Geschichte des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg

Dossier

Der Beitrag zeichnet kritisch die Geschichte der baden-württembergischen AfD seit ihrer Gründung nach. Diese ist, wie die anderer Landesverbände auch, stark geprägt von innerparteilichen Streitereien. Neben Machtkonflikten geht es auch um ideologische Auseinandersetzungen, sowohl über die grundlegende inhaltliche und strategische Ausrichtung der Partei als auch über einzelne Politikfelder. Die Geschichte wird chronologisch dargestellt, gleichzeitig werden die verschiedenen Partei-Strömungen und Ausgründungen vorgestellt. Angeschnitten wird die Ideengeschichte der sogenannten Neuen Rechten, weil sie zum Verständnis des Höcke-Flügels wichtig ist.

Daneben wird auf Besonderheiten wie die Spendenskandale der Funktionär*innen Weidel und Meuthen eingegangen, wie auch auf die Demonstrations-Tätigkeit und die „Außenpolitik“ der AfD in Baden-Württemberg. Es wird deutlich, dass in der Südwest-AfD eine kontinuierliche Rechtsentwicklung stattgefunden hat. Die Arbeiten an diesem Kapitel wurden im August 2020 beendet und befinden sich somit auf dem entsprechenden Stand.

Machtkampf in der AfD

Geschichte des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg

Der nachfolgende Beitrag widmet sich der über siebenjährigen Geschichte des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg in chronologischer Weise. Ein Schwerpunkt dabei ist die Identifizierung der unterschiedlichen Partei-Strömungen und ihrer Repräsentant*innen.

Vorgeschichte

Die AfD ist der bislang erfolgreichste Versuch, eine politische Partei rechts der Unions-Parteien und der FDP, die anfangs stramm nationalliberal ausgerichtet war, zu etablieren. Dieser Platz war, sofern überhaupt, nur jeweils kurzzeitig besetzt. Auch unterschieden sich die jeweiligen Parteien am rechten Rand in ihrer Programmatik, ihrer grundsätzlichen Ausrichtung und der Nähe bzw. Zugehörigkeit zum Rechtsextremismus. Für die Wahl zum ersten Deutschen Bundestags existierte die Fünf-Prozent-Klausel auf Ebene der Bundesländer. Wer hier diese Sperrklausel überwand, konnte bei einer ausreichenden Gesamtstimmenzahl in den Bundestag einziehen. Gleich zwei rechte Kleinparteien – die „Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei“ und die „Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung“ – konnten so Mandate im ersten Bundestag erzielen. Am 25. Juni 1953 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein neues Bundeswahlgesetz, nach dem die Fünf-Prozent-Hürde auf die bundesweit abgegebenen Stimmen ausgedehnt wurde. So gelang 1953 nur noch dem „Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (GB/BHE) der Sprung über die fünf Prozent. Die GB/BHE entwickelte sich von einer politischen Interessenvertretung der Vertriebenen mit sozialpolitischer Ausrichtung zu einer Partei rechts von CDU/CSU, nachdem Teile der Partei zu CDU/CSU übergetreten waren. Prompt misslang bei der Wahl 1957 der Wiedereinzug in den Bundestag. Danach schafften es weder die NPD noch die „Republikaner“ (REP), die „Deutsche Volksunion“ (DVU) oder andere extrem rechte Parteien in den Bundestag.

Die Partei, die der AfD in der deutschen Parteiengeschichte programmatisch und personell am nächsten kommt, war der von 1994 bis 2000 bestehende „Bund freier Bürger“ (BfB) um den ehemaligen bayerischen FDP-Funktionär Manfred Brunner. Die Europa-Kritik dieser konservativen Neugründung richtete sich gegen die „Maastrichter Verträge“ von 1992 und die einheitliche europäische Währung, den 2002 eingeführten Euro. Der BfB kann als eine Art Vorläuferpartei oder als „Vorbote“ der AfD gelten. Dem BfB gelang es bei weitem nicht, in ein Landesparlament oder gar den Bundestag einzuziehen. Das beste Ergebnis erzielte der nationalliberale bzw. rechtspopulistische BfB gleich zum Auftakt bei der Europawahl 1994 mit 1,1 Prozent. Hier versuchte sich der BfB als Anti-EU-Partei zu profilieren. In einem Werbeschreiben erklärte Brunner:

„Wir sind gegen Maastricht und für Europa, gegen ein europäisches Inflationsgeld und für die Deutsche Mark. (...) Wir vertreten eine überzeugende freiheitliche Alternative zur Verkrustung und Orientierungslosigkeit der etablierten Parteien.“[1]

