„Die Geschlechter denen, die drin wohnen“

Interview

Seit dem 1.11.2024 gilt das neue Selbstbestimmungsgesetz. Eine Namens- und Personenstandsänderung kann nun nach einfacher Anmeldung erfolgen. Das ist gut. Doch es gibt Probleme, sagt Luce deLire.

Von Lena Bauer

Lesedauer: 8 Minuten

Lena Bauer: Ihr habt am 1.11.2024 eine Militärparade vor dem Brandenburger Tor organisiert. Warum? 

Luce DeLire: Um mit preußischen Militäruniformen und Ritterrüstungen und anderen Kostümen gegen die Militärgeschlechtsregelung des Selbstbestimmungsgesetzes des Bundes zu demonstrieren. Das neue Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) sieht nämlich vor, dass im Spannungs- oder Verteidigungsfall die Änderung eines „männlichen“ Namens- und Geschlechtseintrages ausgesetzt beziehungsweise rückgängig gemacht werden kann. Insbesondere in Bezug auf den Dienst an der Waffe hält die Bundesregierung damit an einem Verständnis vom biologischen Geschlecht fest. 

 

Bevor wir zu den anderen problematischen Ausnahmeregelungen des neuen Gesetzes kommen: Warum ist ein neues Gesetz, nämlich das Selbstbestimmungsgesetz, überhaupt nötig? Warum wird das Transsexuellengesetz (TSG) abgeschafft?

Das TSG war in Kraft von 1981 bis 2024 und wird jetzt abgelöst durch das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz. Das TSG war unter anderem eine Reaktion auf eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von 1978, die verlangte, dass die Bundesregierung sogenannten „Transsexuelle“ die Möglichkeit geben muss, ihren Namens- und Geschlechtseintrag ändern zu können. Aktivistische Bestrebungen in den 1960 und 1970ern hatten in die Richtung gepusht. 

Das TSG war ein stark pathologisierendes Gesetz. Betroffene wurden gezwungen, sich als unheilbar krank zu labeln oder labeln zu lassen. 

Inwiefern?

In der Originalversion von 1981 erforderte die Änderung von Namens- und Geschlechtseintrag Sterilisation, Scheidung und eine „deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts“ durch operative Maßnahmen. Es war ein diskriminierendes und gewaltsames Gesetz. Zwischen 2005 und 2011 hat das Bundesverfassungsgericht dann in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass fast alle Aspekte des TSG verfassungswidrig sind – mit Ausnahme der Begutachtungspflicht. Diese meint den Zwang, zwei psychiatrische Gutachten erstellen zu lassen. Die Betroffenen mussten selbst dafür zahlen, dass Psychiater*innen sie teilweise entmenschlichenden Prozeduren unterzogen, sie zum Beispiel Hampelmann hüpfen ließen, ihre Unterwäsche geprüft wurde, sie über Masturbationsgewohnheiten Auskunft geben sollten. Das alles, um letztlich festzustellen, dass sie unheilbar krank seien und eine gerichtliche Instanz feststellt, dass diese Person ihren Namens- und Geschlechtseintrag ändern darf. Zuletzt hat das die Betroffenen zwischen 1500 bis 2000 € gekostet. Damit verstieß das TSG laut Bundesverfassungsgericht gegen Art. 1 und 2 GG. Art. 2 GG definiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit und Art. 1 GG die Menschenwürde. Das heißt, das TSG war nicht einfach nur irgendwie eine unglückliche Nebensache, sondern hat gegen die deutsche demokratische Grundordnung verletzt. Trotzdem ist zwischen 2011 und 2021 erstmal nichts passiert. Die große Koalition hat sich nicht darum gekümmert. Dann, ab 2021, mit der Ampelregierung, gab es auf Initiative von Grüne/Bündnis90 und FDP neue Gesetzentwürfe.

Das alte „Transsexuellengesetz“ (TSG) war zwischen 1981 und 2024 in Kraft und wird jetzt durch das neue Selbstbestimmungsgesetz abgelöst. In den 1980er Jahren galt das Gesetz als fortschrittlich, da erstmals eine Geschlechtsänderung möglich wurde. Doch das TSG reproduzierte die pathologisierende Vorstellung, dass Transsein eine psychische Störung sei. Bis 2011 hat das Gesetz Zwangssterilisationen vorgesehen. Schätzungen des Bundesverbandes Trans* zufolge sind mehr als 10.000 Menschen in Deutschland zwangsweise sterilisiert worden. 

Was ändert sich jetzt mit dem neuen Gesetz? 

