Im baden-württembergischen Steinheim stellt ein Wohnquartier auf klug kombinierte Erneuerbare um – in Form eines kommunalen Niedertemperatur-Wärmenetzes. Das Projekt zeigt vorbildlich, wie sich die Wärmewende im Kleinstadt-Gebäudebestand ökologisch sinnvoll, technisch pragmatisch, finanziell günstig und dazu noch nah an den Bürger*innen gestalten lässt.
Steinheim an der Murr kennt man, wenn überhaupt, wegen des Schädels einer 25-Jährigen, die hier vor 400.000 Jahren gelebt hat. Der Homo steinheimensis ist die Sensation des Urmensch-Museums vor Ort. Nun aber ist die Kleinstadt auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Heilbronn dabei, sich auf deutlich heutigerem Feld einen neuen Namen zu machen. Denn Steinheim bekommt ein Niedertemperatur-Wärmenetz, das eine Blaupause entwirft für die kommunale Wärmewende: Man baut hier im kleinstädtischen Gebäudebestand, man nimmt die Menschen bei allen Planungsstufen mit, man setzt auf ausdifferenzierte Wärmequellen.
Eigentlich wollte der Bürgermeister vor vier Jahren von der Energieagentur Kreis Ludwigsburg (LEA) nur einen Sanierungsfahrplan für das Rathaus. Dabei aber ist es nicht geblieben. Raphael Gruseck, bei der LEA Experte für Wärmewende und kommunalen Klimaschutz und gleichzeitig Geschäftsführer der „Wärmenetz Steinheim GmbH“, erzählt: „Bei einer Begehung vor Ort kam die Frage auf, warum eigentlich das Freibad pro Jahr eine halbe Million Kilowattstunden Erdgas verbrennt, während auf der anderen Straßenseite auf dem Schul- und Sportcampus eine Heizzentrale auf Hackschnitzelbasis steht.“ Er und seine Kollegen von der LEA wollten wissen: Könnte der Erneuerbaren-Kessel auf dem Schulgelände nicht das Freibad mitversorgen? Könnte man hier nicht Dinge zusammendenken? Und warum Wärmewende, wie so oft in Deutschland, erstmal nur für kommunale Gebäude machen? Warum nicht in die Breite der Bebauung gehen – und von der Achse zwischen Schule und Freibad aus ein Wärmenetz legen, das sich in die angrenzenden Wohnstraßen hinein verästelt? Denn die Einzel-, Doppel-, und Reihenhäuser in dem Quartier rund um den Campus sind mehrheitlich aus den 1970er und 1980er Jahren. Heizung und Warmwasseraufbereitung laufen hier meist noch mit Öl oder Gas.
Ein multivalentes Versorgungsnetz mit Leuchtturmcharakter im Muster-Land
Die LEA, so sagt es Gruseck, „sucht immer nach Potenzialen und animiert zu mehr“. Also überlegen er und die Kollegen, wie in Steinheim nicht nur das Rathaus energetisch saniert, sondern woher Energie für ein Quartierswärmenetz kommen könnte. Und machen weitere Entdeckungen: Der Parkplatz des Freibads ist baumlos, oft klagen die Besucher*innen im Sommer über zu heiße Autos. Eine über dem Parkplatz aufgeständerte Solarthermieanlage könnte hier für Schatten sorgen – und natürlich für Wärme. Auf dem Schulgelände gibt es außerdem ungenutzte Flächen, die mit einer großen Wärmepumpe, einem Biomethan-Blockheizkraftwerk und einem Wärmespeicher bebaut werden könnten. Und: Das Quartier grenzt ans freie Feld. Da ließe sich doch mit Landwirten über Flächen für weitere Solarthermie-Anlagen verhandeln. Der LEA sei schnell klar gewesen, dass Steinheim genügend lokales Potenzial für ein „multivalentes“, also ein auf mehreren Energiequellen basierendes Wärmeversorgungsnetz habe, erzählt Gruseck. Und fügt an: „Wir müssen nur die Möglichkeiten erkennen. Und dann lokal passende Lösungen entwickeln. Wichtig ist, zeitnah mit der Umsetzung zu beginnen.“
Die LEA ist Innovationstreiberin bei der Dekarbonisierung der Wärmeversorgung und der Installation von Wärmenetzen im Landkreis Ludwigsburg mit seinen rund 550.000 Einwohner*innen. Sie ist eine von über 30 regionalen, kreisweit tätigen Energie- und Klimaschutzagenturen in Baden-Württemberg, die das Land als zentrale Akteurinnen bei der Umsetzung seiner ambitionierten Klimaschutzbestrebungen sieht und entsprechend fördert. Schließlich hat Baden-Württemberg schon vor zwei Jahren alle großen Kreisstädte und Stadtkreise verpflichtet, bis Ende 2023 eine kommunale Wärmeplanung aufzustellen – eine Geschwindigkeit, die das Land bundesweit zum Vorreiter macht, die aber auch viel Logistik benötigt. Schon von 2002 bis 2015 haben neu gegründete Energieagenturen durch das baden-württembergische Umweltministerium eine Anschubfinanzierung erhalten. Von ihrer Organisation her steht die Energieagentur Kreis Ludwigsburg (LEA) beispielhaft da: 2006 als gemeinnütziger Verein gegründet, bestehen ihre Mitglieder heute aus dem Landkreis und seinen 36 Kommunen, der Kreishandwerkerschaft, den Stadtwerken und dem örtlichen Energieversorger, verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften und Solarinitiativen sowie Privatpersonen. Gefördert wird die LEA durch das Land, den Landkreis sowie die Stiftung „Natur- und Umweltschutz“ der Kreissparkasse.
