Ausgehend von Studierendenprotesten erlebt Serbien derzeit eine demokratische Massenmobilisierung. Offen ist allerdings, ob die Forderungen der Proteste in politisches und parlamentarisches Handeln umgesetzt werden können, um einen friedlichen demokratischen Neuanfang zu ermöglichen. Am 15.03.2025 wird zu der bisher massivsten Protestaktion aufgerufen. Dazu Einschätzungen von Aktivist*innen, Journalist*nnen, Analyst*innen und Vertreter*innen der politischen Opposition.

In Serbien protestieren seit über vier Monaten täglich Zehntausende gegen die Regierung. Was als Studierendenprotest begann, entwickelte sich zur landesweit größten Bewegung seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 und erreicht die Dimension einer der größten studentischen Bewegungen in Europa seit 1968.
Auslöser der Proteste war der Einsturz eines Vordachs eines neu gebauten Bahnhofs in Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 15 Menschen starben. Hinter den Baumängeln sehen die Protestierenden als eigentliche Ursache der Katastrophe Korruption und Staatsversagen. Die Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in Serbien hat sich seit der Machtübernahme durch die „Serbische Progressive Partei“ (SNS) von Präsident Vučić im Jahr 2012 immer weiter verschärft und ist zu einem klassischen Fall von „state capture“ geworden. Die Forderungen der Studierenden und ihrer Unterstützer*innen zielen nicht allein auf den Rücktritt der Regierung oder das Auswechseln einzelner Politiker*innen, sondern mittlerweile auf die prinzipielle Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Korrupte Politiker*innen und kriminelle Clans sollen endlich haftbar gemacht werden.
Serbien ist massenprotesterprobt
Seit Jahren ereignen sich in Serbien immer wieder größere Protestwellen. 2015/2016 widersetzten sich Tausende Menschen dem inzwischen realisierten städtebaulichen Großbauprojekt „Belgrade Waterfront“, das als undurchsichtig, korrupt und schädlich für die Umwelt galt. Die Bewegung wurde von der Initiative Ne Davimo Beograd (Don’t Drown Belgrade) angeführt, die sich mittlerweile als politische Oppositionspartei Zeleno-Levi Front (Green-Left Front) etabliert hat.
2021, 2022 und 2024 richteten sich große Umweltproteste gegen Pläne zum Abbau von Lithium, ein Vorhaben, an dem v.a. auch die EU mit einer führenden Rolle Deutschlands starkes Interesse hat.
Zwei Amokläufe im Jahr 2023, davon einer in einer Belgrader Grundschule, führten zu dem breiten Protestbündnis „Serbien gegen Gewalt“ gegen die politische Führung und deren Umgang mit Gewalt und Kriminalität. Aus dem Bündnis entstand auch eine gleichnamige Oppositionskoalition, die jedoch in den Parlamentswahlen Dezember 2023 trotz landesweiter Unzufriedenheit mit der Regierung eine Niederlage erfuhr. Der ausgebliebene Wahlerfolg wurzelte in der schwierigen Lage einer in sich uneinigen Opposition und den international als nicht frei und fair anerkannten Wahlen, in denen die Regierungskoalition systematische Vorteile genoss und öffentliche Mittel missbrauchte.
Die Regierung Vučićs fährt seit vielen Jahren einen außenpolitischen Schaukelkurs zwischen der EU und Russland, der ihr hilft, nach außen eine Position der Stärke und Unabhängigkeit zu zeigen. Nach innen ist Präsident Vučić ein Meister gezielter Eskalationen, durch die er im Wechsel mit ständigen Neuwahlen die Kontrolle über Gesellschaft und politische Opponenten behauptet. Permanente Einmischung in die Politik der Nachbarländer, nationalistische Drohgebärden, etwa gegen die territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina, Truppenaufzüge an der kosovarischen Grenze, lenkten bisher immer wieder von innenpolitischen Spannungen auf äußere Konfliktherde ab.
