Im Rahmen der Ausstellung „Ewald Jauch und die Kinder vom Bullenhuser Damm“ referierte Wolfgang Heitner, Historiker und ehemaliger Lehrer über die Zeit des Nationalsozialismus in Villingen-Schwenningen. Im Fokus seines Vortrages standen Profiteure des nationalsozialistischen Regimes sowie seine jüdischen Opfer.
Der Umgang mit der zwölfjährigen Herrschaft des Nationalsozialismus gerade auf lokaler Ebene ist über Jahrzehnte hinweg eher von Verdrängung und Verschweigen als von Aufarbeitung und Offenlegung der Fakten geprägt gewesen. So hat sich im Jahr 1962 herausgestellt, dass im früheren „Goldenen Buch“ der Stadt Villingen bestimmte Seiten, die auf das „Dritte Reich“ Bezug nehmen, herausgetrennt worden sind.
Verschwunden sind auf diese Weise die von der Stadt verliehenen Ehrenbürgerschaften für Adolf Hitler sowie den vor Ort wirkenden Gauleiter Robert Wagner. Das Goldene Buch verschweigt auch Joseph Goebbels, der die Stadt im Dezember 1934 besuchte und zu dieser Zeit Reichspropagandaleiter und engster Vertrauter Hitlers war. Glücklicherweise sind später Kopien dieser Seiten aufgetaucht. War man wirklich der Meinung, durch die Vernichtung von Dokumenten und Akten ließe sich unliebsame Stadtgeschichte ausradieren?
Es ist der mühsamen Arbeit einiger weniger engagierter Personen zu verdanken, dass ab den 80er Jahren Untersuchungen unteranderem zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Villingen, von Kommunisten, Sozialdemokraten, Personen der Kirchen, zur Kriegswirtschaft und der Beschäftigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern veröffentlicht wurden. Jedoch erschien erst 2017 eine erste zusammenhängende Darstellung der NS-Zeit für die Doppelstadt Villingen-Schwenningen. Sie ist Teil des zweiten Bandes der Stadtgeschichte, erarbeitet vom Historiker Dr. Robert Neisen, der sich insbesondere der nationalsozialistischen Geschichte in Baden-Württemberg widmet.
In dessen Beitrag wird auch die Biographie Ewald Jauchs nachgezeichnet, der sich auf Grund seiner langjährigen Mitgliedschaft in der NSDAP und SS eine Anstellung im Steueramt der Stadt Schwenningen erzwang. Als Nutznießer des Systems war Jauch kein Einzelfall. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen aus Villingen deutlich gemacht werden.
Jauch war gegen Ende des Krieges (das zeigt sich ja in der Ausstellung) als Leiter eines Außenlagers des KZ Neuengamme für die Erhängung von 20 jüdischen Kindern und deren vier Betreuern mitverantwortlich und wurde deshalb von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Das Schicksal dieser jüdischen Kinder – es waren zehn Mädchen und zehn Jungen im Alter von fünf bis zwölf Jahren – war an Grausamkeit nicht zu überbieten. Dennoch möchte ich der Frage nachgehen – und das soll im zweiten Teil des Vortrags geschehen – wie insbesondere die Kinder der zahlreichen jüdischen Familien in Villingen von Ausgrenzungen und Demütigungen ihrer Eltern betroffen waren. Und weiter: Was geschah mit den Kindern und welches Schicksal mussten sie erleiden?
Zunächst zu den Nutznießern des NS-Systems in Villingen. Es sind drei Personen, die im besonderen Maße von der Übernahme der politischen Macht der Nationalsozialisten profitiert haben.
Als erstes möchte ich den Bürgermeister Hermann Schneider nennen. Schneider, 1906 in Schwetzingen geboren, war schon als Jugendlicher Mitglied völkisch-nationaler Bünde, wie zum Beispiel dem „Schlageter Bund“. Dies war eine Art Tarnorganisation während des zwischenzeitlichen Verbots der NSDAP von 1923 bis 1925. Im Februar 1930 trat er offiziell der Partei und der SA bei, absolvierte eine kaufmännische Lehre, bestand das Examen als Diplom Volkswirt und arbeitete bis 1933 als Versicherungsvertreter.
