Was genau bedeutet die Energiewende für den Alltag der Menschen und Unternehmen? Wie werden wir schneller und besser bei der Umsetzung? Auf der Konferenz „Gesellschaftsprojekt Energiewende“ wurde nach Antworten gesucht.
Dieser Beitrag gehört zur Konferenz Gesellschaftsprojekt Energiewende.
Was machen die Bürgermeisterin von Coesfeld, ein Autohausbesitzer, die ehemals mächtigste Frau der deutschen Wirtschaft und der Vizekanzler an einem Montagmorgen im selben Raum? Sie suchen gemeinsam nach Lösungen für die historische Aufgabe unserer Generation – die Bekämpfung der Klimakrise. Um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu beschränken, müssen laut IPCC die globalen Emissionen bis 2030 halbiert werden. Und Deutschlands Deadline für CO2-Neutralität ist in 22 Jahren. Zentraler Baustein: die Energiewende. Die ist zwar schon in vollem Gange, es hakt und ruckelt aber bei der Umsetzung und der nötigen Geschwindigkeit. Noch dazu bröckelt der gesellschaftliche Konsens für Klimaschutz-Maßnahmen.
Was genau verbirgt sich mittlerweile hinter diesem großen Wort „Energiewende“, außer Sonne und Wind? Was bedeutet sie für den Alltag der Menschen und Unternehmen? Wie werden wir schneller und besser bei der Umsetzung? Und wie schaffen wir es als Gesellschaft, möglichst viele Menschen für die grüne Transformation zu begeistern? Auf der Konferenz „Gesellschaftsprojekt Energiewende“ wurde nach Antworten gesucht. Und nach den nächsten konkreten Schritten für eine lebenswerte Zukunft. Die folgende To-do-Liste zeigt, wie die Mission gelingen kann.
To-do #1: Klima-Handwerk neu denken
Energiewende ist Handarbeit. Deswegen brauchen wir in den nächsten Jahren Hunderttausende geschickte und entsprechend ausgebildete Hände mehr, die das Projekt Energiewende realisieren. Auf Dächern, an Schienen, in Windkraftanlagen. Zum Glück gibt es trotz des Trends zum Studium Bereiche mit immer mehr Auszubildenden: Dazu zählen Zweiradmechaniker*innen, Dachdecker*innen und Gebäudetechniker*innen. Sibylle Stippler vom Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung nannte bei der Fachkräfte-Debatte den Grund: Diese Berufe sind sinnstiftend. Sie tragen dazu bei, die großen gesellschaftlichen Fragen zu lösen. Aber wie schaffen wir es, noch mehr Fachkräfte im Handwerk für Klimaschutz zu mobilisieren? Stärkere Subventionen für Handwerksbetriebe, langanhaltende Qualifikationsmöglichkeiten und durchaus auch höhere Preise, die von Kund*innen bezahlt werden müssen, sind unerlässlich. Auch für Studienabbrecher*innen, vor allem aus naturwissenschaftlichen Fächern, soll es einfacher und attraktiver werden, ins Handwerk einzusteigen. Dazu braucht es auch einen gesellschaftlichen Sinneswandel, eine Ausbildung nach einem angefangenen Studium nicht als Scheitern anzusehen. Nicht zuletzt braucht es mehr Wertschätzung für Menschen, die mit ihren Händen arbeiten.
