir müssen den Landessport finanziell fördern. Wir müssen Gelder freigeben, wenn dieser inklusiv ist, wenn behinderte Menschen dabei sind und auch in Leitungsfunktionen sind. Die Paralympics allein reichen nicht.
Es gibt schon erste Anzeichen des gemeinsamen Sports. Bei den Paralympics spielen schon behinderte und nichtbehinderte Sportler*innen gemeinsam gegen äquivalente Teams. Ein Anfang. Sichtbarkeit ist da, aber ohne Separation.
Die Spiele von Paris können wieder einmal ein Anfang sein.
Statt die Athlet*innen übertrieben als Held*innen zu feiern, sollten wir die Spiele als Moment nutzen, um über Inklusion in unserer Gesellschaft zu sprechen.
Was würde Heinrich Böll sagen? Was machen wir nun?
Er würde sagen: Wir müssen die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen, da beißt eine Maus keinen Faden ab. Das ist so.
Diese Konvention ist ein Menschenrecht.
Die #UNBRK fordert selbstbestimmtes Leben auf allen Ebenen. Behinderte Menschen haben dasselbe Recht auf qualitative Bildung, ohne Wenn und Aber.
Behinderte Menschen haben das Recht auf Arbeit und müssen davon auch leben können (ohne Sonderwelten).
Behinderte Menschen haben das Recht auf barrierefreie (Nicht nur rollstuhlgerechte!) Mobilität, Reisen wann die Person es will, nicht wann der Mobilitätsanbieter es zeitlich einrichten kann.
Unsere Gesellschaft braucht universelles Design: barrierefreie Produkte, barrierefreies Web, barrierefreies Wohnen.
Behinderte Menschen sind Kund*innen, Gäste, Arbeitnehmer*innen, Kolleg*innen auch in der Heinrich-Böll-Stiftung.
Ganz praktisch gesprochen:
Wir tagen im sogenannten Inklusionscafé? Dann aber nur mit der Garantie, dass die Angestellten auch den Mindestlohn bekommen.
Wir schreiben Praktika aus? Dann aber ohne den Passus „bei gleicher Eignung bevorzugt“, sondern einen willkommen heißenden Text. Keinen Ableistischen.
Die Räume sind barrierefrei und nicht nur rollstuhlgerecht.
Wir haben nicht nur eine Person für „Behindertenfragen“, sondern wir haben Ansprechpartnerinnen, die zur UNBRK ansprechbar sind.
#StopFunding #Ableism ist eine Forderung des EU-Parlaments. Das geht auch bei uns
Nachdem wir nun alle so inspiriert aus der Sommerpause zurückgekommen sind, steht dem nun nichts mehr im Wege.
#StopAbleism muss auch bei uns Usus sein. Die Rampe ist super. Wenn wir in unseren Texten aber behinderte Menschen für „so inspirierend“ halten, reißen wir die Rampe wieder ein.
Lasst uns gemeinsam Bewusstsein, Strukturen und Sichtbarkeit dafür schaffen.
[1] Quelle: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/ableismus#:~:text=Ableismus%20betont%20die%20Ungleichbehandlung%2C%20Grenzüberschreitungen,gekennzeichnet%20und%20als%20minderwertig%20wahrgenommen.)
Dieser Artikel erschien zuerst hier: fr.boell.org