Wie Schneider in einem Verhör 1948 selbst berichtete, konnte er sich als sogenannter „Alter Kämpfer“ nach der Machtergreifung an die „kommunalpolitische Abteilung des Ministerium“ in Karlsruhe wenden. Nach seinen beruflichen Wünschen befragt, gab er an, irgendwo Bürgermeister werden zu wollen. Was ihm auch gelang - trotz fehlender juristischer Ausbildung, die von der Badischen Gemeindeordnung zwingend verlangt wurde. Bis Ende Mai 1933 konnte sich der parteilose Oberbürgermeister Adolf Gremmelspacher noch in seinem Amt halten. Unter Androhung von Gewalt seitens einiger SA-Männer trat Gremmelspacher jedoch von seinem Amt zurück und Schneider übernahm seinen Posten nach einer kurzen Karenzzeit.
Der in Verwaltungsaufgaben völlig ungeübte Schneider benötigte fachliche Unterstützung. Diese fand er im ersten Beigeordneten Hermann Riedel, seit 1927 Ratsschreiber der Stadt Villingen. Die Ankurbelung der Wirtschaft, die Senkung der Arbeitslosigkeit, die Schaffung neuer Arbeitsplätze waren die erklärten Ziele der meisten Parteien in den Anfangsjahren des dritten Jahrzehnts. Aber es waren die Nationalsozialisten, denen die arbeitslosen Männer und Frauen es am ehesten zutrauten, sie aus der Misere herauszuführen. Die sogenannte„Arbeitsschlacht“ wurde eröffnet und in den Jahren 1933/34 eine Reihe von Baumaßnahmen erarbeitet. Villingen sollte zur großen Kurstadt werden. In rascher Folge wurden das Kneipp-Freibad, die Kuranlagen und ein Kneippkur-Badehaus eröffnet.
Ein Schild über dem Eingang mit der Inschrift „Dieses Bad wird von Juden nicht benützt“ weist auf den amtlich unterstützten Antisemitismus hin. – Vor der Inschrift sichtlich erkennbar: Hermann Schneider inmitten einiger Offiziere der Garnison. Anfang des Jahres 1935 übernahm Schneider neben seiner Stellung als Bürgermeister das Amt eines Kreisleiters der NSDAP, ernannt von Gauleiter Wagner. Gemäß dem „Führerprinzip“, das im Kontext des nationalsozialistischen Weltbildes eine Propagandaformel und ideologische Grundlage war, vereinigten sich nun in der Person Schneiders sowohl die staatliche als auch die parteipolitische Macht. Es stellt sich die Frage: Welches der beiden Ämter war für ihn maßgeblicher? Wie sich in konkreten Situationen zeigen sollte, stand für ihn das Parteiamt im Vordergrund. Vermeintliche Angriffe auf die Partei und deren Repräsentanten wurden nicht nur von ihm persönlich zur Anzeige gebracht, sondern auch noch durch Beschlüsse des Stadtrates sanktioniert. Der von der Partei und „arischen“ Einzelhändlern initiierte Boykott jüdischer Kaufhäuser und Geschäfte wurde von Seiten der Stadtverwaltung unterstützt. Zur jährlichen Feier des Tags der „Machtergreifung am 30. Januar“ rief Schneider die Bevölkerung sowohl in seiner Funktion als Kreisleiter als auch als Bürgermeister unter der Parole „Alles hört den Führer“ zur Teilnahme auf.
Es lässt sich also feststellen: Hermann Schneider wurde nur auf Grund seiner langjährigen Parteizugehörigkeit Bürgermeister in Villingen, wobei die Interessen der Partei Maßstab seines Handelns blieben. Selbstverständlich ordnet er sich auch der Parteiräson unter, als im Oktober 1937 der örtliche Gauleiter Wagner für seinen alten Kampfgenossen Karl Berckmüller eine einträgliche Stellung als Bürgermeister suchte. Schneider wird auf den geringer dotierten Kreisleiterposten in Mannheim abgeschoben.