To-do #2: Bürgerräte einberufen
In anderen Ländern wurden sie schon erfolgreich durchgeführt, in Deutschland gab es 2021 den ersten zum Thema Klima. Bürgerräte fördern die gesellschaftliche Teilhabe und bringen durch das Losverfahren auch Akteur*innen an den Tisch, deren Perspektiven sonst drohen, unterzugehen. Arwen Colell vom Clean-Tech Startup decarbon1ze fordert daher, dass wir nicht nur auf technologische, sondern auch auf soziale Innovationen setzen, die wie der Bürgerrat echte Teilhabe ermöglichen und „Raum für konstruktiven Streit öffnen“. Dabei geht es um die Aushandlung, wie wir als Gesellschaft oder lokale Gemeinschaft in Zukunft gut leben können. Entscheidend ist, dass der Aushandlungsprozess entscheidungsoffen bleibt und der Bürgerrat nicht politisch instrumentalisiert wird (siehe Beitrag zum Thema Bürgerräte von Janosch Pfeffer et al .). Bürgerrat, das heißt dabei nicht nur vor Ort zusammenkommen, sondern auch ergänzende digitale Bürgerbeteiligung. Aktive Teilhabe von der Couch, wenn man so will.
To-do #3: Clean-Tech zurück nach Europa holen
Solarenergie, Windkraft und Wärmepumpen samt dazugehöriger Infrastruktur und digitaler Vernetzung spielen die technologische Schlüsselrolle der Energiewende. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Stroms erneuerbar sein. Eine riesige Herausforderung: Die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass bis dahin 65 Prozent der globalen Clean-Tech-Fertigung in Fernost stattfindet. Und zwar häufig unter Zwangsarbeit, sagt Carsten Bovenschen, Vorsitzender beim Erneuerbare-Energien-Unternehmen JUWI. Genau deswegen müssen die Clean-Tech-Industrien zurück nach Europa geholt werden. So können faire Lieferketten und nachhaltigere Produkte garantiert werden. Denn zu Clean-Tech gehören auch Messbarkeit und Transparenz. So könnten z.B. die CO2-Emissionen eines Produkts für Verbraucher*innen einfach zugänglich über den Barcode abrufbar gemacht werden.
To-do #4: Fossilen Verkehr minimieren, elektrische Mobilität ausbauen
Uns bleiben siebeneinhalb Jahre, um die Emissionen im Verkehr zu halbieren. Die Elektrifizierung von Autos ist dabei ein entscheidendes Puzzleteil. Die Möglichkeiten, den Verkehr insgesamt zu reduzieren, sind vielfältig. Das Deutschlandticket sollte fortgeführt und ein bundesweites Semesterticket eingeführt werden. Ein unterschätzter Transformationsbeschleuniger sind laut Christoph Golbeck, Co-Gründer des Mobilitätshaus, Autohäuser. Die Betreiber*innen dafür zu sensibilisieren, sich als Mobilitätsberatung (und nicht lediglich als Autoverkäufer*innen) an der Energiewende aktiv zu beteiligen, birgt enormes Potenzial. Mobilität vielfältig denken, bringt nicht nur was fürs Klima, sondern auch für die Lebensqualität – weniger Lärm, weniger Schadstoffe, weniger Stress, mehr Gesundheit, mehr Wahlfreiheit.
To-do #5: Klimageld einführen
Reiche Menschen verursachen mehr CO2 als andere, aber arme Menschen leiden häufiger unter den Folgen der Klimakrise. Deshalb braucht es eine sozial-ökologische Steuerreform, sagt Claudia Kemfert. Dazu gehört ein CO2-Preis, der die wahren Klimaschäden abbildet, genauso wie eine Übergewinn-Steuer für fossile Konzerne. Die dadurch gewonnenen Einnahmen könnten per Klimageld gerecht zurückgezahlt werden und so vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen entlasten.
