Libanon: Agrarökologie im Kontext von Wirtschaftskrise, Kriegen und neoliberaler Politik

Hintergrund

Welcher Stellenwert kommt dem Konzept der Agrarökologie im Libanon zu angesichts der neoliberalen Politik, des gewaltsamen wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des seit mehr als einem Jahr andauernden, extrem zerstörerischen Krieges? JIBAL ist eine Organisation, die sich an vorderster Front für die Etablierung der Agrarökologie als Pfeiler von Ernährungssouveränität im Libanon einsetzt und durch ihre Arbeit versucht, diese Frage zu beantworten.

von HBS Beirut, Programm für Umweltgerechtigkeit

Lesedauer: 8 Minuten

JIBAL wurde 2017 gegründet und ist eine Organisation, die sich für soziale und Umweltgerechtigkeit einsetzt, indem sie Zusammenschlüsse von verschiedenen Akteuren, zugängliches und offenes Wissen sowie regenerative Prinzipien fördert. Dazu gehören Initiativen zur Förderung der Ernährungssouveränität und agrarökologischer Praktiken im Libanon. JIBAL hat mit dieser Arbeit begonnen, während der Libanon von einer der schwersten globalen Wirtschaftskrisen der Geschichte heimgesucht wurde, die zu einer zunehmenden Verarmung, hoher Inflation, Ernährungsunsicherheit, Arbeitslosigkeit und zum Zusammenbruch lokaler landwirtschaftlicher Systeme beitrug.

Im November 2022 veröffentlichte die NGO JIBAL einen Bericht mit dem Titel "Agroecology in Lebanon: Analyzing the Current Scene and Exploring Upscaling Potentials" (1), der darauf abzielt, die lokale Agrarlandschaft besser zu verstehen und Wege zu finden, die Transformation hin zu Agrarökologie zu unterstützen. Der Bericht untersucht, wie ein „Upscaling“ bestehender agrarökologischer Projekte gelingen kann - indem isolierte Initiativen stärker vernetzt werden - und wie diese Bemühungen landwirtschaftliche Praktiken und Politiken im Libanon beeinflussen können.

Das Konzept der Agrarökologie kann Umweltprobleme wie Bodenerosion, Wasserknappheit und den Verlust der biologischen Vielfalt angehen, die alle durch die industrielle Landwirtschaft, die Privatisierung und die marktorientierte Agrarpolitik entstanden sind. Agrarökologische Praktiken tragen dazu bei, die Bodengesundheit zu verbessern, den Wasserverbrauch zu senken und die lokalen Ökosysteme zu schützen. Der Bericht skizziert das Potenzial von Agrarökologie zur Unterstützung von Kleinbäuer*innen, insbesondere angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise im Libanon: Agrarökologie bietet eine Alternative zur industriellen Landwirtschaft, indem sie die Abhängigkeit von teuren Inputs wie Saatgut, Dünger oder Pestizide verringert, die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel verbessert und die ökonomische Nachhaltigkeit von kleinen Betrieben fördert.

Darüber hinaus kann das Konzept der Agrarökologie die Ernährungssicherung im Libanon unterstützen, indem sie die lokale Lebensmittelproduktion und die Diversifizierung der Anbauprodukte fördert, die Abhängigkeit von Importen verringert und den Zugang zu frischen, gesunden Lebensmitteln auch in wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten gewährleistet. Der Bericht zeigt auf, wie Agrarökologie eine entscheidende Rolle bei der Abmilderung der schlimmsten Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen spielt. Sie bietet Ansätze, um die Abhängigkeit von teuren Betriebsmitteln zu verringern, die lokale Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln, die Wertschöpfung im ländlichen Raum zu unterstützen und die langfristige Nachhaltigkeit zu fördern. All das trägt dazu bei, die wirtschaftlichen Herausforderungen des Libanon zu bewältigen.

Tatsächlich haben einige Landwirt*innen im Libanon aus persönlicher Sorge um die Zukunft des Agrarsektors und um ihr eigenes Wohlergehen sowie als Reaktion auf die schlimmsten Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf agrarökologische Erzeugung umgestellt. Sie haben erkannt, welchen Schaden die konventionelle Landwirtschaft sowohl für die Beschäftigten in der Landwirtschaft als auch für die Umwelt und die Qualität der erzeugten Lebensmittel verursacht. Kurz gesagt, das Konzept der Agrarökologie dient als Grundlage für ein gerechteres Ernährungssystem und diese Praktiken können dazu beitragen, stärkere, unabhängigere Gemeinschaften im ganzen Land aufzubauen. Während die Agrarökologie im Libanon noch in den Kinderschuhen steckt, könnte eine Verbreitung dieser Praktiken dem gesamten Agrarsektor zugutekommen. Eine stärkere politische Unterstützung, Netzwerke für Landwirt*innen und der Zugang zu Märkten für ihre Produkte können dabei helfen.

