Europa muss sich in Nahost von den USA emanzipieren

Kommentar

Um eine dauerhafte Friedenslösung in Nahost nicht zu gefährden, muss sich die EU von den USA emanzipieren. Das Völkerrecht sollte dabei als Richtschnur gelten, schreibt Simon Ilse, Büroleiter in Ramallah.

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Simon Ilse
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Simon Ilse, Büroleitung Ramallah

Nach 16 Monaten Krieg und Vertreibung, bei denen fast 50.000 Menschen im Gazastreifen getötet wurden, droht nun eine weitere Eskalation: Seit dem Inkrafttreten der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas im Januar hat sich der Fokus der Israel Defense Forces (IDF) und extremistischer Siedler auf das Westjordanland verlagert. Dort wurden in den vergangenen Wochen rund 40.000 Menschen vertrieben, vor allem aus Dschenin, Tulkarm und anderen Orten im Norden des seit 1967 völkerrechtswidrig besetzten Gebietes, ihre Häuser von Bulldozern zerstört.

Gerade deswegen ist es entscheidend, an dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen festzuhalten. Dieser wurde am Tag vor dem Amtsantritt Donald Trumps im Januar vereinbart. Seitdem sind in mehreren Runden 33 israelische Geiseln gegen Hunderte palästinensische Gefangene ausgetauscht worden. Bis zu den massiven israelischen Luftangriffen diese Woche wurde die Waffenruhe weitgehend eingehalten. Eigentlich sollte Anfang März die zweite Stufe des Abkommens beginnen, die die Freilassung der 62 weiterhin von der Hamas festgehaltenen Geiseln sowie den Rückzug der Israel Defense Force (IDF) aus Gaza vorsieht. Das wäre ein wesentlicher Schritt für humanitäre Versorgung, Wiederaufbau und einen dauerhaften Friedensprozess.

Die EU sollte darauf bestehen, dass internationale Abkommen und das Völkerrecht eingehalten werden.

Um diese Ziele zu erreichen, muss Europa sich angesichts der Abkehr Trumps von der transatlantischen Partnerschaft schnell neu positionieren. Die EU sollte darauf bestehen, dass internationale Abkommen und das Völkerrecht eingehalten werden. Dies bedeutet mit Blick auf den Konflikt in Nahost konkret, Verantwortung zu übernehmen:

  • Grenzübergang Rafah: Die EU muss ihre Rolle durch die Mission der European Union Border Assistance Mission (EUBAM) stärken.
  • Diplomatische Eigenständigkeit: Europäische Politik darf sich nicht von Konzepten wie der „Gaza Riviera“ oder den Abraham Accords treiben lassen, die die palästinensische Frage ausblenden, sondern eigene Ideen entwickeln.
  • Eine einheitliche europäische Position: Oder zumindest eine Vorreiterrolle jener EU-Staaten, die aktiv eine Friedenslösung vorantreiben wollen. Deutschland hat durch seine bedingungslose Unterstützung Benjamin Netanjahus viel Vertrauen eingebüßt – sowohl bei den Palästinensern als auch bei arabischen Partnern sowie progressiven Israelis. Es ist wichtiger denn je, zwischen dem Existenzrecht Israels und der Politik der Regierung Netanjahu zu unterscheiden.

Europa muss jetzt mutig und selbstbewusst auftreten

Europa hat jetzt die Gelegenheit, sich angesichts von Vertreibungsfantasien à la „Trump Gaza“ als glaubwürdiger Akteur neu aufzustellen. Dazu müssen mehrere Prozesse gleichzeitig angestoßen werden:

  • Gemeinsame Initiativen mit arabischen Partnern: Mit Ägypten, Jordanien sowie den Schutzmächten Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten muss ein Gegenvorschlag zur Zukunft Gazas erarbeitet werden. Auf den Vorschlag der Arabischen Liga kann aufgebaut werden.
  • Stärkung der UN-Rolle: Nach dem „Funding Freeze“ der USA könnte Europa der UN eine neue Bedeutung in der Region geben und eine gemeinsame Vision für die vorhandenen Blauhelme der UN-Peacekeeping-Missionen anregen.
  • Anerkennung Palästinas durch die EU: Spanien, Irland und Norwegen haben es vorgemacht. Die Gleichbehandlung des Selbstbestimmungsrechts von Israelis und Palästinensern wäre ein „Game-Changer“ – nicht zwingend nur im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung.
  • Klärung der palästinensischen Repräsentation: Ein Mechanismus und eine Roadmap zur Legitimation durch Wahlen müssen geschaffen werden. Dies schließt die Freilassung palästinensischer Häftlinge durch Israel mit ein.
  • Völkerrecht als Richtschnur: Deutschland und Europa müssen für eine völkerrechtsbasierte Weltordnung eintreten, die trotz aller Unvollkommenheiten eine Alternative zur Machtpolitik von Trump, Putin und Xi darstellt.
  • Rechtsdurchsetzung internationaler Urteile: Der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (ICC) müssen eine zentrale Rolle spielen. Israel muss die Siedlungspolitik im Westjordanland bis September 2025 beenden, wie es die UN-Mehrheit fordert. Der Haftbefehl gegen Netanjahu müsste bei Einreise auch in Deutschland vollstreckt werden.

Diese Schritte sind weder innerhalb der EU noch in Bezug auf die USA ohne Konflikte umsetzbar. Doch die geopolitischen Verhältnisse wandeln sich rapide. Europa muss jetzt mutig und selbstbewusst auftreten – oder es riskiert, in einer zunehmend kompetitiven Welt weiter an Einfluss zu verlieren. Im besten Falle können eine Waffenruhe aufrechterhalten und erste Schritte im Friedensprozess mit europäischer Beteiligung angestoßen werden, im schlechtesten droht eine Eskalation zwischen Trump und Netanjahu mit dem Iran. Letzteres wäre gegen alle Interessen Europas.


Dieser Text erschien zuerst am 18. März 2025 bei Table.Briefings.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de