Inhalte, Programm, Strukturen und Personen weisen Parallelen und Überschneidungen zur heutigen AfD auf. Der BfB bezeichnete sich selbst als „liberal-konservativ“ und „nationalliberal“. Von Wissenschaftlern wie Frank Decker wurde der BfB als rechtspopulistisch klassifiziert.[2] Der BfB orientierte sich in Laufe seines Bestehens zunehmend an den österreichischen „Freiheitlichen“ des Kärntner Politikers Jörg Haider. Nach seiner Radikalisierung wurde der BfB ab 1999 in verschiedenen Verfassungsschutzberichten aufgeführt und dem Rechtsextremismus zugeordnet.[3] Unter den 64 Erstunterstützern zur Gründung der AfD befanden sich neben weiteren studierten bzw. promovierten Wirtschaftswissenschaftlern auch 18 Volkswirtschaftsprofessoren. Von diesen VWL-Professoren um Bernd Lucke, die die Frühphase der AfD medial prägen sollten, gehörte Joachim Starbatty zuvor als Vizevorsitzender dem „Bund freier Bürger“ (BfB) an, den er aber 1994 wieder verließ. Ebenfalls schon im Umfeld des BfB aktiv war der Mannheimer VWL-Professor Roland Vaubel. Er galt der Wochenzeitung „Die Zeit“ als Sympathisant des BfB: „Roland Vaubel, heute Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der AfD, bekundete ebenso Sympathien für die damalige Partei wie der (…) [2014] verstorbene [Wirtschaftswissenschaftler] Wilhelm Hankel.“[4]. Die beiden Volkswirtschafts-Professoren Starbatty und Vaubel waren lange nach dem Ende des BfB Hauptunterzeichner des Aufrufs „Wählen Sie die Alternative!“ der im September 2012 gegründeten „Wahlalternative 2013“, aus der die AfD als Partei hervorging.[5] Vaubel spendete im Kalenderjahr 2013 laut Rechenschaftsbericht politischer Parteien den stolzen Betrag von 28.203 Euro an die neugegründete AfD.[6] Er legte im Juli 2015 seine Ämter innerhalb der AfD nieder. Er war „Mitglied ihres wissenschaftlichen Beirats“ und gehörte „zeitweise der AfD, der FDP und der CDU“[7] an. Danach soll sich Vaubel dem AfD-Spaltprodukt Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA) angeschlossen haben. Ende 2016 musste sich ALFA in „Liberal-Konservative Reformer“ (LKR) umbenennen.[8] Schachtschneider hingegen ist im Kuratorium der 2017 nach langen Streitereien gegründeten AfD-nahen „Desiderius-Erasmus-Stiftung“ aktiv[9], dem auch Starbatty inzwischen angehört.[10]

Gründung und Aufbau: Die Ära Bernd Kölmel unter Bernd Lucke (2013 bis Mitte 2015)

Gegründet wurde der AfD-Landesverband von Baden-Württemberg gut zwei Monate nach dem Bundesverband, dessen offizielles Gründungsdatum der 6. Februar 2013 ist. Auf dem Berliner „Gründungsparteitag“ am 13. April 2013 wurde das Trio Bernd Lucke, Konrad Adam und Frauke Petry zu gleichberechtigten Sprecher*innen des Bundesvorstandes gewählt.

Der Landesverband wurde am 22. April 2013 gegründet. Bernd Kölmel eröffnete die Veranstaltung, bei der zuletzt 171 stimmberechtigte Mitglieder zugegen waren. Mitte März gab es 620 Mitglieder in Baden-Württemberg, Anfang April 861 und am Tag der Veranstaltung schon rund 1.400. Zu den drei gleichberechtigten Sprecher*innen wurden in Karlsruhe Hansjörg Scheel (bis Mai 2013), Bernd Kölmel und Elke Fein gewählt. Helmut Schneider, Ronald Geiger und Eberhard Brett wurden stellvertretende Sprecher, der Unternehmer Jan Rittaler Schatzmeister. Rittaler war zuvor jahrzehntelang Mitglied der FDP.[11] Er verließ 2015 die AfD und soll sich deren Abspaltung „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA) angeschlossen haben. Zu Beisitzern des ersten Landesvorstands der AfD wurden der spätere MdL und MdEP Lars Patrick Berg, Marc Jongen, späterer Landesvorsitzender und Bundestagsabgeordneter, und Bernd Winkler gewählt. Dem für Parteiausschlüsse und sonstige Streitigkeiten zuständigen Schiedsgericht gehörten der Rechtsanwalt und AfD-Rechtsausleger Dubravko Mandic, der stark christlich geprägte Rechtspfleger Joachim Kuhs und der Mannheimer Alexander Becker an. Von Beginn an zeichnete sich die AfD im Südwesten durch Streitereien, Intrigen, Aus- und Rücktritte aus.

Bernd Lucke, Wirtschaftswissenschaftler und AfD-Mitbegründer, verlässt nach seiner verhinderten Antrittsvorlesung den Hörsaal der Universität Hamburg. Mehrere hundert Demonstranten haben an der Universität Hamburg die erste Vorlesung von AfD-Mitbegründer Bernd Lucke seit dessen Rückkehr an die Uni verhindert.
Bernd Lucke, Wirtschaftswissenschaftler und AfD-Mitbegründer, verlässt nach seiner verhinderten Antrittsvorlesung den Hörsaal der Universität Hamburg. Mehrere hundert Demonstranten haben an der Universität Hamburg die erste Vorlesung von AfD-Mitbegründer Bernd Lucke seit dessen Rückkehr an die Uni verhindert.