Nach Aussage Hermann Riedels 1948 hatte die Stadt nach der Machtübernahme 1933 „ziemlich viele Nationalsozialisten“. Man kann es auch pointierter sagen: Die NSDAP und ihre Repräsentanten haben sich die Stadt als Beute genommen. Der Drang der Parteigenossen nach Posten in der Stadtverwaltung wurde quasi als selbstverständliches Anrecht vor allem der „alten Kämpfer“ gesehen.
Der Drang nach den „städtischen Fleischtöpfen“ zeigte sich auch bei dem 1897 in Karlsruhe geborenen Franz Martin. Nach dem Besuch der Volksschule, einer einjährigen Handelsschule, einem dreijährigen Heeresdienst und Anstellungen in verschiedenen Berufszweigensiedelte er 1927 aus familiären Gründen nach Villingen über. Dort arbeitete er in einem von seiner Frau eröffneten Lebensmittelgeschäft als Geschäftsführer. Nach Aufgabe des Geschäftes aus finanziellen Schwierigkeiten übernahm er 1930 einen Wäscheversand. Seit dem 01. September 1930 war Martin Mitglied der NSDAP und der SA, versah bis Ende 1932 das Amt des Ortsgruppenleiters, während des DrittenReiches die Stellung eines Kreisamtsleiters der Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und wirkte als Beisitzer des Parteigerichts mit - ein Multifunktionär der Partei.
Neben diesen Parteiämtern war Franz Martin seit November 1930 als Stadtverordneter und Fraktionsvorsitzender im Bürgerausschuss tätig. Den Sieg bei den Reichstagswahlen im März 1933 nutzte Martin für sein persönliches Fortkommen. Zum einen wurde er als Aushilfsangestellter beim Fürsorgeamt eingestellt, mit einer zwar geringen, aber regelmäßigen Bezahlung und dem gewichtigen Titel eines „Kanzleivorstandes“; zum anderen ernannte ihn die Gauleitung zum ehrenamtlichen Kommissar bei der Stadtverwaltung, um diese und die städtischen Werke vonseiten der Partei zu kontrollieren. In dieser Funktion war er dem örtlichen Ortgruppenleiter unterstellt. Sein Aufstieg ging weiter. Schon im September 1933 wurde ihm die Leitung des Ortsgerichts- und Jugendamtes übertragen, verbunden mit der Amtsbezeichnung „Amtsvormund und Ortsrichter“, ohne dass er für diese Aufgaben qualifiziert gewesen wäre. Für Prüfungen habe er einfach keine Zeit gehabt, so Martin in einer Klageschrift gegen die Stadt Villingen 1952. Im November 1938 wurde er zum Verwaltungsoberinspektor befördert und zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.
In einer zusammenfassenden Stellungnahme des Gemeinderates Anfang der 50er Jahre wird klargestellt: Martin habe durch die zeitaufwändige Stellung als Kreisamtsleiter der NSV seine dienstlichen Pflichten als städtischer Bediensteter nicht erfüllt. Er sei nur stundenweise an seiner Arbeitsstelle gewesen, die dort anfallende Arbeit wurde von denselben Angestellten erledigt, wie es vor seiner Einstellung üblich war. Martin habe sein Amt nicht seinen beruflichen Fähigkeiten zu verdanken, sondern ausschließlich seinen engen Beziehungen zur Partei und den nationalsozialistischen Bürgermeistern Schneider und Berckmüller.
Als typischer „Nutznießer des 3. Reiches“ wird auch Karl Reichert gesehen, der laut Stellungnahme des Stadtrates 1950 als einer der „rücksichtslosesten und brutalsten Nazis“ Villingens galt.
Reichert, 1901 in Karlsruhe geboren, besuchte die Realschule, erlernte das Elektrohandwerk, studierte dann am Badischen Staatstechnikum mit dem Abschluss eines „staatlich geprüften Elektrobaumeisters für den mittleren Dienst“. Anschließend arbeitete er in verschiedenen Betrieben, 1930 machte er sich selbstständig. Die fachlichen Voraussetzungen für eine leitende Position waren nicht vorhanden.
