Verschwörungstheorien können in normalen Zeiten unterhaltsam wirken. Aber vor dem Hintergrund des Anstiegs von Rechtsradikalismus der letzten Jahre und nun der Coronavirus-Epidemie kann der Glaube an eine große Verschwörung zu einem gefährlichen Radikalisierungsbeschleuniger werden.
Es ist ein sonniger Tag im Frühsommer 2020 und ich sitze mit Atemschutzmaske und Musik auf dem Ohr in der Berliner U-Bahn. An einer Haltestelle steigt eine Gruppe Jugendlicher zu, nimmt schräg gegenüber Platz und beginnt angeregt zu diskutieren. Ich beachte sie zunächst nicht, bis plötzlich Gesprächsfetzen an mein Ohr dringen: „Bill Gates… Impfungen…großer Plan!“ Ruckartig ziehe ich die Kopfhörer herunter: „Entschuldigung, aber mit dem Thema kenne ich mich zufällig aus.“ Im Schnelldurchlauf erzähle ich, warum es aus meiner Sicht absurd ist zu glauben, der Microsoft-Gründer stecke hinter der Pandemie. Wir sprechen über Impfprogramme und das Verhältnis der Gates-Stiftung zur Weltgesundheitsorganisation. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Gespräch dieser Art führe. Wie viele andere Menschen, wurde auch ich seit Ausbruch der Pandemie oft mit Verschwörungsmythen zum Thema Corona konfrontiert.
Bereits im Februar 2020 warnte die WHO vor dem Ausbruch einer "Infodemie". Die Palette der im Netz kursierenden Geschichten reicht von „Corona gibt es nicht“ bis hin zu Mutmaßungen, das Virus sei insgeheim eine Biowaffe, hinter deren Entwicklung wahlweise die USA, China oder Israel steckten. Zwar ist das Vertrauen in Politik, Wissenschaft und Medien in der Krise in Deutschland insgesamt gestiegen, gleichwohl zeigt sich eine Minderheit in der Bevölkerung zunehmend unzugänglich für faktenbasierte Diskurse. Das wirkt sich ganz konkret auf Maßnahmen zur Pandemieeindämmung aus. Wer denkt, bei Corona handele es sich lediglich um einen großen „Schwindel“, ist weniger bereit Abstand zu halten oder einen Nase-Mund-Schutz zu tragen. In einigen Ländern attackierten Verschwörungsgläubige sogar Funkmasten, weil sie überzeugt waren, Covid-19 werde durch den Mobilfunkstandard 5G ausgelöst.
Verschwörungsglaube zieht sich quer durch die Gesellschaft
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Jugendlichen aus der Berliner U-Bahn im Internet auf die angebliche Verschwörung rund um Bill Gates gestoßen sind. Weltweit gibt es eine beträchtliche Zahl von Menschen, die derartiges glauben. Dabei lässt sich mit nur wenigen Klicks nachprüfen, dass nichts an der Geschichte dran ist. Auf Außenstehende mutet die Gedankenwelt von Verschwörungsgläubigen häufig skurril an. Es erscheint verlockend, solche Menschen als „verrückt“ oder „paranoid“ abzustempeln. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten jedoch, dass der Anteil von Menschen mit psychischen Erkrankungen innerhalb der Gruppe der Verschwörungsgläubigen nicht unbedingt größer ist als in der Gesamtbevölkerung. Der Glaube an Verschwörungen ist ein Phänomen, das sich quer durch die Gesellschaft zieht.
In Krisenzeiten fallen Verschwörungsmythen auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Wer Angst und Unsicherheit erlebt, neigt eher dazu, Muster zu sehen, wo keine sind. Der Glaube an einen „großen Plan“ kann Halt geben, zudem lassen sich so klare Schuldige benennen. Viele Gruppen aus dem verschwörungsideologischen Milieu vermitteln ihren Anhängern, quasi die Hauptrolle in einer großen Heldengeschichte zu spielen. Das wirkt auf einige Menschen äußerst attraktiv.