Als Geschäftsführer Anselm Laube vor fünf Jahren einen Neustart der LEA plante, hatte sie nur externe Mitarbeiter*innen. Inzwischen sind es 35 Festangestellte. Gruseck berichtet: „Wie bei allen Klimaschutzberufen gilt: Fachkräfte bekommen wir nur schwer. Also müssen wir strategisch Berufs- und Quereinsteiger*innen aus- und weiterbilden.“ Die bei der LEA geschulten Energieberater*innen und Klimaschutzmanager*innen beraten Kommunen und Privathaushalte, kümmern sich um Umweltbildung, Sanierungsmanagement und nachhaltige Mobilität - alles, was „eben nötig ist für die vielen anstehenden Wenden“. Besonders das Steinheimer Modellprojekt werde weithin wahrgenommen, habe schon jetzt Leuchtturmcharakter und rege auch über die Kreisgrenzen hinaus klimaneutrale Wärmeversorgung im Gebäudebestand an.
Perspektivisch Anschlussquote von 90 Prozent möglich
Nachdem in Steinheim 2021 die Idee für das Wärmenetz geboren ist und im Stadtrat auf offene Ohren stößt, wird zunächst ein integriertes Quartierskonzept erarbeitet: Die LEA kartiert den Gebäudebestand und führt Anwohnerumfragen durch. Eine erste öffentliche Infoveranstaltung im April 2022 ist sehr gut besucht, schon im Oktober fasst die Kommune den Beschluss, das Netz zu bauen. Sie gründet die Projektgesellschaft „Wärmenetz Steinheim GmbH“, die eine 100-prozentige Tochter der Stadt ist. Diese GmbH wird die Eigentümerin des zukünftigen Wärmenetzes sein – eine Verpachtung ist im Unterschied zu vielen anderen Kommunen, die Wärmenetze bauen, nicht beabsichtigt – und die Lieferverträge mit den Kund*innen abschließen. Die Stadt Steinheim selbst wird der größte Netzkunde. Die GmbH arbeitet wirtschaftlich, aber nicht gewinnorientiert – was für viele Bürger*innen ein überzeugendes Argument ist, die kommunale Nahwärme abzunehmen. Sie behält die strategische und administrative Betriebsführung, die technische wird ausgelagert an lokale Akteure wie Heizungsbauer und andere Netzbetreiber.
Im Rahmen der nationalen Klimaschutzinitiative (NKI) des Bundeswirtschaftsministeriums fließen knapp 6,5 Millionen Euro in die erste Projektphase, gekoppelt an die Auflage, das Netz bis 2025 zu realisieren und eine Anschlussquote von 40 Prozent zu erreichen. Schon jetzt ziehen knapp 400 der gut 800 Haushalte im Projektgebiet mit, die Quote ist also erreicht. Die LEA hält es jedoch für möglich, perspektivisch auf eine Quote von 90 Prozent zu kommen. In zwei weiteren Ausbauabschnitten sollen die nächsten Wohngebiete ans Netz angeschlossen werden.
Anfang 2024 geht es zunächst in die Ausschreibungsphase, dann kommt der Baubeginn, spätestens im Herbst 2025 soll das Netz den Betrieb aufnehmen – als eine kluge Erzeugerkombination für Heizwärme und Warmwasser. Herzstück des Systems ist die Solarthermie-Anlage über dem Freibad-Parkplatz, die von Mai bis September im Alleingang ausreichend Wärme liefert. In der Übergangszeit kommt die Luft-Wasser-Wärmepumpe hinzu. Wenn es im Winter sehr kalt wird, springen die beiden Hackschnitzelkessel auf dem Schulcampus an, gefüttert mit städtischem Grünschnitt. Die Gasheizung des Freibads wird für absolute Spitzenlastzeiten vorgehalten, aber mittelfristig wohl nicht mehr benötigt. Über das Jahr gemittelt sollen Solarthermie und Wärmepumpe geschätzt jeweils 30 Prozent, der Biomassekessel 20 Prozent, eine zusätzliches Spitzenlast-BHKW 15 Prozent und die Gasheizung 5 Prozent der benötigten Wärme erzeugen. Ein 800-Kubikmeter-Warmwasserspeicher speichert die von der Solarthermie-Anlage tagsüber erzeugte Wärme und kann so alle angeschlossenen Haushalte mehrere Tage lang versorgen. Mit dem Speicher in der Hinterhand können auch die anderen Erzeuger flexibler fahren: Die Wärmepumpe kann zum Beispiel dann betrieben werden, wenn der Strompreis gerade niedrig ist.