Im Mai 1934 war in der NS-Zeitung „Der Führer“ die Stelle eines Leiters des Elektrizitätswerkes in Villingen ausgeschrieben, auf die sich Reichert bewarb. Als besondere Referenzen hob er folgendes hervor: seine frühe Parteizugehörigkeit, seine niedrige Partei-Mitgliedsnummer (Nr. 80415), sein goldenes Parteiabzeichen seine Bekanntschaft mit Gauleiter und Reichsstatthalter Wagner sowie dem Freiburger NS-Bürgermeister Kerber. Bürgermeister und Parteigenosse Schneider sagte ihm die Stelle sofort zu -ohne vorherige Rücksprache mit dem Stadtrat. Amtsantritt war der 09. Juli 1934.
Sein parteipolitischer Aufstieg fügte sich nahtlos an. Schon im Oktober desselben Jahres übernahm Reichert das Amt des Ortsgruppenleiters, Monate später kam das Amt des stellvertretenden Kreisleiters hinzu. Dass diese parteipolitischen Aufgaben Zeit beanspruchten, sah auch Bürgermeister Schneider ein und gestattete seinem E-Werk- Leiter „dringende schriftliche Arbeiten für die Ortsgruppe während der Dienstzeit zu erledigen.“ Ein Zeitzeuge sagte aus, dass „sich Reichert nahezu ausschließlich als politischer Funktionär der NSDAP betätigte und die Arbeit im E-Werk im wesentlichen untergeordneten Organen überließ“. Diese Einschätzung erinnert an die Dienstauffassung des Jugendamtsleiters Franz Martin. Kurz gesagt: Der Stadt bezahlte die Parteiarbeit.
Seinen Ruf, brutal und rücksichtslos gewesen zu sein, hat sich Reichert hart erarbeitet. Er strengte eine Reihe von Prozessen gegen Villinger Bürger an, die sich gegen seine Bedrohungen, Tätlichkeiten oder verbale Beleidigungen gewehrt haben. Dabei kam auch ein sehr eigenwilliges Rechtsverständnis zum Ausdruck. Er behauptete: “Ich bin Ortsgruppenleiter und als solcher politischer Amtsträger. Eine Privatklage ist überhaupt nicht zulässig. Ich unterstehe in meiner Eigenschaft als Ortsgruppenleiter nicht der zivilen Strafgerichtsbarkeit, sondern ausschließlich der Strafgerichtsbarkeit der Partei“.
Reicherts beruflicher Ehrgeiz war mit der Leitung des E-Werkes nicht gestillt. Am 30. März 1939 bewarb er sich beim Bürgermeister Berckmüller um das Amt eines Beigeordneten. Neben seiner fachlichen Qualifikation, die für ihn als selbstverständlich galt, hatten für ihn seine parteipolitischen Ämter ein noch größeres Gewicht, die er in drohender Form in die Waagschale legte. Er schrieb: „Da ich als politischer Leiter der NSDAP mit dem Vertrauen unseres Gauleiters hohe Ämter als Hoheitsträger bekleide, glaube ich bestimmt, dass gegen diesen Antrag zur Bestellung meiner Person als Beigeordneter von Seiten des Bürgermeisters und der Ratsherren kein Einspruch erhoben wird.“ Berckmüller blockte Reicherts Bewerbung jedoch ab, da er ihm die notwendige Qualifikation absprach. Zum Trost wurde Reichert zum Beamten auf Lebenszeit ernannt und durfte den Titel eines „Städtischen Baurats“ tragen. Soweit zu den Nutznießern in Villingen.
Am 15. Juli 1935 legte das Bezirksamt ein Verzeichnis der in der Stadt Villingen wohnhaften Juden - Erwachsene und Kinder - an. Aufgeschlüsselt nach Name, Vorname, Geburtstag und Ort, Beruf und Straße wurden 65 Personen genannt. Die am häufigsten genannten Berufe waren: Kaufmann und Viehhändler. In dieser Liste sind auch 17 Kinder aufgeführt, die nach 1920 geboren wurden und die bis in die 30er Jahre in Villingen lebten.