Der Südwest-Landesverband war zur Gründungszeit wie die gesamte AfD stark durch den ordoliberalen Gründer und Vorsitzenden Bernd Lucke geprägt. Der Euro-Kritiker Lucke ist Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg und zog 2014 als Spitzenkandidat der AfD zusammen mit sechs weiteren Parteimitgliedern in das Europäische Parlament ein. Aus Baden-Württemberg gelangten Joachim Starbatty und Bernd Kölmel ins Europaparlament. Später rückte mit Jörg Meuthen ein weiterer Baden-Württemberger nach.

Nach der Gründung des Landesverbandes wurden am 1. Juni 2013 wiederum im KSC-Clubhaus die Kreisverbände Karlsruhe-Stadt und Karlsruhe-Land gegründet.[12] Doch blieb das KSC-Clubhaus nicht dauerhaft eine sichere Lokalität für die AfD. Im Oktober 2015 wurde eine AfD-Veranstaltung mit Alexander Gauland zum Thema „Mut zur Wahrheit“ im KSC-Clubhaus abgesagt.[13] In einer Stellungnahme auf seiner Homepage distanzierte sich der KSC-Vorstand von der Veranstaltung und begründete dies mit seiner politischen Neutralität. Dem Gastwirt des Clubhauses legte er – erfolgreich – eine Absage nahe.[14]

Seit Mai 2013 bestehen Landesverbände der AfD in allen 16 Bundesländern. Zu diesem Zeitpunkt gehörten der Partei in Baden-Württemberg bereits 1.600 und bundesweit über 13.000 Mitglieder an. Der Parteisprecher Kölmel führte die AfD im September als Spitzenkandidat in Baden-Württemberg in den Bundestagswahlkampf. Die Partei kam im Land auf Anhieb auf 5,2 Prozent der Stimmen und lag damit über dem bundesweiten Gesamtergebnis von 4,7 Prozent. Von November 2013 bis Januar 2015 standen Bernd Kölmel und der Heidelberger Medizin-Professor Jens Zeller dem Landesverband vor.[15] Sie wurden auf dem Pforzheimer Parteitag im November 2013 als neue Doppelspitze gewählt. Die Mitgliederzahl lag zu diesem Zeitpunkt bei 2.600 Mitgliedern.

Hinweis in einem Hotel in Kassel (Hessen) auf eine Versammlung des Vereins "Weckruf 2015" am 19.07.2015. Rund 70 ehemalige AfD-Mitglieder beraten über die Gründung einer neue Partei. Foto: Uwe Zucchi/dpa (zu dpa «Treffen von AfD-Abtrünnigen begonnen - Parteigründung erwartet» vom 19.07.2015)
Hinweis in einem Hotel in Kassel (Hessen) auf eine Versammlung des Vereins "Weckruf 2015" am 19.07.2015. Rund 70 ehemalige AfD-Mitglieder beraten über die Gründung einer neue Partei. Foto: Uwe Zucchi/dpa (zu dpa «Treffen von AfD-Abtrünnigen begonnen - Parteigründung erwartet» vom 19.07.2015)

Prinzipiell nahm die AfD alle Interessierten auf. Dies wurde sehr früh von ehemaligen Angehörigen rechtsextremer Organisationen und Parteien, wie beispielsweise der islamfeindlichen Partei „Die Freiheit“, als Chance begriffen. Die AfD erschien nicht nur wegen ihrer Inhalte, sondern auch wegen ihrer Offenheit für solche Personen attraktiv. Die AfD Baden-Württemberg beschloss aber, bei früheren Mitgliedern der Partei „Die Freiheit“ Einzelprüfungen vorzunehmen. Die zunehmende Entwicklung der AfD nach rechts wurde mit dieser Einzelmaßnahme nicht aufgehalten. Der Weg von einer rechtskonservativen zu einer rechtspopulistischen und schließlich einer rechtsradikalen und in Teilen sogar rechtsextremistischen bzw. neofaschistischen Partei schritt voran. Viele der innerparteilich als gemäßigt geltenden Bürgerlichen und Konservativen verließen die Partei im Laufe der Jahre. Andere radikalisierten sich. Themen wie Islamfeindlichkeit, Ablehnung der Migration und Aufrufe zur „Remigration statt Integration“[16] rückten in den Vordergrund und wurden mehrheitsfähig. Diese Entwicklung sollte schließlich zur Niederlage von Bernd Lucke gegen seine innerparteiliche Gegnerin Frauke Petry führen. Vom 30. Januar bis zum 1. Februar 2015 fand in Bremen der dritte Bundesparteitag der AfD statt, der Lucke eine kurze Verschnaufpause verschaffte. Zusammen mit Petry führte er seitdem die AfD als Doppelspitze an. Doch Lucke hielt daran fest, die Partei als alleiniger Sprecher und in seinem Sinne weiterzuführen. Dazu sollte ihm der im Mai 2015 gegründete Verein „Weckruf 2015“ dienen, nach eigenen Angaben eine Reaktion auf die „Erfurter Resolution“, die als Gründungsdokument der innerparteilichen Gruppierung „Der Flügel“ gilt. Die Gründungserklärung des „Weckruf 2015“ wurde von fünf der insgesamt sieben AfD-Europaabgeordneten und anderen Mandatsträger*innen und Funktionär*innen unterzeichnet. Er sollte ein Zeichen gegen rechtsideologische Tendenzen in der Partei setzen.[17] Lucke rief die gemäßigten Mitglieder auf, sich in diesem Verein zu koordinieren, statt ungeordnet die Partei zu verlassen. In gewisser Hinsicht war der „Weckruf 2015“ das Pendant zu der im März durch Björn Höcke und André Poggenburg gegründeten parteiinternen Gruppierung „Der Flügel“.[18] Das Parteischiedsgericht erklärte aber schon im Juni den Verein „Weckruf 2015“ für satzungswidrig, weil er als Partei in der Partei bewertet wurde. Die neoliberal-rechtskonservative AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch forderte Lucke zum Rücktritt auf. Der „Weckruf“ betreibe eine Spaltung der AfD und müsse seine Aktivitäten „sofort“ einstellen. Luckes Widersacherin im Flügelkampf der AfD, die Parteivorsitzende Frauke Petry, begrüßte die Anordnung des Gerichts. Die FAZ zitierte Petry mit den Worten: „Der Weckruf-Parteiverein war der Versuch einer Minderheit, die innerparteiliche Demokratie zu zerstören. Gut, dass das Schiedsgericht so zügig und klar geurteilt hat.“[19]