Natürlich ist der große Durchbruch die Entpathologisierung der Änderung des Namens- und Geschlechtseintrag. Das heißt ab dem 01.11.2024 kann jede Person in Deutschland mit einfacher Erklärung vor dem Standesamt ihren Namens- und Geschlechtseintrag ändern lassen. Und das ohne dabei Gutachten beizubringen, ohne sich offiziell pathologisieren zu lassen etc. Diese Gutachten aus dem Transsexuellengesetz haben große Klassenunterschiede zementiert, da sie aus eigener Tasche gezahlt werden mussten. So verweigerten sie Personen, die das nicht zahlen konnten, im Endeffekt den Zugang. Dieser Aspekt fällt jetzt weg. 

Nach der Veröffentlichung des Gesetzentwurfs im Frühjahr 2024 diskutierten Medien und Politiker*innen besonders den Paragraphen zum Hausrecht. Was hat es damit auf sich? 

Der besagt, es sei abzuwägen zwischen dem sogenannten Hausrecht, also dem Recht auf die Verfügung über das Privateigentum auf der einen Seite und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, also dem Antidiskriminierungsrecht, auf der anderen Seite. Der Erläuterungsteil zum Selbstbestimmungsgesetz ist sehr ausführlich in diesem Punkt und diskutiert unter anderem Frauensaunen, Frauenparkplätze, Sportvereine, Justizvollzugsanstalten. Die Ansage ist in jedem Fall: Menschen dürfen nicht aus Räumen ausgeschlossen werden nur auf Grundlage ihres Namens- und Geschlechtseintrags, denn das würde gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verstoßen. 

Trotzdem werden Leute ausgeschlossen. Zum Beispiel – das ist explizit so vermerkt – wenn jene, die sich „üblicherweise“ in diesen Räumen aufhalten, Angst haben. Wenn also in einer Frauensauna eine cis Frau vor einer trans Frau oder einer Person, die sie für eine trans Frau hält, Angst hat, dann kann es rechtens sein, dieser Person den Zutritt zu verwehren. Wie genau diese Angst festgestellt werden soll, ist unklar. Der Gesetzgeber entzieht sich hier der politischen Entscheidung. Es steht zu erwarten, dass es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen wird. Eines aber ist klar: Die alte Pathologisierung wird hier abgelöst durch eine neue Kriminalisierung

Das TSG hatte festgelegt: Ihr trans Personen seid alle krank, sollt keine Kinder bekommen und die Änderung von Namens und Geschlechtseintrag soll so schwierig wie möglich sein, damit möglichst wenig Leute ihr Geschlecht ändern. Das Selbstbestimmungsgesetz sagt jetzt: Okay, macht, was ihr wollt. Aber wir werden euch konstant verdächtigen, die Geschlechtsänderung eigentlich nur vorzunehmen, um euch Vorteile zu verschaffen. 

Damit reagiert das Gesetz auf rechte Verschwörungsmythen: Transmisogyne Vorstellungen beschreiben, dass trans Frauen im Endeffekt doch nur Männer seien, die sich durch ihre Transition Vorteile verschaffen wollten. 

Dass sie keine Frauen sind, sondern Männer, die in Frauenräume eindringen wollen, die sich ihren vermeintlich männlichen Pflichten entziehen wollen etc.

Gibt es noch weitere Anzeichen, die zeigen, dass diskriminierendes Gedankengut Platz in diesem Gesetz findet? 

Neben der Militärgeschlechtsregelung und dem Hausrechtsparagraphen, die ich bereits erwähnt habe, betrifft die Regelung Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis, also zum Beispiel Geflüchtete. Denn hier sagt das Selbstbestimmungsgesetz ausdrücklich, dass die Änderung von Namens- und Geschlechtseintrag, unter Umständen, als Versuch gewertet werden kann, sich der Abschiebung zu entziehen. Also der Verdacht ist: Wir wollen dich abschieben und du ordnest dich einer besonders gefährdeten Gruppe zu, um diese Abschiebung zu verhindern. In Realität muss dafür zwischen der Abschiebung und der Änderung kein Kausalzusammenhang bestehen. Ein „zeitlicher Zusammenhang von zwei Monaten" ist dafür ausreichend – sagt das Selbstbestimmungsgesetz. Das ist krass, weil oft weißt du ja gar nicht, ob du abgeschoben werden sollst. 

Auch hier finden sich rechte Narrative wieder, oder? 

Ja, hier wird der generellen Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Migrant*innen nachgegeben. 

Das Selbstbestimmungsgesetz wird instrumentalisiert, um die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft – dazu gehören auf jeden Fall trans und nicht-binäre Geflüchtete und Migrant*innen – weiter zu schwächen.