Von neun Kindern, die aus fünf verschiedenen Familien stammten, und die ganz unterschiedliche Schicksale erlitten, möchte ich im Folgenden berichten. In diesem Zusammenhang möchte ich Dr. Heinz Lörcher danken, der seit Jahrzehnten das Leben der jüdischen Menschen in Villingen erforscht hat und auf dessen Erkenntnisse ich zurückgreifen kann.
Rita Schwab, am 24.Februar 1924 in Villingen geboren, war die Tochter von Jakob und Bella Schwab.
Ritas Vater war schon in der zweiten Generation als Viehhändler in der Rietstraße 40 (direkt am Riettor) ansässig. Rita besuchte die Klosterschule St. Ursula. Ihre Erinnerungen an das Dritte Reich waren stark von der Ausgrenzung geprägt. Auf ihr Jüdisch-Sein wurde sie, so berichtet sie bei einem Besuch in ihrer ehemaligen Schule, 1934 oder 1935 hingewiesen. Sie wurde aus dem städtischen Schwimmbad verwiesen mit dem barschen Hinweis, ob sie das Schild am Eingang nicht lesen könne. Dort stand „Juden ist der Zutritt verboten“. Auch in der Schule litt Rita unter der zunehmenden Diskriminierung. Sie musste allein in der letzten Bank sitzen und in der Pause habe niemand mit ihr gesprochen. Die meisten Klosterschwestern wären jedoch gut zu ihr gewesen. Der 09. November 1938 war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben. In dieser Nacht verwüsteten Villinger SA-Männer den jüdischen Betsaal in der Wohnung der Familie Schwarz in der Gerberstraße. Ritas Vater und drei weitere jüdische Männer wurden von der Gestapo verhaftet, zunächst ins Villinger Gefängnis und dann ins KZ Dachau verschleppt. Nach sechs Wochen kam der Vater zurück, aber – so berichtete Rita – als „gebrochener Mann“, den sie kaum wiedererkannte. Ihr Haus hatten sie schon Anfang 1938 an eine ihnen wohlgesinnte Villinger Familie verkauft, konnten jedoch dort bis zu ihrer Ausreise nach Palästina am 10. Dezember 1939 wohnen. Rita war 15 Jahre alt. Der vorausgeschickte Hausrat blieb verschwunden, und so erreichte die Familie ihre neue Heimat „jeder nur mit einem Koffer“: Aber sie waren am Leben.
Lotte Schwab, Ritas Cousine, lebte ebenfalls in der Rietstraße 40. Geboren wurde sie am 12. März 1928 in Nürnberg. Als Lotte vier Jahre alt war, starb ihre Mutter. Ihr Vater Sally wurde 1933 verhaftet und inhaftiert. Ein Jahr später nahmen die Geschwister Ihres Vaters – Martha und Heinrich Schwab – das fünfjährige Mädchen in Villingen auf und dort besuchte Lotte auch die Mädchenschule. Ehemalige Mitschülerinnen erzählten, ihnen sei nicht klar gewesen, dass Lotte Jüdin war, aber es sei ihnen auch nicht aufgefallen, als Lotte eines Tages den Unterricht nicht mehr besuchte. Der Grund war ein Schulverbot für jüdische Kinder ab Ostern 1938. Ihr Onkel Heinrich unterrichtete sie zunächst so gut es ging zu Hause. Ein Jahr später wurde Lotte in einer jüdischen Pension in Freiburg aufgenommen und besuchte dort eine Schule für jüdische Kinder.
