„Dieser Bundestag ist einfach nicht repräsentativ“

Interview

Rasha Nasr ist die erste Frau mit Migrationsgeschichte, die in Sachsen für die SPD in den Bundestag einziehen will. Was sie politisch geprägt hat, wofür sie sich im Bundestag einsetzen möchte und wieso es wichtig ist, dass die Parteien die Vielfalt der Gesellschaft auch in ihrer Mitgliederstruktur repräsentieren, bespricht sie im Interview.

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Rasha Nasr kandidiert in den Dresden für den Bundestag. Bild: Julian Hoffmann

Rasha Nasr, 29, ist die erste Frau mit Migrationsgeschichte und die erste Woman of Color, die in Sachsen für die SPD in den Bundestag einziehen will. Sie wurde 1992 in Dresden geboren und wuchs in einem Dorf nahe der sächsischen Hauptstadt auf. Ihre Eltern sind 1986 aus Syrien in die damalige DDR eingewandert.

Rasha Nasr hat Politikwissenschaft an der TU Dresden studiert. Ab 2016 war sie für 18 Monate Integrationsbeauftragte im sächsischen Freiberg. Danach trat sie in die sächsische SPD ein, arbeitete in der Landespressestelle und war zeitweise auch Sprecherin von Sachsens SPD-Chef Martin Dulig. Aktuell leitet sie das Büro eines SPD-Landtagsabgeordneten. Sie ist Mitglied im Vorstand der SPD Dresden und im Deutsch-Syrischen Verband Dresden e.V.



Zonya Dengi: Du bist erst vor wenigen Jahren in die SPD eingetreten. Was hat dich bewogen, in die Politik zu gehen?

Rasha Nasr: Ich war schon immer ein politischer Mensch. Als ich sechs Jahre alt war, haben mich meine Eltern das erste Mal auf eine Demo mitgenommen. Es war ein Gedenken an Jorge Gomondai. Er war der erste Mensch, der nach der Wende in Dresden einem rassistischen Überfall zum Opfer gefallen und ums Leben gekommen ist. Ich habe mir damals große Sorgen gemacht, um mich, um meine Eltern, meinen Bruder und um meine Community. Deshalb habe ich mich schon früh engagiert, ob im Schülerrat oder in irgendwelchen AGs. Der Auslöser aber war, als ich nach dem Studium in Freiberg als Integrationsbeauftragte gearbeitet habe. Das war 2016, und da habe ich gemerkt: Man hat in so einer Position kaum eine Chance, Einfluss zu nehmen oder zu gestalten. Man verwaltet nur das, was „von oben“ entschieden wird. Und damals dachte ich auch: Vorsicht, wir müssen aufpassen, dass sich das hier nicht in die falsche Richtung bewegt.

Wie sah deine Arbeit als Integrationsbeauftragte in Freiberg aus?

Ich habe damals in meiner Bürgersprechstunde sehr viele Gespräche geführt. Es kamen viele Flüchtlinge, die ganz praktische Unterstützung gesucht haben: sie wollten wissen, wie sie aus der Erstaufnahmeeinrichtung rauskommen und eine Wohnung oder einen Job finden könnten. Aber auch die alteingesessenen Freibergerinnen und Freiberger kamen zu mir und erzählten mir von ihren Sorgen um ihre eigene Zukunft. Sie hatten ihr Leben lang für wenig Geld gearbeitet und müssen mit einer kleinen Rente auskommen. Die haben sich Gedanken gemacht um ihre Kinder. Wie sollen die hier einen Arbeitsplatz bekommen? Wie sollen sie eine ordentliche Perspektive finden? Es gibt im Osten ja nicht die krass gutbezahlten Jobs und eine Industrie wie im Westen. Da habe ich mir gedacht: okay, es ist an der Zeit, in eine Partei einzutreten. Und die Sozialdemokratie war schon immer mein politisches Zuhause.

Jetzt bist Du die Büroleiterin eines Landtagsabgeordneten und Direktkandidatin für den Bundestag, auf einem relativ guten Listenplatz. Wie erklärst du dir deinen steilen Aufstieg?

Vielleicht bringe ich einen anderen Drive mit? Ich habe jedenfalls nicht im Ortsverein am Stammtisch gesessen und gewartet, bis mir mal jemand eine Chance gibt, sondern habe gleich für den Vorstand der SPD Dresden kandidiert und mich für die Kommunalwahl aufstellen lassen. In der SPD gibt es nach wie vor zu wenige Frauen, die aktiv sind. Da hat man als Frau relativ gute Chancen, ein Parteiamt zu bekommen.