Anpassungskosten für Privatleute sinken auf ein Drittel
Bei einem Niedertemperaturnetz wie dem in Steinheim ist Effizienz das A und O. Es hat keine Vorlauftemperatur von 80°C, sondern nur noch von 55°C im Winter und 50°C im Sommer. Bei solchen Temperaturen wird die Wärme effizienter produziert, weil sich ein niedriges Temperaturniveau im Verhältnis mit deutlich weniger Energie erreichen lässt. Gleichzeitig sinken in Niedertemperatur-Netzen aus physikalischen Gründen die Wärmeverluste, u.a. wegen der hohen Bebauungsdichte und der geringen Differenz zur Umgebungstemperatur, auf 5-6 Prozent. Das ist, auch im Vergleich zu anderen Wärmenetzen mit hohen Vorlauftemperaturen, die teils bis zu 30 Prozent Verlust haben, enorm wenig und spart Energiekosten direkt ein. Neben den neuen, besser isolierten Rohrleitungen müssen aber auch die Häuser moderat angepasst werden: Oft reicht der Fenstertausch – der in vielen Fällen schon passiert ist. Alternativ können moderne Plattenheizkörper mit größerer Oberfläche eingebaut werden. In einem letzten Schritt wird die Hausanschlussleitung gebaut, eine Übergabestation mit Wärmetauscher und Steuerung installiert sowie eine Frischwasserstation zur hygienischen Trinkwarmwasserbereitung eingerichtet.
All diese Anpassungsschritte verursachen Kosten. Die Bewohner*innen zu Finanzierungs- und Förderungsfragen zu beraten ist die Aufgabe von LEA-Sanierungsmanager Florian Kamp. Seinen Job gibt es, weil Steinheim ein integriertes Quartierskonzept zur energetischen Stadtsanierung erstellt hat und dadurch für die KfW förderfähig wurde. Die Einrichtung eines Sanierungsmanagements, das in Sanierungsprojekten vor Ort Akteur*innen aktivieren und vernetzen, Umsetzungsschritte koordinieren sowie als Ansprechpartner fungieren soll, ist zentraler Bestandteil des KfW-Programms.
Und all das tut Florian Kamp: während der Sprechstunden in seinem Büro, am Telefon, an der Haustür, übers Amtsblatt, per Postwurfsendung, auf Veranstaltungen. Er erstellt individuelle Sanierungsfahrpläne, hilft bei Förderanträgen und nennt konkrete Ausbaupläne für bestimmte Straßenzüge. Es ist aufwändig. Die meisten im Projektgebiet sind Einzeleigentümer*innen, brauchen also sowohl das Einzelgespräch als auch einen, „gewissen Meinungsbildungszeitraum“. Aber meist begriffen sie dann: Die Umstellung von Fossilen auf Erneuerbare kommt so oder so. Das Thema von der Installation bis zur Wartung von einer kommunalen Wärmenetzgesellschaft erledigt zu bekommen, ist ein Privileg. Dafür kann man im Gegenzug auch privat etwas tun.
Die Kosten sind überschaubar: Im Durchschnitt fallen für Anschluss, Übergabestation, Fenstertausch oder die neuen Heizkörper nach Abzug öffentlicher Zuschüsse noch 12.000 bis 13.000 Euro an. Ein privat eingebauter Pellet-Ofen oder eine Wärmepumpe sind doppelt bis dreifach so teuer. Letztere nimmt bei einem schmalen Reihenhaus eh zu viel Platz auf der Terrasse weg. Eine ideologisch aufgeladene Diskussion sei in Steinheim gar nicht erst entstanden. Schließlich, so Florian Kamp, gebe es für eine klimaneutrale Heizung viele Gründe: die Abhängigkeit von fossilen Energien, den Klimawandel, die Energiepreise. Und wenn die Bewohner*innen im Steinheimer Projektgebiet erst begriffen, dass erneuerbar erzeugte lokale Nahwärme bei Betrachtung der Vollkosten – in die man z.B. bei einer Gasheizung neben dem reinen Brennstoffpreis ja auch Kosten für Energieverluste, Strom für die Therme, Wartungsarbeiten und den Schornsteinfeger hineinrechnen muss – schon heute günstiger und auch langfristig preisstabiler sei, dann verzichteten sogar schwäbische Preisfüchse gern auf ihren ausgeklügelten Heizöleinkauf.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de