Der 22. Oktober 1940 – Lotte war jetzt zwölf Jahre alt - war nicht nur für sie ein Schicksalstag. Auf Befehl der Gauleiter Wagner und Bürckel sollten ihre Gaue judenfrei werden und so wurden alle Jüdinnen und Juden Badens, der Pfalz und des Saarlandes in das am Fuße der Pyrenäen gelegene Lager Gurs deportiert. Betroffen aus Villingen waren unter anderen auch Lottes Tante Martha, ihr Onkel Heinrich und ihr Vater Sally. In Gurs sahen sie sich zum ersten Mal wieder. Lotte hatte Glück. Nur wenige Wochen später - im Januar 1941 – konnte sie zusammen mit anderen Kindern in einem Kinderheim untergebracht werden und im September desselben Jahres mit einem Kindertransport der Quäker in die USA zu einer Cousine ihres Vaters ausreisen. Einige Zeit war sie noch im Briefverkehr mit ihren Verwandten, der dann jedoch abriss. Erst nach dem Krieg erfuhr sie, dass ihr Vater und Onkel Heinrich im KZ Majdanek, ihre Tante Martha in Auschwitz umgebracht worden sind.
Louis Bikart wohnte mit seiner Frau Jeanette und seinen drei Kindern Ruth, Sigmund und Silva Irene in der heutigen Waldstraße in Villingen. Von Beruf war er Viehhändler, ein kleiner Betrieb, den er von seinem Vater übernommen hatte.
Ruth, das älteste Kind, im Mai 1921 geboren, besuchte zunächst die Mädchenschule und dann die Handelsschule an der Schule St. Ursula. Der ein Jahr später geborene Sigmund besuchte die Jungenschule und war ein begeisterter Fußballspieler beim FC 08 Villingen. Silva Irene, das jüngste Kind, geboren im August 1926, war wie ihre Schwester Ruth Schülerin der Mädchenschule in der Bärengasse. Mit Beginn der Nazi-Herrschaft gingen die Einkünfte aus dem Viehhandel immer mehr zurück, bis im Jahr 1936 ein Arbeitsverbot für Viehhändler angeordnet wurde. Dies war dann der entscheidende Grund für die Familie, Villingen zu verlassen. Ermöglicht wurde der Entschluss durch einen Haustausch mit einer deutschen Witwe, die in der Nähe von Paris wohnte. Allerdings durfte Louis Bikart als Ausländer in Frankreich nicht arbeiten, sodass die Familie von ihren Ersparnissen und dem Verkauf ihrer Wertsachen leben mussten. Mit dem Kriegsausbruch am 01.September 1939 wurde Louis Bikart als sogenannter feindlicher Ausländer zunächst interniert und musste nach seiner Freilassung Arbeitsdienst leisten. Nach der Besetzung Frankreichs begann auch die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Lange Zeit in der Illegalität lebend, wird das Ehepaar Bikart und ihre Töchter am 02. September 1942 verhaftet und zwei Monate später nach Auschwitz deportiert. Jeanette und ihre Töchter Ruth (21 Jahre) und Silvia Irene (16 Jahre) wurden direkt nach ihrer Ankunft ermordet. Louis – so wurde von überlebenden Mitgefangenen berichtet - leistete in verschiedenen Außenlagern Schwerstarbeit, bevor er im Januar 1945 umgebracht wurde. Sigmund Bikart entging zunächst der Internierung in Frankreich, wurde dann jedoch verhaftet und ebenfalls nach Auschwitz deportiert. Als einziges Familienmitglied überlebte er die Konzentrationslager und erlebte im Januar 1945 im Alter von 23 Jahren seine Befreiung im KZ Buchenwald.
Wie schon erwähnt, befand sich in der Gerberstraße 33 ein Betsaal für die jüdischen Gläubigen in Villingen. Der Betsaal war Teil der Wohnung der Familie Schwarz. Hugo Schwarz, der Besitzer des Hauses, betrieb einen Viehhandel, den er von seinem Vater übernommen hatte. Verheiratet war er seit 1926 mit Irma, geb. Oberndörfer. Das Ehepaar hatte drei Kinder. Margarete, am 14.April 1928 geboren war die Älteste, ihr Bruder Heinz Julius wurde am 31. August 1929 und Manfred der Jüngste am 13. Juni 1931.