Und was hat das mit der aktuellen Situation zu tun?

Parallel zum Krieg im Gazastreifen, der bisher fast 50.000 palästinensische Todesopfer gefordert hat, ist der Libanon zu einem erweiterten Schlachtfeld für Israel geworden. Seit der Veröffentlichung des Berichts von JIBAL hat sich die Wirtschaftskrise verschärft, was zum großen Teil auf die israelischen Angriffe auf den Libanon im vergangenen Jahr zurückzuführen ist. Im ganzen Land wurden schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen, darunter 420.000 Kinder, während des Krieges vertrieben, einige davon mehrfach. Bis Anfang Dezember wurden schätzungsweise 4.047 Menschen getötet und 16.638 verletzt, darunter auch der letzte Schafhirte in Nabatieh. Der wirtschaftliche Schaden wird auf rund 12 Milliarden US-Dollar geschätzt, ganz zu schweigen von den tiefgreifenden sozialen, ökologischen und spirituellen Folgen. In den am stärksten betroffenen Gebieten hat die Kombination aus Wirtschaftskrise und Krieg dazu geführt, dass 94 Prozent der Menschen im Bezirk Nabatieh und 87 Prozent des Gouvernements Südlibanon in mehrdimensionale Armut geraten sind.

Israel nahm auch landwirtschaftlich intensiv genutzte Flächen ins Visier, darunter Gebiete, in denen Zitrusfrüchte, Tabak und Oliven angebaut werden. Dies hat erhebliche sozioökonomische Auswirkungen, da etwa 80 Prozent des lokalen BIP im Süden des Libanon, in der nördlichen Bekaa und in Akkar aus der Landwirtschaft stammen. Als Folge dieser Bombardierungen und schweren Angriffe nahmen auch die Brände zu, die ihrerseits landwirtschaftliche Flächen und ökologische Reserven zerstörten. Mindestens 10.800 Hektar wurden von den Flammen verzehrt, das ist zehnmal mehr als im Landesdurchschnitt. Israel hat auch die Wasserinfrastruktur in diesen Regionen angegriffen.

Israel nahm auch landwirtschaftlich intensiv genutzte Flächen ins Visier, darunter Gebiete, in denen Zitrusfrüchte, Tabak und Oliven angebaut werden.

Die Landwirt*innen, die ihre Erzeugnisse noch von ihren Feldern holen konnten, wurden aufgrund der Einstellung des Flugverkehrs und der Blockade von zwei Landübergängen mit Syrien durch Israel in ihren Exportmöglichkeiten drastisch eingeschränkt. Die israelische Armee hat auch weißen Phosphor eingesetzt (mindestens 195 Vorfälle wurden gemeldet und geografisch lokalisiert). Die landwirtschaftlichen Betriebe waren und sind auch nach Kriegsende stark von den Folgen betroffen: ihr Land ist verbrannt und durch die Verseuchung des Bodens nicht nutzbar, Landwirt*innen und ihr Vieh sind erkrankt und die Verbindung vieler Bäuer*innen zu ihrem Land hat stark gelitten. Im gesamten Libanon wurde Agrarland durch die verschiedenen von Israel eingesetzten Waffen angegriffen.

Kurz gesagt, der Krieg hat zu einer weit verbreiteten Vertreibung von Landwirt*innen und Saisonarbeiter*innen geführt und sie daran gehindert, ihr Land zu bewirtschaften. Die südlichen und grenznahen Gebiete des Libanon sind unverhältnismäßig stark betroffen, einschließlich der bewaldeten Regionen, landwirtschaftlichen Flächen und Naturschutzgebiete.

Wo steht die Agrarökologie im Kontext all dieser Zerstörung?

Wie bereits erwähnt, war das Ernährungssystem des Libanon bereits vor dem letzten Krieg fragil. Das Konzept der Agrarökologie mit seinen verschiedenen Ausprägungen ist eine solide Alternative, die die industrielle Landwirtschaft in Frage stellt und gleichzeitig ein gerechteres, nachhaltiges Ernährungssystem fördert. Zu den agrarökologischen Prinzipien gehören beispielsweise die Ressourceneffizienz, die Minimierung der Abhängigkeit von Importen und die Diversifizierung der Anbauprodukte. Diese Ansätze können die schlimmsten Auswirkungen des Krieges abmildern. Agrarökologie spielt auch eine wichtige Rolle bei dem, was "am Tag danach" passiert, wenn der Wiederaufbau beginnt. Ein Beispiel ist die Wiederherstellung von Böden nach dem Einsatz von Chemiewaffen und der allgemeinen Zerstörung des Landes. Dabei helfen agrarökologische Praktiken bei der Verbesserung der Bodengesundheit. Aufgrund ihrer nachhaltigen Praktiken kann Agrarökologie als Katalysator für eine nachhaltige, langfristige Erholung der Böden und die Verringerung der Umweltverschmutzung dienen.

