Beim 79. Neuen Montagskreis1 gab PD Dr. Rolf Frankenberger, Politikwissenschaftler und Leiter des Instituts für Rechtsextremismusforschung Einblicke in die Forschungsergebnisse und diskutierte im Gespräch mit Michael Zeiß und dem zahlreichen Publikum die zunehmende Verrohung der Gesellschaft. Im Fokus standen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien. Petra Bewer, Mitinitiatorin des NMK, betonte die Notwendigkeit solcher Debatten, um die Demokratie zu schützen und Gegenstrategien zu entwickeln. Annette Goerlich nannte Angebote, mit der die Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg zu einer informierten und lebendigen Zivilgesellschaft beitragen möchte – getreu Heinrich Böll, wonach nur relevant ist, wer sich einmischt.
Footnotes
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Mit dem Neuen Montagskreis (NMK) wird an die Tradition des Stuttgarter Montagskreises angeknüpft, der in den 1960er- und 1970er-Jahren aktuelle politische Themen kontrovers diskutierte. Er ist offen für alle Interessierten, die bereit und neugierig sind, Alternativen zur aktuellen Politik zu diskutieren.
Wir stehen vor der größten Herausforderung unserer Demokratie seit dem 2. Weltkrieg
Begrüßung von Petra Bewer, Mitinitiatorin des Neuen Montagskreises
Begründet 2006 von Peter Conradi (1932 - 2016)
Dies ist der 79. NMK, das sind 79 Abende, an denen wir zu politischen Diskussionen mit unterschiedlichen Themen einladen.
Eigentlich wollen wir nicht diskutieren müssen, warum sich Wut, Hass, Gewalt – auch gegen Demokratievertreter - sich immer stärker in unserer Gesellschaft ausbreiten.
Warum Antisemitismus wieder - so offen – zunimmt.
Sich Verschwörungstheorien in den sozialen Netzwerken ungehemmt ausbreiten.
Warum Rechtsextremismus, warum Hetze, Diskriminierungen von Minderheiten, Rassismus zunehmen. Warum die Gesellschaft sich immer mehr spaltet.
Wir hätten gewünscht, dass der kürzlich vom früheren Bundesminister Gerhart Baum geäußerten Satz niemals hätte gesagt werden müssen:
Wir stehen vor der größten Herausforderung unserer Demokratie seit dem 2. Weltkrieg.
Wir wollten kein Hanau, kein Solingen, kein NSU erleben.
.... und auch nicht solche Wahlergebnisse wie in diesem Herbst.
Aber wir müssen uns den Realitäten stellen, und so ist es gut und wichtig, dass es das Institut für Rechtsextremismusforschung gibt:
Es wurde auf Empfehlung des zweiten Untersuchungsausschusses des Landtags Baden-Württemberg im Nachgang seiner Untersuchungen zum Rechtsterror des NSU im Mai 2023 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Uni Tübingen eingerichtet.
Es beschäftigt sich mit den Gefahren für die Demokratie, die aus dem Rechtsextremismus erwachsen.
„Der Rechtsextremismus ist die größte Gefahr der Demokratie, weil dieser in der deutschen Gesellschaft am stärksten verankert ist“ – so die Wissenschaftsministerin Petra Olschowski bei der Vorstellung dieser Einrichtung im Juli 2024.
Dieses Institut ist bundesweit die erste fest institutionalisierte Einrichtung seiner Art - und wir freuen uns, dass dessen Geschäftsführer, der Politikwissenschaftler Rolf Frankenberger, über die Arbeit berichtet und mit uns diskutiert!
Heute begrüßt auch Annette Goerlich für die Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg. Denn dies ist eine Premiere: Es ist das erste Mal, dass der NMK eine Kooperation eingeht.
Ein Schwerpunkt der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg
Begrüßung von Annette Goerlich
Wir freuen uns sehr über diese Kooperation, weil das Thema ein Schwerpunkt der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg ist.
2021 beauftragten wir die Studie Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, die wir im Land zur Diskussion stellten.
Anfang 2023 veröffentlichten wir das Dossier Quellen des „Querdenkertums. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, mit laufend aktuellen Artikeln.
Derzeit läuft eine Studie zu Hass, Hetze und Übergriffe gegen grüne Funktionsträger*innen in Baden-Württemberg.
Daneben bieten wir in zahlreichen Workshops online wie vor Ort landesweit in Baden-Württemberg Schulungen wie „Gegenargument am Mittagstisch“, „Haltung zeigen! Argumentieren gegen antifeministische Äußerungen“, Fakes erkennen und viele andere mehr.