Hast du davon profitiert, dass du eine Frau bist?

Ja, vielleicht auch ein wenig. Ich glaube aber, dass es in erster Linie meine Art und Weise und meine Überzeugung waren, mit denen ich die Herzen der Genossinnen und Genossen erobert habe. Ein Redakteur hat mir mal gesagt, ich sei die Gute-Laune-Rasha. Wo immer man mich sieht, habe ich ein Lächeln im Gesicht und einen lustigen Spruch auf den Lippen.  

Welche Rolle spielt deine Herkunft für dich?

Mir persönlich ist meine Herkunft total wichtig. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in zwei Welten aufgewachsen bin. Ich glaube, dass ich dadurch auch einen kulturellen Schatz mitbringe, den nicht alle haben. An meinem Gymnasium war ich die einzige Schülerin mit einem offensichtlichen Migrationshintergrund und meine Freundinnen und Freunde sagen mir bis heute, dass sie dankbar dafür sind, dass wir zusammen aufgewachsen sind, weil sie dadurch einen ganz anderen Zugang zu diesem Thema haben. Und dass es für sie eigentlich gar keine Rolle spielt, wer woher kommt, weil ich das beste Beispiel dafür bin, dass das Aussehen nichts mit dem Framing zu tun hat, was sofort im Kopf aufgeht. Ich glaube, dass man mit Handkuss angenommen hat, dass eine junge Frau mit Migrationshintergrund Lust hat, bei der SPD mitzumachen.



Du bist in Sachsen geboren und aufgewachsen. Das Bundesland gilt Vielen als besonders rassistisch. Dresden ist der Geburtsort der Pegida-Bewegung, und im nahegelegenen Freital kam es 2015 zu tagelangen rassistischen Ausschreitungen. Wie hast du das erlebt?

Mich hat es wirklich schockiert, was da passiert ist, gerade in Freital. Aber es gab auch in Freiberg ein paar Momente, in denen ich wirklich hart an der Gesellschaft und an den Menschen gezweifelt habe.

Wie erklärst du dir das? Hat das was mit dem Erbe der DDR zu tun, oder ist das ein Phänomen der Nachwendezeit?

Beides. In der DDR konnten sich die Menschen nicht der Politik entziehen. Der Staat hat alles bestimmt, man wurde überwacht. Nach der Wende hat sich die CDU unter Kurt Biedenkopf dann als eine Art neue Staatspartei etabliert und den entgegengesetzten Kurs eingeschlagen: Sie hat, vielleicht aus falscher Nachsicht, die Menschen von der Politik ferngehalten und sie nicht mitgenommen auf dem Weg in die Demokratie. Sie hat nichts für die politische Bildung getan, und das ist in Sachsen ein ganz großes Problem.

Zugleich hat die Politik in Berlin jahrelang viele Dinge beschlossen, die besonders für Ostdeutsche nachteilig waren. Wir haben immer noch kein faires Rentensystem. Man erhält im Osten weniger Geld für die gleiche Arbeit. Hier gibt's nicht die großen Jobs, und hier gibt's auch keine großen Vermögen, die man erben oder vererben könnte. Hartz IV kommt dann noch on top. Das führt dazu, dass sich viele Menschen im Osten als Menschen zweiter Klasse fühlen. Ich glaube, das erklärt, warum die Parteien-Bindung, aber auch die Bindung zu Gewerkschaften gerade in Sachsen sehr gering ist. Die Parteien-Skepsis ist hier sehr, sehr groß. Das rechtfertigt aber natürlich keine rassistische Hetze, und schon gar keine rassistischen Übergriffe auf Mitmenschen. Ich sehe aber, dass es gerade in Dresden eine große Zivilgesellschaft gibt, die jede Woche auf der Straße ist, wenn Pegida unterwegs ist. Gruppen wie „Herz statt Hetze“, „Dresden Nazifrei“, „HOPE Fight Racism“ oder „Seebrücke Dresden“ sind hier sehr aktiv. Sachsen ist nicht nur das braune Loch, als das es manchmal gesehen wird. Die Demokratie hier ist fragil. Gerade deswegen ist es total wichtig, sie zu verteidigen.

Du kandidierst im Wahlkreis „Dresden 1“ – einem Wahlkreis, in dem die AfD ziemlich stark ist. Wie hoch schätzt du deine Chancen als Direktkandidatin und Politikerin of Color ein?