Die Agrarökologie und ihre Prinzipien sind zu unterstützen, wo es möglich ist, aber das Land und seine Bewohner*innen werden immer anfällig bleiben für die schlimmsten Formen der Zerstörung durch koloniale Gewalt, ewige Kriege und aufgeblähte Militärbudgets. Die Straffreiheit für Kriegsverbrechen zu beenden ist eine nicht verhandelbare Voraussetzung für das Gedeihen der Agrarökologie.

Möglichkeiten der Unterstützung:

Im Oktober 2024 richtete JIBAL einen Solidaritätsfonds ein, um das Recht auf Nahrung für Menschen zu wahren, die durch die anhaltende israelische Aggression vertrieben wurden. JIBAL unterstützte zehn Gemeinschaftsküchen und hilft nun weiterhin zwei Gemeinschaftsküchen und drei Zentralküchen mit frischen und trockenen Lebensmitteln, da viele Vertriebene immer noch nicht nach Hause zurückkehren können. Obwohl die meisten Vertriebenen in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, bittet JIBAL weiterhin um Spenden. Ein Teil der Gelder wird für die Bodensanierung verwendet, um die Landwirt*innen dabei zu unterstützen, sich von den Folgen der Gewalt auf ihre Felder und Ernten zu erholen. JIBAL plant, mit anderen Organisationen und Basisinitiativen zusammenzuarbeiten, um die Bodensanierung voranzutreiben.

Quellen

Al-Monitor. (2024, November 11). Der Krieg hat mich ruiniert: Libanons Bauern trauern um verlorene Saison. Al-Monitor.

AUB AGHIVE. (2024, 3. November). Der israelische Krieg gegen den Libanon 2024: Ein verheerender Schlag für die Landwirtschaft und die Umwelt. Amerikanische Universität von Beirut. 

AUB-Naturschutzzentrum. (2023, November). Umweltauswirkungen des israelischen Krieges 2024 im Libanon. Amerikanische Universität von Beirut. 

CEOBS (2025, Januar). Konfliktbedingte Umweltschäden im Südlibanon. Beobachtungsstelle für Konflikte und Umwelt. 

HEP. (2024, Oktober). Zerstörung des kulturellen Erbes im Libanon: Die Auswirkungen des Krieges von 2024. Heritage Emergency Preparedness.

The Guardian. (2024, 12. November). Vieh, Feldfrüchte und alte Olivenhaine: Libanon's farmers lose everything to Israeli bombs. The Guardian. 

Der neue Araber. (2024, 30. Oktober). Libanesische Landwirtschaft inmitten von Zusammenstößen mit Israel gestört. The New Arab.

Die öffentliche Quelle. (2024, November 5). Israels Einsatz von weißem Phosphor im Südlibanon: Eine verheerende Auswirkung auf die Landwirtschaft. Die öffentliche Quelle.

ReliefWeb. (2024, 10. Dezember). Eskalation der Feindseligkeiten im Libanon: Analyse der Lage der öffentlichen Gesundheit (PHSA), 10. Dezember 2024.

TIMEP. (2023, 28. November). Israels ökologische und wirtschaftliche Kriegsführung gegen den Libanon. Das Tahrir-Institut für Nahostpolitik.

TIMEP. (2024, 12. November). Knapp bei Kasse: Wie Israels Krieg gegen den Libanon die Wirtschaft in die Höhe getrieben hat. Das Tahrir-Institut für Nahostpolitik.

Triangle. (2019, November). Extend & Pretend: Lebanon's financial house of cards. Think Triangle.

UN ESCWA. (2024, November). Multidimensionale Auswirkungen der israelischen Angriffe auf den Libanon. Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten Nationen für Westasien.

UN-Nachrichten. (2024, November 6). Der Krieg hat die Nahrungsmittel- und Agrarproduktion des Landes fast unmöglich gemacht, sagt das WFP. Vereinte Nationen.

UNDP. (2023, Dezember). Vorläufige Ergebnisse zu den sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen des Gaza-Krieges auf den Libanon. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de

Fußnoten