Die Protestbewegung gibt den Takt an, nicht die Regierung
Diesmal allerdings scheint es anders zu sein. Die Dynamik der Proteste im Land bestimmen die Studentinnen und Studenten, die Regierung wird von der landesweiten Demokratie-Bewegung unter Druck gesetzt.
Trotz wiederholter Angriffe auf Demonstrierende steigt die Protestbewegung weiter an. CRTA, das Zentrum für Forschung, Transparenz und Rechenschaftspflicht, zählte allein letzte Woche 410 Protestaktionen an 165 Orten. Die Studierenden und ihre Unterstützer sind eine vielfältige Koalition, ihr ausnahmslos gewaltfreier Widerstand hat das alteingesessene Machtgefüge in Serbien destabilisiert: Premierminister Miloš Vučević trat am 28.01.25 zurück, ein Schritt, der eigentlich eine Regierungsneubildung oder Neuwahlen nach sich zieht. Allerdings übt er heute, 45 Tage später immer noch sein Amt aus. Weitere Regierungsvertreter, darunter Bauminister Goran Vesić, hatten zuvor ihren Rücktritt eingereicht und wurden verhaftet.
Es folgen Einschätzungen vom 12.03. aus einem Telefonat mit Doroteja Antić (YIHR) Antworten per Mail von Ivana Nikolić,(BIRN, YIHR) Bojan Elek, (independent journalist), Ivanka Popović, (university professor, ProGlas) und Radomir Lazović, Co-Chair Green-Left Front.
1. Dorotea Antić, Youth Initiative for Human Rights, Aktivistin
Ihr Profil ist auf einem Online-Portal „Pokret ‚Kopaćemo‘“ („Bewegung ‚Wir werden graben‘“) als „Studenten-Söldner“ ausgestellt. Der Anmutung nach scheint die Website, die kritische Aktivist*innen sammelt, von regierungsnahen Strukturen initiiert worden zu sein. Was hat es damit auf sich?
Das Thema Bergbau und Lithiumabbaupläne in 'Serbien steht derzeit im Schatten der aktuellen Proteste, letzten Sommer hatten wir dagegen protestiert, wegen der Umweltverschmutzung. Vermutlich stecken regierungsnahe Personen hinter der Website, die die Ambitionen des Unternehmens Rio Tinto unterstützen, in Serbien Bergbau zu betreiben. Sie benutzen uns um zu behaupten, dass wir, öffentlich sichtbare Aktivist*innen, unter dem Einfluss des Westens stehen.
Das ist nur ein weiterer Weg, um Menschen in Serbien gegen bestimmte andere Menschen hier aufzuhetzen, die für bessere Luft und eine bessere Umwelt kämpfen - wir werden als Feinde Serbiens dargestellt. Dieser Kampf ist nicht vorbei, er wird nur im Moment übersehen.
Was muss getan werden, um das Vertrauen der Menschen in die Politik wiederzugewinnen? Wie ist das Verhältnis von Studenten und Opposition?
Die Menschen haben angefangen, den Studenten zu vertrauen, schon das ist besonders, denn jahrelang hatten sie eine sehr negative Einstellung zur Politik entwickelt, jetzt interessieren sich viele wieder.
Die Oppositionsparteien versuchen mit dem Tempo der Studenten Schritt zu halten und ihr Image und ihre Reichweite zu verbessern, aber vor allem außerhalb Belgrads sind sie noch sehr schwach. Anfangs unsichtbar, wird die Opposition nun aktiver. Vor einer Woche gab es ein großes Durcheinander im serbischen Parlament. In der Opposition gibt es Leute mit sehr guten Ideen und dem Willen, etwas zu tun, Sie sind mehr als zuvor bereit sich zusammenzuschließen. Irgendwann müssen die Menschen mit der Opposition arbeiten, wenn es zu einem Regierungswechsel kommt, werden auch einige der Oppositionspolitiker Führung übernehmen müssen.
Was macht Sie sicher, dass die aktuellen Proteste nachhaltig Veränderung bringen?