Der Showdown zwischen Petry und Lucke um die Ausrichtung der Partei auf dem Essener Bundesparteitag Anfang Juli 2015 kostete Lucke schließlich sein Amt. Bis Ende August verließ rund ein Fünftel der mittlerweile 21.000 Mitglieder die Partei, darunter neben Lucke mit Olaf Henkel, Bernd Kölmel, Joachim Starbatty und Ulrike Trebesius fünf der sieben Europaabgeordneten sowie zahlreiche Protagonist*innen des wirtschafts- bzw. neoliberalen Flügels. Die neue Doppelspitze bildeten seit dem Essener Parteitag Frauke Petry und Professor Jörg Meuthen, der anfänglich als personelles und inhaltliches Kontinuum zur alten, professoralen Lucke-AfD verstanden wurde.

Frauke Petry appears on a large screen after being elected as leader of the eurosceptic party Alternative fuer Deutschland (AfD) while former leader Bernd Lucke wathces at the AfD's party congress in Essen, western Germany, July 4, 2015. REUTERS/Wolfgang Rattay
Frauke Petry appears on a large screen after being elected as leader of the eurosceptic party Alternative fuer Deutschland (AfD) while former leader Bernd Lucke watches at the AfD's party congress in Essen, western Germany, July 4, 2015. REUTERS/Wolfgang Rattay

Die Ära Jörg Meuthen (2015-16)

Auf dem Pforzheimer Landesparteitag im Juli 2015 wurden Bernd Grimmer, Lothar Maier und Jörg Meuthen zu den neuen Sprechern des Landesvorstands gewählt.[20] Damit war Meuthen gleichzeitig Landesvorsitzender und Bundeschef der Partei. Meuthen rechnete in Pforzheim mit dem einstigen Kopf der AfD, Bernd Lucke, scharf ab. Er warf ihm vor, eine Zusammenführung der zerstrittenen Flügel in der AfD gar nicht gewollt zu haben. Er selbst habe den Verein „Weckruf 2015“ von Anfang an für absurd gehalten, sagte Meuthen. Er sah bei Lucke „eklatantes Führungsversagen“[21]. Dieser habe sich mit „devoten Höflingen“ umgeben.[22]

Die baden-württembergische Landtagswahl vom 13. März 2016 brachte mit 15,1 Prozent und 23 Mandaten einen überraschend deutlichen Erfolg für die AfD. Gleichzeitig versank die ungeliebte Konkurrenz von Bernd Luckes ALFA mit 1,02 Prozent in der politischen Bedeutungslosigkeit.

(Wiederholung) Diagramme zur Sitzverteilung (Koalition herausgehoben) und den Wahlergebnissen der Landtagswahl 2016 in Baden- Württemberg, Hochformat 70 x 80 mm; Redaktion: A. Meyer; Grafik: Bökelmann

Das komplette Landtagswahlprogramm „Für unser Land – für unsere Werte“ umfasste 64 Seiten.[23] Es wurde „nach stundenlanger konzentrierter Sachdiskussion (...) auf dem Landesparteitag in Horb am Neckar am 25. Oktober 2015 (…) verabschiedet. Die Vorarbeit dazu hatten die mit Experten besetzen Landesfachausschüsse der AfD geleistet.“[24]

Landtagswahlprogramm 2016

Nach dem großen Erfolg bei der Landtagswahl stand eineinhalb Jahre später die Bundestagswahl an. Für die Erstellung der Landesliste zur Bundestagswahl von 2017 waren mehrere Parteitage erforderlich. Beim ersten Parteitag in Kehl am 19. und 20. November 2016 konnten lediglich die ersten neun Listenplätze besetzt werden.[25] Beim darauffolgenden Landesparteitag in Nürtingen am 21. und 22. Januar 2017 wurden die Listenplätze bis Platz 15 besetzt.[26] Die Medien wurden in Nürtingen wie bereits zuvor in Kehl ausgeschlossen. Diese Maßnahme wurde mit der Furcht vor einseitiger Information begründet, man erwarte keine faire und ausgewogene Berichterstattung. Außerdem könne sich der eine oder andere Kandidat „unglücklich ausdrücken“.[27] Beim dritten Nominierungs-Parteitag in Rastatt Anfang Mai war dann erstmalig Presse zugelassen.