Online-Plattformen sind ein wichtiger Verbreitungsweg für Desinformation und Verschwörungserzählungen. Viele der reichweitenstarken Accounts, die entsprechende Inhalte über Corona verbreiten, hatten schon vor Ausbruch der Pandemie eine beachtliche Fangemeinde. Bestehende Geschichten wurden häufig kurzerhand um neue Elemente rund um Corona ergänzt. Gruppen, die zuvor verbreitet hatten, Mobilfunkstrahlen würden der Gedankenkontrolle dienen, behaupteten etwa, Strahlung hätte die Pandemie ausgelöst. Akteure, die zuvor Verschwörungserzählungen zum Thema Impfen verbreitet haben, witterten einen großen Plan zur Durchsetzung angeblicher Zwangsimpfungen. Der Grundtenor dieses Schwarz-Weiß-Denkens: „Uns wird etwas verschwiegen! Es gibt einen geheimen Plan. Im Hintergrund ziehen Bösewichte die Strippen!“
Digitalisierung als Brandbeschleuniger
Neue Krankheiten boten Verschwörungstheoretikern immer schon viel Stoff zum Erfinden von Geschichten. Im Mittelalter kam es während des Ausbruchs der Schwarzen Pest zu schrecklichen Pogromen gegen jüdische Gemeinden in Europa, weil verbreitet wurde, diese hätten Brunnen vergiftet und so die Epidemie ausgelöst. Auch der Ausbruch der Spanischen Grippe war von Verschwörungsmythen begleitet. So kursierte etwa in unterschiedlichen Ländern das Gerücht, gegnerische Kriegsparteien aus dem ersten Weltkrieg hätten das Virus gezielt verbreitet.
Verschwörungsmythen sind also nicht erst durch das Internet populär geworden. Gleichwohl ist klar, dass die neuen Möglichkeiten der Vernetzung auch die Dynamik innerhalb von einschlägigen Gruppen verändern. Das verschwörungsideologische Milieu ist international gut vernetzt, man verweist gerne auf einander. Neue Narrative verbreiten sich dank dieser Vernetzung nicht selten innerhalb weniger Stunden auch über Ländergrenzen hinweg.
Manche Gruppierungen tragen in einem kollaborativen Prozess gemeinsam vermeintliche „Indizien“ für eine Verschwörungserzählung zusammen. Anhänger der in den USA entstandenen Bewegung QAnon verbringen viel Zeit damit, Hinweise eines geheimnisvollen Nutzers namens „Q“ zu interpretieren. Über die Jahre ist in dieser Gemeinde so eine hochkomplexe Geschichte entstanden, die für Außenstehende kaum mehr verständlich ist. In dieser Gedankenwelt sind die Regierungen zahlreicher Länder von mordenden Geheimorganisationen unterwandert, Donald Trump wird als eine Art Heiland verehrt. Auf einigen Demonstrationen in Deutschland gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sah man unter den Teilnehmern auch T-Shirts und Plakate, die sich auf QAnon beziehen. Auf einer Demonstration in Mannheim sagte der Moderator der Kundgebung „Where we go one..“ - und das Publikum rief: „..we go all“. Der Slogan gilt in der QAnon-Gruppierung als Erkennungszeichen.
Überschneidungen mit der extremen Rechten
Im verschwörungsideologischen Milieu gab es bereits vor der Pandemie große Überschneidungen mit der extremen Rechten. Der Verweis auf einen angeblich übermächtigen Feind kann dazu genutzt werden das Gruppengefühl zu stärken. Wer seinen Anhängern glaubhaft macht, die Medienlandschaft werde insgeheim gesteuert, immunisiert sich gegen Kritik von außen. Verschwörungserzählungen werden außerdem genutzt, um Gewalt zu legitimieren. Zahlreiche rechtsextreme Attentäter der letzten Jahre glaubten an rechtsextreme Verschwörungserzählungen, wie etwa eine angebliche jüdische Weltverschwörung oder den Umvolkungs-Mythos. In rechtsextremen Gruppierungen wurde während der Pandemie gefordert, durch gezielte Aktionen einen Bürgerkrieg auszulösen. Immer wieder werden Drohszenarien skizziert, in denen es etwa heißt: „Morgen rollen hier die Panzer durch die Straßen!“
Abseits der großen Dienste wie Facebook, Instagram oder YouTube ist längst ein eigenes Ökosystem aus Nachrichtenportalen, Video-Streaming-Angeboten, Verlagen, Zeitschriften und Offline-Events rund um Verschwörungsmythen entstanden. Trotzdem erfüllen die populären Plattformen nach wie vor eine wichtige Funktion beim Werben um neue Anhänger. Von dort aus werden Nutzer häufig auf andere Kanäle und Plattformen gelenkt. Das war beim verschlüsselten Messengerdienst Telegram zu beobachten, der von vielen Influencern als eine Art „sicherer Hafen“ angesehen wird, da man sich dort sicher vor Sperrungen der Accounts wähnt.
