Das Schienennetz ist eine Schlüsselinfrastruktur für klimafreundliche Mobilität, Teilhabe und regionale Entwicklung in Deutschland. Und es ist an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.
Mehr als eine Milliarde Kilometer haben Züge in Deutschland 2019 zurückgelegt. Möglich ist das dank eines der – trotz zahlreicher Streckenstilllegungen in den vergangenen hundert Jahren – größten und dichtesten Bahnnetze der Welt. Derart viel Verkehr sicher abzuwickeln bedeutet einen enormen Aufwand. So sind bei der DB Netz AG, die rund 85 Prozent des deutschen Schienennetzes betreibt, über 46.000 Menschen damit beschäftigt, Gleise instand zu halten und den Zugverkehr zu überwachen.
Die Unterhaltskosten werden den Nutzern, also den Bahnunternehmen, unmittelbar in Rechnung gestellt: Eine Fahrt auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Berlin nach München kostet etwa 12 Euro pro Kilometer, der Halt im Münchner Hauptbahnhof zusätzliche 55 Euro Nutzungsentgelt pro Zug. Dieses Finanzierungsprinzip unterscheidet die Schiene von der Straße und ist eine bewusst getroffene Entscheidung des Bundes. Das europäische Recht würde es erlauben, Bahnunternehmen einen Teil der Trassenkosten abzunehmen. Stattdessen hat die Infrastruktur-Sparte der Deutschen Bahn den Auftrag, Geld zu erwirtschaften. Mit über einer Milliarde Euro Gewinn trugen Gleise und Bahnhöfe 2019 mehr als jeder andere Geschäftsbereich zum Ergebnis des Bahnkonzerns bei.
Die Vorgaben der Politik, wie die Bahninfrastruktur finanziert wird, steigert die Kosten für die Kundinnen und Kunden der Bahn. Das hat Einfluss auf die Attraktivität des Verkehrsmittels. Ein seit Jahren diskutierter Ansatz für günstigere Preise könnte es sein, die Infrastruktur in eine gemeinnützige Gesellschaft zu überführen. Ein gewinnorientierter Wettbewerb wäre bei den Bahnbetreibern weiterhin möglich, dennoch könnte Zugfahren gerade im Fernverkehr günstiger werden.
Dass mit der Bahninfrastruktur kurzfristige Gewinne erzielt werden müssen, hat auch Auswirkungen auf ihre Qualität und Leistungsfähigkeit. Über viele Jahre waren die Investitionen in das Bestandsnetz zu gering. Die Zahl der Baustellen auf den Strecken steigt, Weichen und Signale fallen altersbedingt häufiger aus, fast die Hälfte der Eisenbahnbrücken in Deutschland steht seit mindestens hundert Jahren. „Störungen im Betriebsablauf“ gehören dadurch zum Alltag vieler Reisender, im Fernverkehr ist jeder vierte Zug verspätet.
Auch das ökologische Potenzial der Bahn wird längst nicht ausgeschöpft. So lässt sich derzeit auf gerade einmal 60 Prozent des deutschen Streckennetzes elektrisch fahren, was den Einsatz mit Diesel betriebener Lokomotiven erfordert, der teurer und klimaschädlicher ist. Dass es auch anders geht, zeigt die Schweiz, wo das gesamte Eisenbahnnetz mit Oberleitungen ausgestattet ist.
Eine weitere Herausforderung für die Bahn ist ihr Erfolg: Längst ist die Netzkapazität am Limit. Im öffentlich subventionierten Nah- und Regionalverkehr ist die Zahl der Reisenden seit 1990 von rund einer Milliarde auf über 2,7 Milliarden im Jahr 2018 gestiegen. So sind überfüllte Waggons im Rhein-Ruhr-Gebiet, auf der Münchner Stammstrecke oder im Hamburger Hauptbahnhof ein gewohntes Bild.
Überlastete Strecken machen es vielerorts aber unmöglich, zusätzliche Züge fahren zu lassen. Die technische Infrastruktur ist zum Flaschenhals beim Wachstum eines zunehmend nachgefragten Verkehrsmittels geworden. Notwendig wäre unter anderem der Ausbau ausgewählter Strecken um ein drittes oder viertes Gleis. Zusätzliche Weichen und Brücken im Vorfeld von Bahnhöfen könnten verhindern, dass ein Zug die Strecke für einen anderen blockiert.
Auch die Politik hat die drängendsten Probleme inzwischen erkannt. Bundesregierung und Deutsche Bahn haben unter anderem vereinbart, von 2020 bis 2029 in das bestehende Schienennetz 86 Milliarden Euro zu investieren. Der tatsächliche Bedarf liegt aber vermutlich noch höher. Neben der Sanierung des Netzes sollen auch die Elektrifizierung und die Digitalisierung der Bahninfrastruktur vorangebracht werden. Alte mechanische Stellwerke werden durch moderne elektronische ersetzt. Die genaue Position der Züge soll künftig über einen europäischen technischen Standard digital erfasst werden. So lassen sich die Züge während der Fahrt passgenau beeinflussen, Gleise werden effektiver genutzt, grenzüberschreitender Verkehr wird einfacher.
In Zukunft soll es auch einen bundesweiten Zielfahrplan geben, den sogenannten „Deutschlandtakt“. Danach erreichen Züge ausgewählte Bahnhöfe so, dass sich optimale Umsteigebedingungen ergeben. Zudem sind deutlich mehr Zugfahrten vorgesehen, etwa in einem 30-Minuten-Takt zwischen vielen Städten. Auf der Strecke Berlin – Hamburg soll er schon ab Dezember 2020 realisiert werden.
Ideengeberin für das ambitionierte Vorhaben ist die Schweiz, die seit 1987 ihr Streckennetz zielgerichtet ausbaut. Bahnhöfe wurden erweitert und Strecken dort ausgebaut und beschleunigt, wo entscheidende Minuten fehlten, um einen Anschluss zu erreichen. Diese langfristige Investition in die Infrastruktur zahlt sich aus. Die Schweizerinnen und Schweizer fahren doppelt so oft mit dem Zug wie die Deutschen.
Das Vorbild Schweiz zeigt: Infrastrukturen für eine nachhaltige Mobilität auch in der Fläche benötigen klare Konzepte, eine konsequente Umsetzung und hohe Investitionen. Dazu kommen aber auch politische Entscheidungen, beispielsweise, welche Regionen direkt verbunden sein sollen und welche nur über Anschlussverbindungen erreicht werden. Oder ob man den Fokus auf wenige schnelle Trassen zwischen Metropolen legt – und so eine attraktive Alternative zu Inlandsflügen schafft – oder auf Verbindungen in der Fläche, was eine alltägliche Nutzbarkeit für viele und damit eine breitere Akzeptanz bedeutet.
Diesen Fragen geht aber eine Grundsatzentscheidung voraus: Der Ausbau und die Modernisierung von Gleisen, Weichen und Zugsteuerungstechnik ist ein unerlässlicher Schritt. Denn leistungsfähigere Infrastrukturen machen mehr Zugverkehr überhaupt erst möglich.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de