„Eine knappe Mehrheit hat sich für eine Zulassung entschieden“, sagte Landessprecher Martin Hess zu Beginn des Parteitags.[28]

So wurde unter den Augen der Öffentlichkeit die Landesliste bis Platz 30 komplettiert. Vom ursprünglichen Ziel, die „Landesliste mit voraussichtlich 38 Kandidaten zu füllen“, verabschiedete sich die AfD jedoch.[29] Der hierfür notwendige vierte Parteitag in Triberg am 13. und 14. Mai wurde kurzfristig abgesagt.[30]

 

Landesliste AfD
Screenshot der kompletten Landesliste für die Bundestagswahl von der Seite des AfD-Landesverbandes [31]

 

Bei der Bundestagswahl vom 24. September 2017 erzielte die AfD bundesweit 12,6 Prozent (2013: 4,7 Prozent) der Zweitstimmen. Mit dem Ergebnis von 12,2 Prozent in Baden-Württemberg gelangten elf Abgeordnete aus dem Südwesten in den Bundestag.[32] Direktmandate in Baden-Württemberg konnte die AfD, anders als bei der Landtagswahl im Vorjahr, nicht erzielen. Das Ergebnis der AfD in Baden-Württemberg fasste die Landeszentrale für politische Bildung so zusammen: „Die AfD gewann 12,2 Prozent der Stimmen und erzielte den größten Stimmenzuwachs in Baden-Württemberg von 6,9 Prozent. Die Zweitstimmenanteile der AfD fielen in Heilbronn (16,4 Prozent), Pforzheim (16,3 Prozent) und Calw (15,0 Prozent) am höchsten aus. Ihre niedrigsten Werte verbuchte die Partei in Stuttgart I mit 7,2 und Freiburg mit 7,9 Prozent.“[33]

Meuthen war von Ende Juli 2015 bis Oktober 2016 einer von drei Landessprechern der AfD in Baden-Württemberg und darunter der prominenteste. Zu dieser Zeit sammelten sich bei Meuthen die Ämter und Funktionen: Landtagsabgeordneter, Fraktionssprecher der Landtagsfraktion, Landessprecher, Bundessprecher. Der Vorwurf der Ämterhäufung machte die Runde und mutmaßlich deswegen trat Meuthen im Oktober 2016 von seinem Amt als Landessprecher zurück.

Seinen Einfluss wollte er aber trotzdem nicht aufgeben. Im März 2017 versuchte er, mit Ralf Özkara seinen Büroleiter als Landessprecher zu installieren. Özkara kandidierte gegen die Meuthen-Opponentin Alice Weidel.

Die Ära Ralf Özkara (2017-2018)

Auf dem Parteitag in Sulz am Neckar im März 2017 setzte sich Ralf Özkara in einer knappen Stichwahl gegen Alice Weidel durch. Özkara, hinter dem Jörg Meuthen stand, gewann mit 224 zu 209 Stimmen gegen Weidel. Die bisherigen Vorsitzenden Lothar Maier und Bernd Grimmer traten ebenso wie Meuthen nicht wieder an.

Weidel entgegnete nach ihrer knappen Niederlage dem Bundessprecher Meuthen „Du hast mich abgeschossen.“[34] Meuthen hatte zuvor in einer als Grußwort deklarierten Rede davor gewarnt, Bundestagskandidaten wie Alice Weidel auch Parteiämter ausfüllen zu lassen. Tatsächlich bestand schon zu diesem Zeitpunkt eine große und bis heute anhaltende Rivalität zwischen Weidel und Meuthen, die beide aus demselben Landesverband stammen und ein ähnliches politisches Profil haben. Özkara leitete von April 2016 bis Ende Februar 2017 das Landtagsbüro von Jörg Meuthen, weshalb er als dessen Vertrauter galt. Neben Ralf Özkara wurde der Karlsruher Marc Jongen zum weiteren Landessprecher der AfD Baden-Württemberg gewählt.

