Die Grünen nach der Wahl: Die Chance für einen Neuaufbruch nutzen!

Kommentar

Trotz der schwierigeren Mehrheiten in Gesellschaft und Parlamenten sollten die Grünen nicht zu viel Zeit mit Wundenlecken verbringen. Stattdessen: die Tore aufstoßen und Menschen zum Engagement für eine zukunftsgewandte Politik einladen.

Foto: Ein abstraktes Wandbild mit einer stilisierten Sonnenblume. Es sind große, unregelmäßige Blütenblätter in Holzoptik und gelben Akzenten zu sehen.
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Es braucht ein gehöriges Maß an Bereitschaft auch außerhalb von Wahlkampfzeiten in die Breite der Bevölkerung auszugreifen und dort Anknüpfungspunkte der Menschen zu grüner Programmatik zu suchen.

Nach der Bundestagswahl 2025 stehen die Grünen vor der Herausforderung, ihre politische Ausrichtung im Lichte der veränderten Realitäten zu überprüfen und verlorengegangenes Vertrauen in breiteren Teilen der Gesellschaft zurückzugewinnen. Die Zeit der Ampel-Regierung war nicht nur geprägt von sich radikal verändernden Rahmenbedingungen im Zuge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, sondern auch von einer verteidigungspolitischen Zeitenwende, eine Energiekrise, gesellschaftlichen Friktionen im Nachgang zur Pandemie, dem Abschied von Haushaltsüberschüssen und jetzt der Aufkündigung der transatlantischen Partnerschaft. Alle Parteien waren und sind gefordert, sich diesen radikal veränderten Realitäten zu stellen. Und zwar schnell.

Auch für grüne Politik selbst wechselten während der Regierungszeit die gesellschaftlichen Vorzeichen. So hatten die Grünen im Wahlkampf zwar beachtliche Ergebnisse in ihrer Regierungszeit vorzuweisen, ernteten dafür allerdings auch starken Gegenwind. In Teilen wurden sie gar zum Hauptgegner demokratischer Mitbewerber erklärt, was angesichts des Aufstiegs rechtsextremer Kräfte zur zweitstärksten Partei im Land beachtlich und in vielerlei Hinsicht höchst beunruhigend ist. Um wieder erfolgreich zu sein, müssen die Grünen nun wieder neu aufbrechen. Die Tatsache, dass mit der Bundestagswahl und vor allem mit der stark veränderten Weltlage ohnehin alle Karten neu gemischt werden, bietet hierfür eine Chance.

Jetzt bloß nicht verzwergen – für die Freiheit, für Europa!

Mit ihrem Wahlergebnis stehen die Grünen mit Abstand deutlich besser da als ihre beiden Ampel-Koalitionspartner, die sich tiefgreifendere Fragen stellen müssen. Gleichzeitig leben die Grünen mittlerweile maßgeblich von ihrer Gestaltungsmacht. Der nun im Raum stehende Gang in die Opposition fiele ihnen in mancher Hinsicht schwerer als anderen, zumal die politische Lage ihre verantwortliche Mitwirkung dringend braucht. Es geht jetzt um nicht weniger als die Bewahrung der liberalen Demokratie, und die Freiheit in Europa. Das beginnt zuallererst mit der Verteidigung der Ukraine und dem Einsatz für einen gerechten Frieden. Zudem zeigt der Einfluss von autokratischen und extremen Kräften auch hierzulande ihre Wirkung, wie die Ergebnisse für die AfD zeigen. Robert Habeck ist als Repräsentant eines neuen den Menschen zugewandten Politikstils von Demokrat*innen das Gegenmittel zu dieser Entwicklung, sein Rückzug ist ein herber Verlust. Die Grünen sollten seine Ideen aus den letzten Jahren aktiv aufgreifen und fortführen.

Die zentrale Aufgabe ist es, die Überzeugungskraft der linken Mitte insgesamt im Bündnis mit vielen anderen gemeinsam wiederzuerlangen.