Daher haben wir die Einrichtung des Instituts für Rechtsextremismusforschung an der Uni Tübingen mit großem Interesse verfolgt und freuen uns, mit dem Beitrag von Rolf Frankenberger an den Früchten der dort geleisteten Arbeit teilzuhaben.
Für die Möglichkeit der Kooperation mit dem NMK danken wir sehr herzlich namentlich Petra Bewer, und großen Respekt möchten wir zum Ausdruck bringen gegenüber allen ehrenamtlich Aktiven, die seit Jahren mit dem NMK lebendige Debatten zu aktuellen Themen ermöglichen.
Was können wir tun?
Abschluss Petra Bewer
Ich zitiere den Rechtswissenschaftler Christoph Möllers:
„Warum leben wir in einer Demokratie? Aus guten Gründen oder aus schlechter Gewohnheit? Den Gegnern der Demokratie schulden wir Gründe für die Demokratie, keine moralische Empörung“.
Gute Gründe für Demokratie brauchen eine stärkere Hinwendung zum Zuhören, zum Gegenüber, verbunden mit der Fähigkeit, das Ich als Teil einer Gemeinschaft zu fassen.
Nochmal Möllers: „Es gibt keine individuelle Freiheit ohne Gemeinschaft. Es gibt keinen Primat der individuellen vor der kollektiven Freiheit
Wir alle sind angesprochen, auch im Alltags-Diskurs möglichst klar dagegen zu halten, wenn etwas gesagt oder verbreitet wird, das nicht den demokratischen Grundsätzen entspricht und somit eine Gefahr ist.
Das ist gewiss nicht einfach – und man braucht Argumente und Fakten: dazu sollen solche Debatten auch beitragen.
Ausbreitung der extremen Rechten und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die extrem Rechte: Rural, Völkisch, National?
PD Dr. Rolf Frankenberger, Universität Tübingen, Institut für Rechtsextremismusforschung
Die wichtigsten Aspekte sind
- Wachsende Spaltung: Die größte Spaltung in der Gesellschaft zeigt sich zwischen städtischem und ländlichem Leben. Dieser Gegensatz ersetzt klassische Konflikte wie Arbeit gegen Kapital. Die extreme Rechte, besonders die AfD, nutzt diese Spaltung.
- Völkischer Nationalismus: Rechte Bewegungen deuten den Gegensatz zwischen Stadt und Land völkisch und nationalistisch. Sie verklären das "Volk" als ideale, überhöhte Gemeinschaft, die von der modernen Realität abgekoppelt ist.
- Faschistische Strategien: Faschistische Ideologien greifen die Themen Niedergang, Demütigung und Opferrolle auf. Sie propagieren Einheit, Stärke und Reinheit und grenzen bewusst Gruppen aus, die als fremd oder anders gelten.
Wachsende Spaltung zwischen Stadt und Land
Die größte gesellschaftliche Spaltung besteht zwischen „Urban“ und „Rural“, basierend auf Lebensweisen, Einstellungen und Produktionsformen. Die Wahl in Bundesländern wie Brandenburg, Thüringen und Sachsen zeigt diese Spaltung deutlich - die AfD hat vor allem in ländlichen Regionen besonders stark abgeschnitten, während sie in den städtischen Gebieten oft weniger erfolgreich war. Die ländliche Bevölkerung fühlt sich häufiger abgehängt und sieht die urbanen Zentren als privilegiert an. Diese unterschiedlichen Lebensrealitäten und Einstellungen führen zu einer wachsenden politischen Kluft. Während in Städten progressive und weltoffene Ansichten dominieren, finden rechtspopulistische und nationalistische Ideen auf dem Land mehr Zustimmung. Diese Unterschiede spiegeln sich deutlich in den Wahlergebnissen wider.
Völkischer Nationalismus
Der Vortrag betont, dass der völkische Nationalismus das „Volk“ als eine idealisierte, metaphysische Einheit sieht. Ein Beispiel hierfür ist die Rückbesinnung auf das ländliche Leben, das als Gegenmodell zur Urbanisierung und Industrialisierung verklärt wird. Menschen auf dem Land werden ermutigt, ihre Identität durch die Verbindung mit ihrer „heimatlichen Landschaft“ zu finden, anstatt sich den Problemen der Stadt zu stellen.
Faschistische Strategien der Rechten
Rolf Frankenberger beschreibt Faschismus als eine Ideologie, die auf dem Kult der Einheit, Stärke und Reinheit beruht. Ein Beispiel aus der Präsentation ist die Definition des amerikanischen Historikers Robert Paxton (2004), die faschistisches Verhalten als obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang einer Gemeinschaft beschreibt. Dies führt dann zu einer Abwehrhaltung gegenüber Gruppen, die als fremd oder anders markiert werden.