Im Haus wohnten noch Hugos Eltern Louis und Bertha und seine Schwester Julie. Hugo, als Kriegsfreiwilliger schwer verwundet, war Mitglied in verschiedenen Vereinen, unter anderem aktiver Fußballer beim FC 08 und Organisator und Sponsor in der Narro-Zunft. Als erfolgreicher Geschäftsmann gehörte Hugo zum ersten vermögenden Drittel der Villinger Haushalte. Schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfolgten erste Boykottmaßnahmen und Ausschreitungen gegenüber den jüdischen Geschäftsinhabern. Im April 1936 musste Hugo Schwarz seinen Viehhandel schließen und war gezwungen, Grundstücke und schließlich auch sein Haus zu verkaufen, um den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern. Ausreisegenehmigungen in die USA zu erlangen, schlugen fehl. Der 09. November 1938, die sogenannte „Reichskristallnacht“, prägten sich tief in das Gedächtnis der Kinder ein. Margarete war damals zehn Jahre, Heinz Julius neun und Manfred sieben Jahre alt. Sie mussten mit ansehen, so berichteten sie Heinz Lörcher, der sie in Israel besuchte, wie SA-Männer aber auch Zivilpersonen in die Wohnung eindrangen, den Betsaal zerstörten, Möbel und Kultgegenstände auf die Straße warfen und unter dem Gejohle der Umstehenden anzündeten. Ihre Mutter lag während dieses Überfalls, an Diphterie erkrankt, hilflos im Bett. Noch in der Nacht wurde Hugo Schwarz zusammen mit Jakob und Sally Schwab und Robert Gideon verhaftet, zunächst ins Villinger Gefängnis und dann ins KZ Dachau gebracht. Erst nach mehr als zehn Wochen kehrte Hugo zu seiner Familie zurück mit der festen Absicht, wenigstens die Kinder möglichst rasch außer Landes zu bringen. Dies gelang auch Anfang März 1939 mit einem Kindertransport in die Schweiz. Margarete und ihr Bruder Manfred konnten zusammen in einem Kinderheim untergebracht werden, Heinz bei einer jüdischen Familie in Winterthur. Ihre Eltern, ihre Großmutter und ihre Tante Julie wurden am 22. Oktober 1940 mit sieben weiteren Personen aus Villingen nach Gurs deportiert.
Ihre Großmutter Bertha starb an Entkräftung in Gurs, die Eltern und ihre Tante Julie wurden von der Vichy-Regierung an die deutschen Besatzer ausgeliefert und im August 1942 in Auschwitz ermordet. Lange Zeit waren die Kinder mit ihren Eltern im Briefkontakt, immer in der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Erst nach dem Krieg haben die Kinder vom Schicksal ihrer Eltern erfahren. Zusammen wanderten sie nach Israel aus und gründeten dort eigene Familien. Der Gedanke daran, wie ihre Mutter darunter gelitten haben musste, als sie ihre drei Kinder im Alter von sieben, neun und elf Jahren wegschicken musste, dass sie überleben, hat sie nie losgelassen.
Anders als die Brüder Heinz und Manfred Schwarz, die sich weigerten, wieder mit Deutschland in Kontakt zu treten, suchte Joseph Haberer bei seinem Besuch im Jahr 2009 ganz bewusst den Kontakt zu Jugendlichen in den Villinger Schulen. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man von ihm erfährt, welch schweres Schicksal er und seine Eltern erlitten haben. Sein Vater Berthold, geboren 1882 in Offenburg, kam im Jahre 1925 nach Villingen und erhielt eine Anstellung beim örtlichen Finanzamt. Zwei Jahre später heiratete er Georgine Seckels, geboren 1893 in Aurich, die den Beruf einer Schneiderin erlernt hatte.