Es ist das erste Mal, seit Vučić und seine Partei (SNS) an der Macht sind, dass Menschen, die nie wach waren, jetzt aufgeweckt wurden, diejenigen, die sich nicht für Politik interessiert haben, sind jetzt bei den Protesten, einige haben seit November an Hunderten teilgenommen, manche kommen bis zu 5 x pro Woche. Diese Bewegung hat etwas Fantastisches bewirkt, große Teile der Bevölkerung sind besser informiert, sie erkennen leicht Fehler, durchschauen die Boulevardklatschpresse, orchestrierte Kampagnen gegen bestimmte Personen. Menschen, die früher keine Hoffnung hatten, wissen jetzt Bescheid und merken, wenn man bestimmte Dinge erfährt, kann man sie nicht mehr vergessen.
Wie können die Forderungen der Proteste in die Politik umgesetzt werden? Welche Erwartungen haben Sie für nächste politische Schritte?
Was die nächsten Schritte angeht, so werden wir am 15. März einen massiven Protest in Belgrad haben, möglicherweise den bisher größten. Dieser Tag kann ein Wendepunkt sein, einige Dinge werden nach dem 15. März klarer werden. Die Menschen denken wirklich, dass dies der Tag sein könnte, an dem wir die Geschichte verändern werden.
Es gibt die Idee einer Übergangsregierung, ich fürchte das ist nicht etwas das bald geschehen wird, Präsident Vučić sagte diesen Montag: „You'll have to kill me to get a transitory government" („Um eine Übergangsregierung zu bekommen, müsst ihr mich töten").
2. Ivana Nikolić, Youth Initiative for Human Rights, Journalistin
Wie ist der Zustand der Medienfreiheit in Serbien?
Viele Medienbeobachter haben Bedenken geäußert, dass Serbien zu einer Drehscheibe für russische Desinformationen geworden ist, da staatliche russische Medien wie RT Balkan und Sputnik Serbien ungehindert Desinformationen und Fake News verbreiten. Diese Situation fördert ein gefährliches, feindseliges und undemokratisches Umfeld für Journalist*innen und schafft erhebliche Hindernisse für serbische Bürgerinnen und Bürger, die beim Zugang zu zuverlässigen Informationen auf zahlreiche Hindernisse stoßen.
Worum geht es bei der Blockade von RTS und anderen staatlichen Sendern?
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten RTS (Radio Televizija Srbije) und RTV (Radio Televizija Vojvodine) sowie viele andere staatliche und private Medien in Serbien sind seit langem auf die Interessen der serbischen Regierung ausgerichtet. RTS und RTV haben das Zeitgeschehen immer sehr einseitig dargestellt, was zu einem erheblichen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in diese Institutionen geführt hat. In der Vergangenheit haben die Bürger wiederholt gegen die Berichterstattung von RTS protestiert.
Mit der Blockade von RTS und RTV in Belgrad und Novi Sad forderten Studierende eine objektivere Berichterstattung über ihre Proteste gegen Korruption. Ausgelöst durch einen RTS-Reporter, der die Studenten als „rulja“ bezeichnete, eine höchst abfällige Bezeichnung für ‚Mob‘ im Serbischen, dauerte der Protest 22 Stunden mit Zusammenstößen mit der Polizei. RTS und Präsident Vučić behaupteten fälschlicherweise, ein Polizeibeamter sei von Demonstranten verletzt worden, was dazu führte, dass Tausende vor RTS protestierten und die Ausstrahlung eines Videos des Angriffs forderten. Als dieses veröffentlicht wurde, zeigte es, dass der Beamte von seinen Polizeikollegen und nicht von Studenten angegriffen worden war. Die Studenten und Bürger fordern eine unvoreingenommene, objektive Berichterstattung und haben das Recht, wütend zu sein.
3. Bojan Elek, unabhängiger politischer Analyst und Journalist
Wie ist der Zustand der Pressefreiheit in Serbien?