Dazu gehört, sich jetzt nicht zu verzwergen und lediglich nach einfach zu gewinnenden Wechselwähler*innen Ausschau zu halten. Die zentrale Aufgabe ist es, die Überzeugungskraft der linken Mitte insgesamt im Bündnis mit vielen anderen gemeinsam wiederzuerlangen. Trotz der schwierigeren Mehrheiten in Gesellschaft und Parlamenten sollten die Grünen daher nicht zu viel Zeit mit Wundenlecken verbringen und stattdessen die Tore aufstoßen und Menschen zum gemeinsamen Engagement für eine zukunftsgewandte Politik einladen. Dazu braucht es ein gehöriges Maß an Bereitschaft, auch außerhalb von Wahlkampfzeiten in die Breite der Bevölkerung auszugreifen und dort Anknüpfungspunkte der Menschen zu grüner Programmatik zu suchen. Gerade auch bei jenen Menschen, die noch nicht oder nicht mehr von grünen Politikansätzen überzeugt sind. Es gilt aber auch für jene, die zwar vom Programm der Grünen grundsätzlich überzeugt sind, die aber gleichzeitig nicht glauben, dass die Grünen auch für sie persönlich ganz konkrete Verbesserungen im Alltag erreichen.

Vertrauen gewinnen durch Empathie, Zuhören und Klarheit

Gerade, wenn Menschen in ihrem Alltagsleben keine Zeit für Politik haben, weil sie sich um Familie und Beruf kümmern müssen, wenn einfach nicht genug Geld oder Perspektive da sind, um die eigenen Bedürfnisse oder die nahestehender Menschen erfüllen zu können, dann braucht es ein grundlegendes Vertrauen darin, dass eine Partei „sich um meine Interessen kümmern“ wird. Dass sie diese mit im Blick behalten und sich den Fragen auch von Skeptiker*innen stellen. Im schnell aufziehenden Wahlkampf versuchten Robert Habeck und die Grünen dies sehr offensiv aufzugreifen und schafften mit den „Küchentischgesprächen“ Orte für eine Politik des Gehörtwerdens. Dennoch haben viele Menschen in den zurückliegenden Jahren die persönliche Frage nach ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten und Interessen zu selten von Grünen- Repräsentant*innen gehört. Das stört diese Menschen zu Recht, bekommen sie so doch das Gefühl, dass sie zu etwas überredet oder gar über etwas belehrt werden sollen, statt in der Sache wirklich persönlich überzeugt zu sein.

Die meisten Menschen wissen sehr genau, dass die Politik gestalten und verändern muss, um unsere Freiheit und unseren Wohlstand auch für die Zukunft zu sichern. Hier haben die Grünen ein Alleinstellungsmerkmal, sind sie doch die einzige wahrnehmbare Partei, die diese Veränderung und Gestaltung auf die Zukunft richtet und nicht etwa das Versprechen gibt, dass sich trotz der Veränderungsnotwendigkeit nichts im Alltag der Menschen ändern wird. Jedoch ist eine akute Verlustangst und Überforderung in Zeiten von Krieg, Inflation und Vielfachkrisen nachvollziehbarer, als viele Grüne es sich in der Vergangenheit eingestanden haben. Hier braucht es echtes Verständnis und Empathie, um Vertrauen zu gewinnen - und die klare Botschaft, dass Stabilität und Sicherheit eben nur durch Veränderung gewährleistet werden können, nicht durch Aussitzen und Aufschieben.

Raus aus dem Grünen-Büro, rein in den Schützenverein

Die Wahlauseinandersetzung hat gezeigt: Für die Bereitschaft, die Probleme anzugehen, also zu echter Veränderung, braucht es ein deutlich größeres Maß an Vertrauen und emotionaler Bindung, als wenn es nur darum geht, den Status Quo zu verteidigen oder Altbekanntes zu reanimieren. Zuversicht in die demokratische Lösbarkeit der Herausforderungen als Grundhaltung kann allerdings nicht per Wahlplakat in die Köpfe der Menschen gebeamt, sondern muss politisch und zwischenmenschlich über Jahre erarbeitet werden. Dafür zählt der persönliche Kontakt im direkten Gespräch oder in der direkten Ansprache via Social Media für viele Menschen weitaus mehr als der nächste Talkshowauftritt oder Tageszeitungs-Gastbeitrag. Das zeigt sich vor allem mit Blick auf die jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich zunehmend fast ausschließlich über soziale Netzwerke im Digitalen wie Analogen informieren, orientieren und engagieren. Um hier allerdings wirksam zu werden, liegt der Schlüssel weniger in dem Aussenden von Botschaften über neue Kanäle als darin, Multiplikator*innen in den jeweiligen Milieus oder Blasen einzubinden.