Joseph wurde am 31. Januar 1929 geboren. Die Erinnerungen über die ersten Jahre seines Lebens in Villingen waren sehr zwiespältig. Mit den Nachbarskindern in der Herdstraße sei er gut ausgekommen, in der Bubenschule jedoch habe man ihm Schimpfnamen nachgerufen und sogar Steine auf ihn geworfen. Durch das im April 1933 erlassene Gesetz „Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das unter anderem die Entlassung aller Beamten und Angestellten „nicht-arischer Abstammung“ vorsah, verlor auch Berthold Haberer seine Arbeitsstelle beim Finanzamt und damit sein bisher schon bescheidenes Einkommen. Es blieb ihm eine geringe Pension und für kurze Zeit fand er eine Aushilfsstelle bei dem jüdischen Rechtsanwalt, bis auch dieser seine Zulassung verlor. Georgine Haberer versuchte durch Näharbeiten zum Familieneinkommen beizutragen, eine eigenständige Tätigkeit als Schneiderin blieb ihr verboten. Auch für die Familie Haberer war der 09. November 1938 ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben. Josef Haberer erzählte, wie ihm sein Vater die Zerstörung des Gebetsaales in der Gerberstraße gezeigt habe. Am selben Tag musste Berthold die Schule verlassen. Schon in den Wochen zuvor hatte jedoch sein Vater Kontakt zu jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen aufgenommen, die Kindertransporte ins rettende Ausland organisierten. Mit einem dieser Transporte gelang der neunjährige Berthold Anfang Dezember nach England. Bis zur holländischen Grenze konnte ihn sein Vater noch begleiten, dort wurde Josef abgeholt und in einem jüdischen Waisenhaus in Northampton aufgenommen. Im November 1946 bot ein Bruder seiner Mutter ihm in Oakland/USA eine neue Heimat. Aufgrund ihres geringen Einkommens sah sich das Ehepaar Haberer noch in den 30er Jahren gezwungen, jüdische Pflegekinder aufzunehmen.
Das erste Kind war Erich Gaber, im Dezember 1932 als uneheliches Kind in Karlsruhe geboren. Erich lebte bis Juli 1940 bei Haberers, wurde dann im Alter von achtJahren in einem sogenannten „Judenhaus“ in Heidelberg aufgenommen und von dort am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Er hatte das Glück, unter geändertem Namen in einem Kinderheim versteckt zu werden, wo er den Krieg überlebte. Erich blieb in Frankreich, heiratete und nahm die französische Staatbürgerschaft an.
Als zweites Pflegekind wurde Bella Kohn aufgenommen. Bela war gerade sechs Monate alt, als sie zusammen mit dem Ehepaar Haberer nach Gurs deportiert wurde. Auch Bella hatte das Glück, von einer französischen Krankenschwester in einem Heim außerhalb des Lagers versteckt zu werden, wo sie die Naziherrschaft überlebte. Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse im Lager, das Vegetieren in zugigen Baracken und die mangelnde Lebensmittelversorgung kostete Berthold Haberer im Januar 1942 das Leben.
Seine Frau Georgine, die noch kurze Zeit brieflichen Kontakt zu ihrem Sohn nach England hielt, wurde ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Mannes zunächst in das Lager Drancy bei Paris und von dort am 10. August nach Auschwitz deportiert. Direkt nach ihrer Ankunft wurde sie ermordet.
Als Josef Haberer 2009 mit seiner Ehefrau Rose nach Villingen kam, hielt er einen Vortrag im Theater am Ring und besuchte verschiedene Schulen (unter anderem auch meine Schule, das Gymnasium am Romäusring Villingen-Schwenningen). Bereitwillig gab er über seinen Lebensweg in England und den USA Auskunft, erzählte von seiner Kindheit in der Herdstaße, sprach auch offen über seine Gefühle des Allein- und Verlassenseins, über den Verlust seiner Eltern. Bewundernswert fand ich die persönlichen Schlüsse, die Josef Haberer schon früh aus seiner Lebenserfahrung gezogen hat. So sagte er.: „Ich will nicht Opfer bleiben“ oder: „Es ist besser selbst etwas zu tun, als sich bemitleiden zu lassen“ und “Heute ist es wichtig, wenn man die Genozide, die Vernichtung von Minderheiten sieht: Man soll nicht Zuschauer sein, wenn etwas Böses geschieht. Der erste Schritt ist das Wichtigste“.
Und in diesem Sinn verstehe ich auch diese Ausstellung. Sie ist zwar nicht der erste Schritt aber ein weiterer, der an die Verbrechen des Nationalsozialismus, an die Opfer und an die Täter in Villingen und Schwenningen erinnert.