Die Pressefreiheit in Serbien befindet sich seit Jahren im freien Fall, und das Land schneidet in weltweiten Indizes zur Pressefreiheit schlecht ab. Die Regierungspartei hat die Kontrolle über die wichtigsten Medien konsolidiert, insbesondere über das Fernsehen, das für die meisten Bürger die wichtigste Informationsquelle bleibt. Investigative Medien und unabhängige Journalisten sind ständigem Druck ausgesetzt, einschließlich rechtlicher Schikanen (SLAPPs), finanzieller Drohungen und sogar physischer Gewalt.
Die Studentenproteste haben deutlich gemacht, wie die staatlich kontrollierten Medien die Berichterstattung manipulieren, indem sie sich vor allem auf die extrem parteiische und unprofessionelle Berichterstattung des staatlichen Rundfunks konzentrieren. Dies hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Mainstream-Medien weiter geschwächt und dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen an unabhängige Informationsquellen wenden, insbesondere an die sozialen Medien, wo Desinformation weit verbreitet ist. Untersuchungen zeigen, dass die Serben aktiv die Mainstream-Nachrichten meiden, mehr als in jedem anderen Land der Region, was viel über ihr Vertrauen aussagt.
Welches Potenzial haben diese Massenproteste für die Situation der Medien?
Die Besetzung von RTS war ein starker Aufruf für eine professionelle nationale Rundfunkanstalt, die im öffentlichen Interesse arbeitet, aber für einen dauerhaften Wandel braucht es mehr als symbolische Akte wie diese. Solange der Druck nicht aufrechterhalten wird, wird das Mediensystem auch weiterhin schief sein. Ein echter Wandel bedeutet, die staatliche Kontrolle über die Medienfinanzierung zu brechen, das Netz der Desinformationsakteure zu zerschlagen und unabhängige Journalisten zu schützen. Die Proteste haben als Katalysator gewirkt, aber es bleibt noch viel zu tun.
Wie können die Forderungen der Proteste in die Politik umgesetzt werden? Welche Erwartungen haben Sie für nächste politische Schritte?
Die große Herausforderung besteht darin, die erstaunliche Energie der Straße in einen echten, greifbaren politischen Wandel zu verwandeln. Das System wird von der Regierungspartei beherrscht und die Opposition ist schwach und gespalten. Deshalb stehen die Studenten im Zentrum der politischen Auseinandersetzung, als Akteure, die den Wandel vorantreiben, aber noch keine klaren Forderungen für eine langfristige institutionelle Veränderung formulieren, die über das Beharren auf Rechtsstaatlichkeit und politischer Rechenschaftspflicht hinausgeht. Viele sehen die einzige Möglichkeit für einen friedlichen Ausgang in der Einsetzung einer fachkundigen, technischen Regierung mit einem begrenzten Mandat, um die Forderungen der Studenten zu erfüllen und das Land auf freie und faire Wahlen vorzubereiten.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den Demonstrierenden und der Opposition?
Obwohl die Demonstranten und ihre Anhänger eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck bringen, führt dies nicht unbedingt zu einer Unterstützung der Opposition. Vielleicht hat der taktische Schachzug der Studierenden in der Anfangsphase - nämlich sich ganz von Politikern, Bewegungen und NRO fernzuhalten - sicherlich zu ihren anfänglichen Erfolgen beigetragen. Aber für eine politische Lösung muss es einen politischen Prozess geben, und die Opposition ist der natürliche Partner in diesem Prozess. Wir müssen abwarten, wie sich dieser Prozess entwickelt, insbesondere jetzt, da der serbische Ministerpräsident zurückgetreten ist und eine neue Regierung gebildet oder allgemeine Wahlen organisiert werden müssen.
Was erwarten Sie für den 15. März?
Ich hoffe, dass es nicht zu der vom serbischen Präsidenten angekündigten massiven Gewalt kommen wird. Nach den ersten Informationen handelt es sich um den potenziell größten Protest in der Geschichte Serbiens. Die Regierungskoalition ist sichtlich geschwächt, und es wird immer schwieriger, Unterstützer zu finden, während auf den Straßen Belgrads möglicherweise mehrere hunderttausend Menschen protestieren. Darüber hinaus sorgen die Studenten für ein Überraschungsmoment, indem sie alle Pläne nicht zu lange im Voraus bekannt geben, um Störungen zu vermeiden. Was auch immer an diesem Samstag geschieht, es steht viel auf dem Spiel und die Tragweite wird bedeutend sein.