Um als Partei über die 15-20 Prozent hinaus zu kommen und tatsächlich auszugreifen, braucht es dafür natürlich mehr Menschen als bloß das Spitzenpersonal. Die starke Mobilisierung zahlreicher Wahlkämpfenden in den Wochen vor der Bundestagswahl stand im Kontrast zu der zeitweise eingetretenen Stille, die während der Regierungszeit in der Partei herrschte. Die Grünen müssen sich an dieser Stelle die Frage gefallen lassen, ob sie die bislang größte Bundestagsfraktion und die Stärke etlicher großer Landtagsfraktionen in den vergangenen Jahren ausreichend in diesem Sinne genutzt haben. Einige dieser Mandate und ganze Fraktionen sind nun nicht mehr da, gleichzeitig sind aber noch immer über 160.000 Mitglieder ein Ausdruck der fortbestehenden Stärke der Grünen. Sie tragen Verantwortung und repräsentieren grüne Politik, in ihren Stadtvierteln, ihrer Kirchengemeinde, ihrer Freiwilligen Feuerwehr und ihren Schützenvereinen. An allen diesen Orten finden sich Menschen, die bei aller unterschiedlicher Meinung das Gemeinwohl im Blick haben.

Bündnispartei zu sein ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe an allen Orten im Land. 

Hierauf muss die Partei nun stärker bauen: Statt über Wohlfühlrunden in Grünen-Büros muss sich diese Stärke auf dem örtlichen Straßenfest, an den Vereins-Stammtischen und bei der Betriebsversammlung entfalten. Dabei hilft auch das viel beschworene „auf der Straße sein“. Der Appell, sich nicht mit der Satzungsdiskussion im eigenen Kreisverband als politisches Engagement zu genügen, lässt sich nicht (nur) mit „mehr Demos bitte“ übersetzen. Vielmehr geht es darum, Menschen in ihrem eigenen Umfeld zu begegnen und dort Vertrauen aufzubauen. Weniger, indem man ihnen als „potentielle Wähler*innen“ in der Vorwahlkampfzeit entgegentritt, als indem man die vier Jahre dazwischen nutzt, um zu zeigen, dass es die Grünen ernst meinen mit „im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit“. Bündnispartei zu sein ist nicht allein ein strategischer Blick auf die Verbändelandschaft im politischen Berlin, sondern eine gesellschaftliche Daueraufgabe an allen Orten im Land. 

Die eigenen Positionen abklopfen, Rolle als Partei klären

Dazu gehört auch die Priorisierung von Themen, die die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft widerspiegeln – auch im (gefühlten) Hier und Jetzt. Zu lange wurde gehofft, dass Menschen „einfach verstehen“ würden, dass Klimaschutz auch in ihrem Interesse sei. Und dass eventuell resultierende Kosten dann halt ins Privathaushaltsbudget mit eingerechnet werden müssten, sollten diese etwa bei einer Anhebung des CO2-Preises nicht durch ein Klimageld ausgeglichen werden. Diese Haltung verrät – viel mehr als der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Fremdwortes – darüber, wie sehr sich grüne Politik noch immer aus den Lebenserfahrungen in einem (westdeutschen) akademischen Milieu speist. Hier eröffnen sich durch den enormen Mitgliederzuwachs des letzten Jahres neue Chancen. Denn viele der neu hinzugestoßenen Mitglieder bringen ganz neue und vielfältige Erfahrungen und Hintergründe ein. Diese Chance sollte die Partei nutzen und diesen Erfahrungen Raum geben.

Die Grünen haben in den Wahlauseinandersetzungen der vergangenen Jahre viel Wert darauf gelegt, auch bei parteiintern umstrittenen Themen nach außen Geschlossenheit zu vermitteln. Auch wenn grüne Parteitage noch immer mehr offene Debatten und Abstimmungen mit sich bringen, als bei vielen anderen Parteien, so wurde im wahlkampfintensiven „langen Jahr 2024“ mit Europa- und Kommunalwahlen, den Wahlen in Ostdeutschland und zuletzt der Bundestagswahlauseinandersetzung die Klärung grundlegender Fragen strategischer Ausrichtung und Priorisierung eher wegverhandelt, als sich auf offener Bühne schwierigen Fragen und auch real existierenden Zielkonflikten zu stellen. Gleichzeitig ist offensichtlich, wie die tektonischen Veränderungen der Realitäten spätestens seit Kriegsbeginn 2022 und der US-Wahl 2024 viele Gewissheiten in Frage gestellt haben und alle Regierungen und politischen Parteien weltweit vor enorme Herausforderungen stehen. Das geht auch an den Grünen nicht vorbei.

