Mit gezielten Infrastrukturinvestitionen können wichtige Impulse für die soziale und ökologische Modernisierung gesetzt werden. Gute Beispiele sind die Kinderbetreuung, das Bahnnetz und Wasserstoff als Teil der Energiewende.
Die Investitionen in die öffentliche Infrastruktur wurden in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten massiv vernachlässigt. Über einen Horizont von rund zwanzig Jahren hat der Staat in der Summe weniger für neue Kapitalgüter ausgegeben als für ihre Nutzung abgeschrieben wurde. Der öffentliche Kapitalstock ist also kleiner geworden, obwohl in der gleichen Zeit die Einwohnerzahl merklich gestiegen ist, das Verkehrsaufkommen kräftig zugenommen hat und das Bruttoinlandsprodukt bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie um über 60 Prozent gewachsen ist. Der verschlissene Kapitalstock ist nicht nur unangenehm im Alltag der Bürgerinnen und Bürger, weil etwa Brücken gesperrt sind oder sich Züge verspäten, sondern hat auch handfeste negative wirtschaftliche Folgen. So beklagen bereits heute immer mehr Unternehmen, dass ihre Geschäftstätigkeit von Mängeln in der Infrastruktur behindert wird. In den kommenden Jahren fordern zudem zwei Trends die Gesamtwirtschaft und speziell die Industrie heraus: die Demografie und die notwendige Dekarbonisierung. Deutschlands Erwerbsbevölkerung schrumpft absehbar, wodurch der Mangel an Fachkräften zunehmen dürfte. Global verpflichtet das Pariser Klimaabkommen die unterzeichnenden Staaten, die Emissionen von Treibhausgasen wie CO2 innerhalb weniger Jahre erheblich zu reduzieren, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad – und möglichst unter 1,5 Grad – gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Allerdings mangelt es an sowohl günstigen als auch umweltfreundlichen Energiequellen, mit denen der Industrie die Umstellung von CO2 -intensiver zu CO2 -neutraler Produktion gelingen könnte. Wird vor diesem Hintergrund nach dem Prinzip „Einfach weiter so“ verfahren, so dürften bereits innerhalb der nächsten zwei Legislaturperioden die negativen Folgen deutlich werden. Für viele große Industrieanlagen in Deutschland stehen Erneuerungsinvestitionen an, und zahlreiche Unternehmen wären durchaus bereit, diese Investitionen mit klimafreundlichen Technologien hierzulande vorzunehmen. Dafür brauchen sie aber klare Perspektiven hinsichtlich der regulatorischen Rahmenbedingungen und eine entsprechende forschungs- und industriepolitische Unterstützung. Fehlt diese Planungssicherheit, ist zu erwarten, dass sich die Firmen zu ungunsten von Standorten in Deutschland entscheiden.
Ein anhaltender Investitionsstau ohne erkennbare Modernisierungsdynamik könnte also zu einer Abwärtsspirale aus Unternehmensabwanderungen, Werksschließungen und generellem Zukunftspessimismus führen. Der Verlust von Arbeitsplätzen würde die Probleme im Rentensystem verschärfen, das in den kommenden Jahrzehnten ohnehin schon bei einer schrumpfenden Zahl Erwerbstätiger eine steigende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern finanzieren muss. Verfügbare Einkommen der breiten Bevölkerung würden dann stagnieren, was wiederum in einer Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte resultieren könnte. Ein Alternativszenario wäre, öffentliche Investitionen in drei infrastrukturellen Kernbereichen über die kommenden Jahre massiv aufzustocken: in der frühkindlichen Bildung, im Schienenverkehr und für den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur als weitere Komponente der Energiewende. Trotz eines kräftigen Ausbaus der frühkindlichen Betreuung im vergangenen Jahrzehnt wurden 2018 in Deutschland noch 70 Prozent der Kinder unter drei Jahren ausschließlich zuhause betreut. In Frankreich und Schweden lag diese Quote nur bei 50 Prozent. Mehr Betreuungsplätze könnten die Frauenerwerbstätigkeit erhöhen und so den befürchteten Fachkräftemangel mildern sowie das demografische Problem der Alterssicherung entspannen. Berechnungen zeigen, dass die anstehenden Finanzierungsprobleme des deutschen Rentensystems zu mehr als der Hälfte dadurch gelöst werden könnten, wenn Deutschland eine ähnliche Frauenerwerbsquote wie Schweden erreicht. Die nötige Verkehrswende bedarf massiver Investitionen ins gesamte Bahnnetz, die jedoch mit ambitionierten Leuchtturmprojekten verbunden werden sollten. Das könnten zum Beispiel Schnellzugverbindungen sein, mit denen sich die Strecke Köln/Düsseldorf–Berlin oder gar Hamburg–München in rund drei Stunden zurücklegen ließe. Schließlich ist der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur ein möglicher Weg, um die Dekarbonisierung der Industrie voranzubringen. Sie ist ein entscheidender Baustein im Kampf gegen die menschengemachte Erderwärmung. Eine gesellschaftlich breit akzeptierte Klimawende wird in Deutschland nur mit einem umweltschonenden Umbau der industriellen Kerne gelingen – eine Deindustrialisierung ist angesichts der Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung keine politisch realistische Strategie.
Eine Wasserstoffinfrastruktur – mit Netzen und Erzeugungskapazitäten aus erneuerbaren Energien für „grünen Wasserstoff“ – könnte es der energieintensiven Industrie im Metall-, Elektro- und Chemiebereich in Deutschland und Europa ermöglichen, eine globale Vorreiterrolle auf dem Weg zu CO2 -neutralen Produktionsweisen einzunehmen. Die verlässliche Unterstützung der Energiewende durch den Staat begünstigt Investitionsentscheidungen zugunsten der Standortsicherung vor Ort. Davon würden auch der Maschinenbau und die Automobilindustrie – zwei weitere zentrale Branchen der deutschen Wirtschaft – profitieren. Allerdings erfordert die Wasserstofftechnologie noch viel Forschungs- und Entwicklungszeit, bis sie in ausreichendem Umfang bereitstehen kann. Deshalb ist entscheidend, den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur als eine Komponente der umfassenderen Strategie für die Energieund Verkehrswende anzugehen, die auch bereits kurzfristig wirksame Technologien und Maßnahmen umfasst. Mehr Geld für frühkindliche Bildung, das Bahnnetz und eine Wasserstoffinfrastruktur – das Ziel einer solchen Investitionsoffensive ist ein optimistisches, prosperierendes, ökologisch und sozial modernisiertes Land, das gemeinsam mit anderen Staaten in Europa und der Welt als Vorbild gilt. Dafür legen gute Infrastrukturen die Grundlage.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de