Die Sorgen sind nicht unbegründet. Im Sommer 2020 gab Twitter bekannt, man werde Inhalte der von Experten als gewaltbereit eingestuften QAnon-Gruppierung künftig von der Plattform verbannen. Eine breite öffentliche Debatte – auch infolge von mehreren Gewalttaten, bei denen der Glaube an Verschwörungen eine Rolle spielte – hat dazu beigetragen, dass die Rolle großer Plattformen heute deutlich kritischer gesehen wird. Bereits 2018 warnten Aktivisten und Wissenschaftler, dass der auf Maximierung der Zuschauerzeit optimierte Vorschlagsalgorithmus von YouTube toxische Auswirkungen habe. Extreme Inhalte wurden offenbar bevorzugt, da diese die Nutzer länger am Bildschirm hielten – davon profitierten auch Accounts aus dem verschwörungsideologischen Milieu. Erst nach langer Debatte kündigte YouTube an nachzubessern. Jedoch lässt sich kaum von außen nachprüfen, wie effektiv die Maßnahmen des Unternehmens sind.
Das Internet ist heute ein bedeutender Kanal für die Verbreitung von falschen Informationen ist – aber es ist zugleich ihr stärkstes Gegengewicht. Nicht nur die Lüge ist oft meist nur wenige Klicks entfernt – auch der Zugang zu verlässlichen Informationen ist niedrigschwelliger geworden. Auf Plattformen wie YouTube finden sich zahlreiche Videos mit leicht verständlichen wissenschaftlichen Analysen, wie etwa auf dem Kanal MaiLab der bekannten Moderatorin Mai Thi Nguyen-Kim, die eine enorme Reichweite erzielen. Zu den prominentesten Verschwörungserzählungen gibt es unzählige Faktenchecks, etwa auf der Webseite der Initiative Correctiv. Die freie Verfügbarkeit von Wissen ist gerade in Zeiten einer Pandemie ein großes Plus.
Um in der Pandemie Richtiges von Falschem zu trennen, haben zahlreiche Social-Media-Plattformen verkündet, Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung von Mythen rund um Corona zu ergreifen. Bei einschlägigen Instagram-Hashtags werden mittlerweile Warnhinweise angezeigt. YouTube verlinkt verlässliche Quellen als Hintergrundinformation. Auf Facebook werden Nutzer mit Faktenchecks gewarnt, wenn sie entsprechende Inhalte weiterverbreiten wollen. Ob solche Maßnahmen allerdings eingefleischte Verschwörungsgläubige überzeugen, ist jedoch fraglich. Warnhinweise werden im schlimmsten Fall zu „Indizien“ für angebliche Bestrebungen zur Unterdrückung vermeintlicher „Wahrheiten“ uminterpretiert. Zumindest bei Nutzern aber, die noch nicht vollends in der Schwarz-Weiß-Welt der Verschwörungsideologen abgetaucht sind, können solche Maßnahmen aber durchaus etwas bewirken.
Was tun gegen Verschwörungsmythen?
Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit Verschwörungsgläubigen. Klar ist, dass es nicht reicht über den Umgang von Plattformbetreibern mit dem Phänomen zu sprechen. Die Zivilgesellschaft und jede*r einzelne Bürger*in sind gefordert. Beratungsstellen raten dazu, möglichst frühzeitig einzugreifen, wenn Freunde oder Angehörige Verschwörungserzählungen verbreiten. Gezielte Fragen können das Gegenüber dazu anregen, Grundannahmen zu hinterfragen.
Die gute Nachricht lautet: Wer noch nicht im Kaninchenbau des Verschwörungsglauben abgetaucht ist, kann mit Faktenchecks durchaus noch überzeugt werden. Diese Erfahrung habe auch ich bei meiner Begegnung in der Berliner U-Bahn gemacht. Insgeheim habe ich mit Abwehr gerechnet, mit Gegenrede oder zumindest mit Verärgerung, weil ich einfach so in das Gespräch über die angebliche Gates-Corona-Verschwörung geplatzt bin. Doch das Gegenteil war der Fall. Während wir redeten, setzte einer der Jugendlichen seine Maske wieder auf, die bis dahin unter seinem Kinn gebaumelt hat. Als die Jugendlichen einige Haltestellen später aussteigen, verabschieden sie sich überschwänglich. Ich setze die Kopfhörer wieder auf und denke: „Wenn es doch immer so einfach wäre!“
Eine englische Version dieses Artikels erschien als Teil der Tech and Covid-19 Serie unserer Büros in Brüssel, Hongkong und Washington, DC.