Am 20. November 2018 trat Özkara von seinem Amt als Landesvorsitzender zurück. Die Gründe hierfür seien beruflicher, privater und familiärer Natur, sagte er. Er hatte 2018 erklärt, wenn Weidels Kreisverband am Bodensee eine illegale Spende angenommen habe, erwarte er, dass Weidel von allen Ämtern und Mandaten zurücktrete.[35] Nach dem Rückzug Özkaras war der promovierte Philosoph und Bundestagsabgeordnete Marc Jongen bis zur Neuwahl im Februar 2019 alleiniger Landessprecher der AfD. Özkara arbeitete nach seinem Rücktritt als Mitarbeiter und Fraktionsgeschäftsführer bei der bayerischen AfD-Landtagsfraktion, die ihn im Mai 2019 entließ. Die Mehrheit der Fraktion hatte diesen Schritt von der Fraktionsvorsitzenden Katrin Ebner-Steiner im innerfraktionellen Machtkampf verlangt. „Özkara sei der Aufgabe eines Fraktionsgeschäftsführers nicht gewachsen gewesen“, beschrieb die Süddeutsche Zeitung die Beweggründe der Fraktion. Weiter heißt es dort: „Zudem habe er sich offenbar nicht an die Vereinbarung gehalten, politisch nicht mehr aktiv zu sein.“ [36] Unklar blieb, welche Rolle die Nähe des einstigen Meuthen-Vertrauten zum „Flügel“ dabei gespielt hat.

Exkurs I: Spendenskandale der AfD im Südwesten

Wenige Tage vor Özkaras Rücktritt als Landesvorsitzender im November 2018 war bekannt geworden, dass dem AfD-Kreisverband am Bodensee bzw. Alice Weidel eine größere Spende zugegangen war. Bis heute besteht keine endgültige Klarheit, woher das Geld tatsächlich stammte. Nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung führte eine Spur zu dem Duisburger Immobilienmilliardär Henning Conle Junior.[37]

Die Ermittler der Staatsanwaltschaft Konstanz versuchen aktuell die Herkunft der Spenden zu klären. Seit Mai 2020 liegen ihr im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens aus der Schweiz übermittelte Unterlagen vor. Dem Leitenden Oberstaatsanwalt Hans-Jörg Roth zufolge handelt es sich um Dokumente und Bankauskünfte, die nun ausgewertet würden.[38] Die Bundestagsverwaltung wertet die Zuwendungen an die baden-württembergische Spitzenkandidatin Alice Weidel im Bundestagswahlkampf 2017 als illegale Parteispende. Sie beabsichtige deshalb, eine Strafe über den dreifachen Betrag der damaligen Spende zu verhängen – rund 396.000 Euro. Die AfD hingegen hatte die Spende zur Privatspende an Weidel erklärt, als eine persönliche Wahlkampfunterstützung.[39]

2017 war auch Jörg Meuthen in den Verdacht einer illegalen Parteispende geraten.[40] Die Goal AG von Alexander Segert hatte 2016 Werbeaktionen für den baden-württembergischen AfD-Spitzenkandidaten Meuthen im Wert von 89.800 Euro organisiert. Mit seiner Unterschrift unter eine Freistellungserklärung übernahm Meuthen damals schriftlich die rechtliche Verantwortung dafür – meldete die Parteispende aber nicht, wie es vorgeschrieben ist. Entsprechend tauchte sie im Rechenschaftsbericht der AfD nicht auf. Die Bundestagsverwaltung wertete das als illegale Parteispende und verhängte eine Strafzahlung von 269.400 Euro. Das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Strategie des Professors für Volkswirtschaftslehre scheiterte vor Gericht, seine vorgetragene Unwissenheit und Unerfahrenheit schützten ihn und seine Partei nicht vor Strafe.[41] Die AfD gab kurzfristig im Rechtsstreit um unerlaubte Parteispenden nach Meuthens Niederlage auf.[42] Der Bundesvorstand beschloss am 26. Juni 2020 bei einer Sitzung in Suhl, auf das bereits angekündigte Berufungsverfahren zu verzichten. Diese Entscheidung erfolgte nur wenige Tage, nachdem der einstige Wahlkampfmanager und Büroleiter von Meuthen Ralf Özkara in einer eidesstattlichen Versicherung erklärt hatte, dass Meuthen „sehr wohl im Vorfeld von der Wahlkampfunterstützung durch Segert und die Goal AG gewusst“ habe[43].

Exkurs II: Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus beim Besuch der KZ-Gedenkstätte

Rosen und kleine Holzkreuze mit der Aufschrift «in Remembrance» (in Erinnerung) liegen am 05.03.2015 im ehemaligen Konzentrationslager, der heutigen Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen in Oranienburg (Brandenburg). Am gleichen Tag fand die Jahrespressekonferenz der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten statt. Foto: Patrick Pleul/dpa ++
Rosen und kleine Holzkreuze mit der Aufschrift «in Remembrance» (in Erinnerung) liegen am 05.03.2015 im ehemaligen Konzentrationslager, der heutigen Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen in Oranienburg (Brandenburg). Am gleichen Tag fand die Jahrespressekonferenz der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten statt.