Ich wusste bisher zu wenig darüber! In dem Bündnis Selbstbestimmung Selbst Gemacht habt ihr einen alternativen Gesetzesentwurf geschrieben. Was unterscheidet euren Gesetzesentwurf von dem der Regierung? 

In dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung wird primär den vermeintlichen Ängsten von cis Menschen nachgegangen. In unserem Gesetzesentwurf geht es dagegen darum, die Geschlechtsmündigkeit aller Menschen zu stärken. Also die Fähigkeit anzuerkennen, dass alle Menschen darüber urteilen können, in welchem Geschlecht sie am besten leben können und wollen. Das betrifft cis Menschen, trans Menschen, nicht-binäre Menschen und alle anderen auch. Das Selbstbestimmungsgesetz der Bundesregierung sagt: Eigentlich dürfen Name und Geschlechtseintrag nicht geändert werden, es sei denn, du machst diese Personenstandserklärung beim Standesamt. Und von dieser Ausnahme gibt es dann noch tausende andere Ausnahmen und Einschränkungen. Unser Gesetz sagt: Geschlechtsmündigkeit ist Teil der Menschenwürde. The End.

Wie sieht eine solche Geschlechtsmündigkeit aus? 

Es gibt sowohl die nominelle Geschlechtsmündigkeit als auch die materielle Geschlechtsmündigkeit. Die nominelle Geschlechtsmündigkeit beschreibt die Änderung von Dokumenten. Die materielle Geschlechtsmündigkeit meint die Bereitstellung von Ressourcen, damit die Geschlechtlichkeit, in der du am besten, produktivsten, schönsten und freudigsten leben kannst und willst, real hergestellt werden kann. Das beinhaltet etwa Entschädigungszahlungen an diejenigen, die unter dem Transsexuellengesetz gelitten haben, die beispielsweise zwangssterilisiert worden sind. Außerdem beinhaltet die materielle Geschlechtsmündigkeit auch die aktive Unterstützung von Prozessen zur Geschlechtsfindung. Unser Gesetzesentwurf versteht es als Aufgabe des Staates, diesen Geschlechtsfindungsprozess aktiv zu unterstützen. Für alle Menschen. 

Würde die Übernahme von geschlechtsaffirmierenden Maßnahmen zu der materiellen Geschlechtsmündigkeit zählen? Damit meine ich Maßnahmen wie beispielsweise Operationen, Hormonersatztherapien oder Stimmtrainings. 

Ja. Unser Entwurf ist hier näher am ursprünglichen Gesetzesentwurf der Grünen und der FDP, den Sie 2020 vorgelegt hatten. Dieser hätte auch medizinische Maßnahmen teilweise von der Krankenkasse finanzieren lassen. Wir würden sagen, geschlechtsaffirmierende Maßnahmen sollten komplett abgedeckt sein. Das ist momentan nicht der Fall.

Ein zivilgesellschaftliches Bündnis hat im Oktober 2024 ebenfalls einen Gesetzesentwurf veröffentlicht. Es geht auch um Selbstbestimmung – genauer um die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Gibt es hier eine Verbindung zu eurem Anliegen?

Nationalstaaten imaginieren sich als Reproduktionsgemeinschaften. Die cis-heteronormative soziale Ordnung soll über Reproduktion geregelt werden. Das heißt, es gibt diejenigen, die das Sperma einspritzen. Und diejenigen, die die Babys dann in ihren Körpern produzieren. Das ist die wichtige Unterscheidung, die der angeblich „biologischen“ Geschlechtlichkeit unterliegt. Die findet sich im Vatikan, die findet sich in der CDU, die findet sich im rechten Flügel der SPD, die findet sich im rechten Flügel der FDP etc. Dem widersprechen wir. Damit haben wir große Überschneidungen und Solidaritätslinien mit Sexarbeitsaktivismus, Aktivismus für Schwangerschaftsabbrüche und gegen Rape Culture usw.: Diese Reduktion von deiner gesellschaftlichen Positionierung auf deine Position in der Reproduktionsmaschinerie. Aus dieser geht dann die Fantasie des biologischen Geschlechts quasi wie von selbst hervor. Mein Eindruck ist, dass das wirklich der total zentrale Punkt ist, der momentan an allen Ecken und Enden bearbeitet und neu verhandelt wirdIm weiteren Sinne geht es darum auch in der Migrationsdebatte: Wessen Babies sind die guten Babies? Sie sagen: Die Geschlechter dienen der Reproduktion unserer Nationen. Wir sagen: Die Geschlechter denen, die drin wohnen!


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.gwi-boell.de