Die neuen ökonomischen und geopolitischen Veränderungen, die wir alleine seit der Amtsübernahme des neuen US-Präsidenten Trump sehen, erfordern erneut grundlegende Antworten und erhebliche Prioritätensetzungen in der Politik. Es stellt sich für die Grünen zudem die Frage, inwieweit eine ökologische Partei den Schutz der Ökologie vor allem durch Umwelt-, Natur- und Klimaschutzpolitik adressieren kann. Und falls nicht, ob und wie es ihr tatsächlich gelingen kann, andere Kompetenzwerte – wie etwa beim Thema Wirtschaftspolitik, der Sicherheits- oder auch etwa der Europapolitik – aufzubauen. Wollen die Grünen die Interessen einer Seite vertreten oder wollen sie durch Zusammenbringen der verschiedenen Seiten zu einem tatsächlichen Fortschritt in der Sache beitragen? Wie können etwa Arbeitgeberfunktionär*in, Start-up-Gründer*in, Gewerkschafter*in und Handwerksmeister*in zusammengebracht werden, oder etwa Polizeigewerkschafter*in, Jugendrichter*in und migrantische Selbstorganisation? Klar ist dabei, dass im Zentrum die Schlüsselfragen der Zeit für Europa stehen müssen: die Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.

Mit Widersprüchen umgehen: Keine Angst vor Debatten

Um das dafür nötige Maß an Vertrauen in die eigene Politik und das eigene Personal herzustellen, müssen die Grünen sich gut überlegen, an welchen Stellen sie auf die Interessen und Bedürfnisse anderer zugehen und wo sie diese zum Schutze des eigenen Markenkerns und des Veränderungsanspruchs nur in Teilen aufgreifen oder gar ihnen offen entgegentreten. Um als politische Kraft Relevanz in der Aufmerksamkeitsökonomie zu entfalten, ist es an manchen Stellen eher klug, auch mal Widerspruch hervorzurufen. Grüne Forderungen sind nicht der Störfaktor in einer ansonsten idealen Welt, sie sind Teil der öffentlichen Debatte und sollten es auch sein. Bei den hastig hervorgerufenen Diskussionen über Sozialabgaben auf Kapitalanlagen hätte sich der bzw. die Eine oder Andere wohl gewünscht, dass die Grünen weiter in die Offensive gehen, statt sich in Relativierung zu verheddern. Wirklich wichtig wäre dies aber erst recht dort gewesen, wo die Konzepte ausgereifter vorlagen, wie beim Modell der Reichenbesteuerung, dass viel zu schnell wieder in die Schublade gelegt wurde.

All dies muss glaubwürdig und möglichst ohne Brüche vermittelt werden. Denn besonders schädlich für Vertrauen ist es, wenn Widersprüchlichkeiten in der eigenen Haltung sichtbar werden, ohne dass diese explizit erläutert werden. Dann wird das Auftreten unauthentisch, und Menschen werden misstrauisch. Das gilt für das Bemühen um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Migrationsfrage genauso wie für eine echte industrielle Wachstumsperspektive auf Basis von Erneuerbaren Energien. Hier gilt es für die Grünen, Widersprüche nicht zu verschleiern und weg zu retuschieren. Stattdessen sollten Argumente offen wiedergegeben, wertgeschätzt und abgewogen werden. Viele Menschen scheinen am Ende gar nicht vor allem Recht behalten zu wollen, sondern wollen schlicht ernst genommen werden.

Für die Grünen ist es jetzt entscheidend, mit voller Motivation und mit authentischer Begeisterung die Veränderungsnotwendigkeiten im Land und vor allem in Europa anzugehen und die Menschen dafür in der Breite der Gesellschaft zu adressieren. Mit einer Sprache, die nicht von den Anfangszeiten der „sozial-ökologischen Transformation“ zeugt, die statt „Wenden“ vom „Wachsen“ erzählt. Mit Emotionen, die nicht vorrangig ein „Weniger“, eine „Beschränkung“ und eine „Anstrengung“ vermitteln, sondern ein „Mehr“, eine „Verbesserung“ und eine „Leistung“. Viele Menschen wollen mitmachen und übernehmen Verantwortung in diesen Zeiten, weil sie wissen, welche Herausforderungen auf uns als Gesellschaft zukommen. Aber der Mut dazu geht diese Tage schnell verloren, die Angst und die Angstmacher sind schnell zur Stelle. Die Grünen brauchen viel Teamgeist und Überzeugung, dem entgegenzutreten und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Wahl ist vorbei, die Arbeit geht erst richtig los.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de