To-do #6: Sozial gerechte Wärmewende anfeuern
Noch werden im Wärmesektor nur rund 15 Prozent der Energie regenerativ erzeugt. Es besteht ein riesiges Einsparpotenzial, das dringend realisiert werden muss, zumal der Gebäudesektor drei Jahre in Folge die Emissionsziele verfehlt hat. Entscheidend ist dabei, die Wärmewende sozial gerecht zu gestalten, sagt Melanie Weber-Moritz, Bundesdirektorin beim Deutschen Mieterbund. Denn jeder dritte der 21 Millionen Mieter*innen-Haushalte ist bereits von den Mietkosten überlastet. Für „eine Energiewende von unten“ macht sich auch Burkhard Drescher, Sprecher der Innovation City Management GmbH in Bottrop, stark. Er ist überzeugt, dass es möglich ist, Städte durch die Senkung des Energiebedarfs, Sektorenkopplung und regenerative Energien so umzubauen, dass sie energieautark werden. Das geht jedoch nur, wenn die Bürger*innen aktiv mit eingebunden und zu Akteur*innen der Wärmewende werden. Laut Drescher funktioniert dies nur, wenn man zunächst von Haus zu Haus geht und dann erst die Quartiere und Städte miteinander verknüpft.
To-do #7: Energienachfrage herunterschrauben
Effizienz und Suffizienz gehen Hand in Hand. Das Ziel hinter beiden Ansätzen: weniger Energie zu verbrauchen. Durch bessere Prozesse und innovative Technologien, aber auch durch eine Reduzierung des Verbrauchs, also Suffizienz. Bis 2045 muss die Energienachfrage in der EU auf 55 Prozent reduziert werden, sagt Fabien Baudelet, Referent beim französischen Think Tank négaWatt. Ohne eine Verdopplung der Energieeinsparung sei es unmöglich, die aktuellen Ziele zu erreichen. Es gibt dabei viele Vorteile: für die Gesundheit durch geringere Luftverschmutzung und natürlich für die soziale Gerechtigkeit. Die Schere zwischen arm und reich könnte wieder geschlossen werden (Stichwort: Klimageld) und Wohnraum beispielsweise gleichmäßiger verteilt. Zwei einfache Maßnahmen wären ein Tempolimit auf Autobahnen sowie eine höhere CO2-Besteuerung und ein entsprechend steigendes Klimageld.
To-do #8: Die Energiewende im Globalen Süden finanzieren
Für die Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele, zu denen auch die Energiewende gehört, fordert UN-Generalsekretär Antonio Guterres 500 Milliarden Euro jährlich für Staaten des Globalen Südens. Die Finanzierungslücke bezeichnete Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energien, in der Abschlussdebatte als den Elefanten im Raum. Crispian Olver, zugeschaltet aus Südafrika, fügte als Teil der nationalen Klimakomission hinzu, dass die Energiewende im Globalen Süden und der entsprechende Aufbau der dortigen Infrastruktur nur auf Augenhöhe passieren kann. Es gehe um wirtschaftliche Partnerschaften mit beiderseitigen Vorteilen und nicht um Entwicklungshilfe.
To-do #9: Unsere Vorstellungskraft trainieren
Zwischen Windrädern und E-Autos dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: das Zielbild. Denn bei der Energiewende und beim Klimaschutz geht es letzten Endes nicht um abstrakte Definitionen oder technische Detailfragen, sondern um das Bewahren und Ermöglichen eines guten Lebens – heute und in Zukunft.
Aber was macht eigentlich ein gutes Leben aus? Laut Dagmar Schmidt, Vorsitzende des Vereins Lausitzer Perspektiven, muss diese Frage von den Menschen vor Ort beantwortet und umgesetzt werden. Sicherlich müsste auch der bisherige Wohlstandsbegriff überdacht werden. Intakte Lebensgrundlagen – Ernährungssicherheit, eine ausreichende Wasserversorgung, funktionierende Ökosysteme – werden ein zentraler Teil dieses neuen Wohlstandsbegriffs sein, sagte Simone Peter. Das heißt auch: die Kennzahlen anpassen, die Wohlstand messen – also die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Bürger*innen statt das BIP in den Mittelpunkt rücken. Dazu gehört, dass wir uns bewusstmachen, wie viel wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten schon geschafft haben. Und wie viel wir noch schaffen können. Robert Habeck fasst die Energiewende als Gesellschaftsprojekt so zusammen: „Wer wir sein wollen, entscheiden wir selbst.“
#Gesellschaftsprojekt23
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de