Neben den antisemitischen Veröffentlichungen und Äußerungen des Singener Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon gab es einen weiteren Eklat mit Bezug zum Landesverband. Am 10. Juli 2018 besuchten 17 AfD-Mitglieder und -Sympathisant*innen aus dem Wahlkreis von Alice Weidel die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen bei Oranienburg. Ein Mitarbeiter der Gedenkstätte brach die Führung der Gruppe wegen geschichtsrevisionistischer und antisemitischer Äußerungen von fünf oder sechs Personen vorzeitig ab. Die Verbrechen im KZ Sachsenhausen seien durch Vergleich mit angeblichen Verbrechen der Alliierten relativiert, die Existenz von Gaskammern in Zweifel gezogen worden. Das Bundespresseamt, das die Tour bezahlt hatte, bestätigte „antisemitische und historisch unhaltbare Äußerungen[44], schrieb sie allerdings nur einem der 17 Teilnehmer*innen zu. Vor dem Amtsgericht Oranienburg musste sich schließlich ein 69-Jähriger aus Baden-Württemberg wegen Volksverhetzung und Störung der Totenruhe verantworten. Er soll die Existenz von Gaskammern in Zweifel gezogen und KZ-Verbrechen relativiert haben. Da er aber im Oktober 2019 nicht vor Gericht erschien, musste die Verhandlung vertagt werden.[45]

Die Ära Bernd Gögel (2019-2020)

Der Landesparteitag am 23. und 24. Februar 2019 in Heidenheim war gekennzeichnet durch die tiefgehenden innerparteilichen Konflikte über Inhalte, Ausrichtung und Personen. Der Landtagsfraktionschef Bernd Gögel und der Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel wurden mit knappem Ergebnis zu Landessprechern gewählt. Der als vergleichsweise gemäßigt gehandelte Gögel setzte sich gegen seinen innerparteilichen Widersacher Emil Sänze vom rechten Rand durch. 380 Delegierte stimmten für Gögel, 320 für Fraktions-Vize Sänze. Der Ingenieur Spaniel wiederum setzte sich mit 371 gegen 341 Stimmen gegen den Ludwigsburger Bundestagsabgeordneten Martin Hess durch, mit dem Gögel eigentlich eine Doppelspitze bilden wollte.[46] Der bisherige Landeschef Marc Jongen wollte nicht mehr für das Amt des Sprechers antreten, setzte sich aber bei der Wahl für einen der Stellvertreterposten deutlich mit 351 gegen 221 Stimmen gegen Christina Baum durch, die dem Verfassungsschutz als „die baden-württembergische Vertreterin des ‚Flügels‘“ gilt.[47] Insgesamt empfanden die Repräsentant*innen des „Flügels“ und andere Partei-Rechte diesen Parteitag als Niederlage. Sie sahen sich nicht ausreichend im Vorstand berücksichtigt. Dies führte zu anhaltenden Streitereien und Querelen. Das wichtigste Ergebnis dieser Schlammschlachten waren vorzeitige Neuwahlen zum Landesvorstand.[48]

Ein knappes Vierteljahr nach dem Heidenheimer Parteitag verlor der einstige Vorsitzende Ralf Özkara Mitte Mai 2019 seinen Job als Fraktionsgeschäftsführer bei der bayerischen AfD-Landtagsfraktion und verließ danach die Partei. Bei seinem Austritt erklärte er: „Diese Partei wird von Idioten geleitet.“[49] Im April 2020 unterzeichnete der frühere Vertraute Meuthens und spätere Sympathisant des inzwischen aufgelösten „Flügels“ Özkara eine Petition „Treten Sie zurück, Herr Meuthen“, eine „Aufforderung zum Rücktritt vom Amt des Bundessprechers“.[50] Anlass hierfür war der von Meuthen initiierte Beschluss des Bundesvorstandes, der vom Verfassungsschutz beobachtete „Flügel“ solle sich bis Ende April 2020 auflösen. Der „Flügel“ kam diesem Beschluss nach und löste die wahrnehmbaren Teile seiner Struktur auf, etwa seinen Facebook-Account.

Die Ära Alice Weidel (ab 2020)

Alice Weidel (l-r), AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Markus Frohnmaier (AfD), Bundestagsabgeordneter, und Martin Hess (AfD), Bundestagsabgeordneter, sitzen beim AfD-Sonderparteitag nach ihrer Wahl in den Landesvorstand der AfD Baden-Württemberg auf dem Podium.
Alice Weidel (l-r), AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Markus Frohnmaier (AfD), Bundestagsabgeordneter, und Martin Hess (AfD), Bundestagsabgeordneter, sitzen beim AfD-Sonderparteitag nach ihrer Wahl in den Landesvorstand der AfD Baden-Württemberg auf dem Podium.

Aufgrund der unüberbrückbaren Differenzen traten alle Landesvorstandsmitglieder gemeinsam am 14. Februar 2020 um 24 Uhr zurück.[51] So sollte der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen freigemacht werden. Diese fanden am 15. und 16. Februar 2020 in Böblingen statt, nicht mal ein Jahr nach dem Parteitag von Heidenheim. Auf dem Parteitag von Böblingen verabschiedete sich die AfD von der Doppelspitze. Fortan sollte eine einzelne Person an der Spitze stehen. In einer Kampfabstimmung votierten 547 Mitglieder des Landesverbands (54 Prozent) für Alice Weidel (MdB), 419 Mitglieder (41 Prozent) für Dirk Spaniel (MdB). Zu den stellvertretenden Vorsitzenden wurden Martin Hess (MdB), Marc Jongen (MdB) und Markus Frohnmaier (MdB) gewählt. Alle drei sitzen im Bundestag und gehören zu Weidels Verbündeten. Die Exponent*innen vom rechten „Flügel“, Vizefraktionschef Emil Sänze und die Landtagsabgeordnete Christina Baum, scheiterten mit ihren Kandidaturen.[52]