Ich gehe realistisch an die Sache ran: Ich trete gegen politische Schwergewichte wie Katja Kipping von der Linkspartei oder Jens Maier von der AfD an, die deutlich mehr Öffentlichkeit haben als ich. Mein Vorgänger Christian Avenarius hat 2017 in diesem Wahlkreis für die SPD 13,2 Prozent der Erststimmen geholt. Soviel möchte ich mindestens erreichen.

Mit welchen Themen würdest du dich im Bundestag einbringen wollen? Welche Themen sind dir wichtig?

Drei Themen sind mir besonders wichtig. An erster Stelle steht für mich das Thema Arbeit: Anhebung des Mindestlohns, mehr Tarifbindung, eine bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit, also die Abkehr von den Hartz IV-Gesetzen. An zweiter Stelle kommt die Kindergrundsicherung, die ich persönlich richtig klasse finde. An dritter Stelle geht's mir um den Kampf für unsere Demokratie, gegen Rassismus und für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Das Thema Rassismus kommt erst an dritter Stelle?

Klar ist mir das Thema wichtig, das ist mein ureigenster Antrieb. Ich finde es wichtig, ganz klar zu sagen, dass Rassismus einfach nicht geht, und Menschen dazwischen gehen müssen, wenn Mitmenschen angegriffen werden. Politikerinnen und Politiker sollten da Vorbilder sein und, wenn sie im Bundestag sitzen, Haltung beweisen. Das betrifft auch Themen wie doppelte Staatsbürgerschaften. Menschen aus EU-Staaten oder der Schweiz dürfen ganz selbstverständlich ihre alte Staatsbürgerschaft behalten, wenn sie sich einbürgern lassen. Menschen aus Drittländern wird das ungleich schwerer gemacht oder sogar verwehrt. Meine Eltern mussten damals bei der Einbürgerung unterschreiben, dass sie die syrische Staatsbürgerschaft abgeben, wenn der deutsche Staat das von ihnen verlangt. Das ist schon krass willkürlich. Der deutsche Staat unterscheidet ganz offensichtlich zwischen „guten“ und „schlechten“ Ausländern. Ich halte das für eine sehr respektlose Art und Weise, mit Menschen umzugehen.

Hast du den Eindruck, dass du Leute besser erreichst, wenn Du als Betroffene über Rassismus sprichst?

Das denke ich schon. Viele Leute reagieren ganz schockiert, wenn ich ihnen eigene Erlebnisse berichte und sagen: was, solche Sachen passieren auch bei uns? Aber wie sollen die Leute das auch wissen, wenn sie selbst nicht betroffen sind? Woher sollen sie wissen, wie es sich anfühlt, diskriminiert zu werden? Ich sage deshalb immer: wir sollten lieber miteinander anstatt übereinander reden. Wir müssen uns unsere Geschichten erzählen. Natürlich ist es authentischer, wenn eine Person, die selbst Rassismus erlebt hat, davon berichtet. Auf der anderen Seite bin ich mehr als meine Diskriminierungserfahrungen. Ich will auch nicht die ganze Zeit über die Anfeindungen reden, die ich erlebe. Ich will über Arbeit reden. Ich will darüber reden, wie wir bessere Strukturen für unsere Kinder schaffen.

Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

Im Bundestag spiegeln sich diese Lebensrealitäten auch nicht wider. Was muss sich ändern?

Dieser Bundestag ist einfach nicht repräsentativ. Wir brauchen mehr Perspektiven junger Menschen. Wir brauchen mehr ostdeutsche Perspektiven. Es braucht mehr Frauen. Frauen stellen die Hälfte der Gesellschaft. Da kann es ja wohl nicht wahr sein, dass in diesem Bundestag so wenige Frauen sitzen. Das ist lächerlich. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Und in diesem System sind die Parteien dafür zuständig, Menschen in die Parlamente zu entsenden, die diese Gesellschaft repräsentieren. Deswegen müssen sich die Parteien bewegen und endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Denn ihre Mitgliederstruktur und ihre Listen spiegeln die Vielfalt der Gesellschaft nicht angemessen wider.

Was würdest du jungen Leuten empfehlen, die sich politisch in einer Partei engagieren wollen?

Netzwerke suchen, denn Netzwerke sind wichtig. Sie waren auch für meinen Werdegang sehr wichtig. Die Themen müssen von der Straße in die Parteien getragen werden. Deshalb halte ich es für wichtig, dass sich Aktivist:innen von Fridays for Future oder Black Lives Matter auch in Parteien engagieren. Denn die Parteien werden sich nicht ändern, wenn es immer die gleichen Leute sind, die dort mitmischen.