4. Ivanka Popović, Professorin, ehem. Direktorin Universität Belgrad, Proglas
Wie sehen Sie diese Proteste im Vergleich zu denen, die Serbien in den letzten Jahren erlebt hat, was ist anders?
Der Unterschied wäre das wachsende Bewusstsein im Land, dass die grassierende Korruption und der Machtmissbrauch durch die Regierungspartei in Serbien das Leben und das Wohlergehen der serbischen Bürger direkt gefährden. Der Einsturz des Vordachs in Novi Sad, bei dem 15 Menschen getötet und 2 verstümmelt wurden, war der bisher extremste Fall von staatlichem Missbrauch und fehlender Rechtsstaatlichkeit.
Im vergangenen Jahr gab es viel Widerstand gegen den geplanten Lithiumabbau im serbischen Jadar-Tal. Ist das Projekt derzeit vom Tisch?
Nein, das Projekt ist nicht vom Tisch und wird diskreter weitergeführt. Der Ursprung der Probleme im Zusammenhang mit dem Jadar-Projekt ist jedoch derselbe wie bei der Tragödie von Novi Sad. Daher beziehen sich die aktuellen Proteste implizit auch auf die Probleme im Zusammenhang mit dem Jadar-Projekt.
Eine entscheidende Frage ist, wie die Forderungen der Proteste in politische und parlamentarische Maßnahmen umgesetzt werden können.
Da die Proteste in einem „Captured state“ stattfinden, sind die üblichen politischen und parlamentarischen Maßnahmen eine Herausforderung. Im Moment sind Massenproteste das wirksamste Mittel, um die Forderungen der Öffentlichkeit nach Rechtsstaatlichkeit und unabhängigen Institutionen zu vermitteln.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den Demonstranten und der Opposition?
Es gibt aus verschiedenen Gründen fehlendes Verständnis zwischen beiden Seiten, und die Opposition muss die Folgen ihrer früheren schlechten Leistungen ausbaden. Andererseits müssen beide Seiten Wege zur Zusammenarbeit finden, um die aktuelle Situation zu lösen.
Wie lässt sich das Vertrauen der Menschen in Politik zurückgewinnen?
Die politischen Parteien und die Politiker werden große Anstrengungen unternehmen müssen, um das Vertrauen zurückzugewinnen. Die Oppositionsparteien im nationalen Parlament täten gut daran, von den Erfahrungen der Bürgerinitiativen und -bewegungen zu lernen, die sich in den lokalen Gemeinschaften mit relevanten Themen beschäftigen.
5. Radomir Lazović, Co-Vorsitzender der Partei Grün-Linke Front (Zeleno-Levi Front)
Wofür steht die Opposition in der aktuellen politischen Krise, welche politischen Vorschläge hat die Grün-Linke Front?
Serbien befindet sich in der größten politischen Krise, die es bisher gab. Die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger kulminierte nach dem Tod von 15 Menschen infolge von Korruption beim Umbau des Bahnhofs in Novi Sad. Hunderttausende Menschen sind in jeder Gemeinde und in über 300 bewohnten Orten Serbiens aufgestanden und haben die Verantwortung für die Folgen der Korruption eingefordert: dass die Institutionen ihre Arbeit machen, dass die Gesetze für alle gleichermaßen gelten und dass die Medien objektiv über soziale Probleme berichten.
Die Bürger sehen und spüren diese Probleme auf Schritt und Tritt und in ihrem täglichen Leben. Die Behörden haben keine Antwort auf die Forderungen der Studierenden, außer sich vor der Verantwortung zu drücken und nun Gewalt zu provozieren. Die höchsten Staatsbeamten kündigen an, dass es bei den Protesten in Belgrad am 15. März zu beispielloser Gewalt kommen wird, und einige, wie Vladimir Đukanović, Abgeordneter der Serbischen Fortschrittspartei SNS, gehen so weit, die Erschießung und Tötung von versammelten Bürger*innen und Studierenden anzukündigen.
Die Grün-Linke Front ist der Ansicht, die einzige Lösung, um aus dieser Krise herauszukommen, ist die Bildung einer Übergangsregierung, mit einem zeitlich begrenzten Mandat ausgestattet, um freie Wahlen und freie Medien zu gewährleisten und den Diebstahl öffentlicher Gelder durch große Infrastrukturprojekte dringend zu beenden.
Da in Serbien vor kurzem Wahlen stattfanden, die auf brutale Weise gestohlen wurden, das Europäische Parlament hat dazu eine Resolution verabschiedet, die den Diebstahl verurteilt, bestünde eine der Hauptaufgaben dieser Regierung darin, das Wählerverzeichnis zu überarbeiten und die Voraussetzungen für faire Wahlen zu schaffen. Die Regierung hätte auch die Aufgabe, die Bedingungen für objektive Medienberichterstattung zu schaffen. Die Medien, die heute vom Regime kontrolliert werden, müssen befreit werden, insbesondere diejenigen, die die nationalen Frequenzen und den öffentlichen Dienst nutzen, die zu Propagandakanälen des Regimes geworden sind.
Die Grün-Linke Front hat Treffen aller Oppositionsparteien initiiert und wird darauf bestehen, dass außerparlamentarische Organisationen und die Zivilgesellschaft, wie die Organisation ProGlas, in die Harmonisierung dieses Vorschlags einbezogen werden, damit er bei den Protesten die größtmögliche Unterstützung durch die Bürger*innen erhält, da er sonst von den Behörden manipuliert wird.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den Demonstrierenden und der Opposition?
Es handelt sich um Studierendenproteste, die von einer großen Zahl von Bürger*innen aller politischen Richtungen, aber auch von der Mehrheit der gesellschaftlichen Gruppen wie Anwält*innen, Landwirt*innen und Pädagog*innen unterstützt werden. Die Oppositionsparteien haben dabei die Aufgabe, die Forderungen der Studierenden zu unterstützen und politisch zu artikulieren. In dem Vorschlag, den wir für die Übergangsregierung unterbreitet haben, besteht der erste Schritt darin, die Forderungen der Studierenden zu erfüllen, damit Serbien vorankommen kann.
Wie kann das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückgewonnen werden?
Indem wir gemeinsam und auf jede erdenkliche Weise dafür kämpfen, das kriminelle Regime der serbischen Fortschrittspartei zu überwinden und eine Gesellschaft der Gleichheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Entwicklung zu schaffen. Die Grün-Linke Front ist der Meinung, dass dieser Kampf auf allen Wegen geführt werden muss, einschließlich in den Institutionen, in juristischen Prozessen, bei Protesten und Blockaden und durch die Einholung internationaler Unterstützung.
Was sind die Erwartungen für den 15. März?
Wir sind sehr besorgt über die ständigen Spaltungen und die Versuche der Behörden, Konflikte zu schüren. Während ich dies schreibe, organisiert die SNS ihre eigene Gegenveranstaltung und baut ein Lager für ihre Anhänger genau in dem Gebiet auf, in dem die Studierenden am 15. März protestieren wollten. Dies ist ein großes Sicherheitsrisiko, vor allem wenn man bedenkt, dass sich in diesem Lager bekannte Kriminelle, Schläger und sogar Teile der Strukturen des Regimes von Slobodan Milošević befinden, die an den Kriegen in Bosnien und Kroatien beteiligt waren. Es scheint, dass die Regierung Konflikte und Gewalt provozieren will, was wir aufs Schärfste verurteilen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung besteht aus Sicht der Opposition Anlass zur Sorge, dass Präsident Aleksandar Vučić im Zuge des anstehenden Protestwochenendes plant, die Immunität von Oppositionsführern aufzuheben um sie unter dem Vorwurf des Terrorismus und der Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung zu verhaften.
Teile der Interviews sind mit künstlicher Intelligenz aus dem Englischen und Serbischen übersetzt.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de