Partei-Strömungen in der Südwest-AfD

 

Sammelbecken

Um die AfD zu verstehen, muss man sich ihren Charakter als Sammelbecken verdeutlichen. Sowohl die Mitglieder als auch die Wähler*innen der AfD entstammen verschiedenen politischen Strömungen und Milieus. In ihr sammelten und sammeln sich Rechtskonservative, Nationalliberale, christliche Rechte, aber auch Vertreter*innen der sogenannten Neuen Rechten, dazu "Die Afd - Eine Wahlalternative für die christliche Rechte?" von Laura Hammel und Lucius Teidelbaum

Offen auftretende Neonazis sind in der Partei nicht gut gelitten, schon allein wegen der negativen Presse. So genannte Kellernazis, die ihren Nazismus in der Öffentlichkeit verbergen, finden sich aber durchaus in den Reihen der AfD.

Der strömungsübergreifende Charakter der AfD ist sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke. Einerseits vereinen gemeinsame Feindbilder (u.a. Islam, EU, Migration, Feminismus, Establishment) zumindest zeitweise sehr unterschiedliche Strömungen der konservativen und extremen Rechten. Andererseits verlaufen entlang solcher Strömungen auch die Konfliktlinien und damit potenzielle Spaltungslinien in der AfD. So gibt es etwa starke wirtschaftspolitische Unterschiede zwischen dem Höcke-Flügel und dem Meuthen-Lager etwa in Bezug auf die Renten-Konzepte. Während der Höcke-Flügel sich für eine staatliche Rente vor allem für autochthone Deutsche stark macht, will Meuthen eine Umstellung auf ein privates Rentensystem.

Doch nicht jeder Streit ist ausschließlich inhaltlich bzw. ideologisch begründet. Ebenso häufig gibt es persönliche Fehden und Machtkämpfe mit wechselnden Bündnissen, die als inhaltliche Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe kaschiert werden. Der Eindruck, innerhalb der AfD würden Rechte mit Noch-Rechteren einen Machtkampf austragen, ist deswegen verkürzt. Bei vielen Auseinandersetzungen finden sich auf beiden Seiten Pragmatiker*innen, die nicht dem Höcke-Flügel zugerechnet werden können.

Der Flügel“ in Baden-Württemberg (2015-2020)

Der Flügel der AfD

Unter dem Begriff „Der Flügel“ sammelte sich bis zur offiziellen Selbstauflösung am 30. April 2020 innerhalb der AfD eine Strömung um den AfD-Fraktionsvorsitzenden in Thüringen Björn Höcke. Gründungsdokument dieses Höcke-Flügels war die „Erfurter Resolution“ vom März 2015. In ihr wird die AfD als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte“ und als „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“ bezeichnet[53]. In der Selbstbezeichnung als „Bewegung“ zeichnet sich ein Verständnis („Widerstandsbewegung“) der AfD ab, das über das der „Alternative“ oder des Korrektivs im Parteienspektrum hinausgeht. Von den im März 2016 gewählten 23 AfD-Abgeordneten in Baden-Württemberg hatten immerhin neun die „Erfurter Resolution“ unterschrieben. Darunter war als Erstunterzeichnerin auch die Abgeordnete Christina Baum, die in der Wochenzeitung Kontext im Mai 2018 als „Björn Höcke für den Süden“[54] beschrieben wird.

Im Gegensatz zu den meisten Ost-Bundesländern ist Baden-Württemberg kein eindeutiges „Flügel-Land“ der AfD. Ergebnisse von Landesparteitagen zeigen aber, dass der „Flügel“ in Baden-Württemberg zusammen mit seinen Verbündeten bis zu 40 Prozent der Delegierten-Stimmen mobilisieren kann.

Über die Strukturen des „Flügels“ in Baden-Württemberg ist wenig bekannt. Laut Insider*innen soll die interne Facebook-Gruppe „derfluegel-bw“ der Koordination gedient haben. Daneben existiert auch noch die „Stuttgarter Initiative“. Diese versendet per E-Mail den Newsletter „Stuttgarter Brief“, der sich deutlich auf der Seite von Höcke verortet, auch wenn die Initiative offiziell kein Projekt des „Flügels“ ist. Verantwortliche ist laut Impressum Christina Baum[55], wie weiter oben ausgeführt eine führende Repräsentantin des „Flügels“ im Südwesten. Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird Baum als „die baden-württembergische Vertreterin des ‚Flügels‘“ bezeichnet.[56]

Als Gründungsdokument der Initiative kann der am 28. Oktober 2018 veröffentlichte „Stuttgart Aufruf“ gelten.[57] Dieser ist ein Appell, der die rechten Kräfte mobilisieren sollte. Der „Aufruf“ machte sich auch für vom Parteiausschluss bedrohte rechtsextreme Mitglieder stark: „Die Feigheit und der Verrat an den Interessen unseres Landes durch die regierenden Politiker ist schwer genug zu ertragen. Lähmend aber wirkt das Gift jener, die sich als Mitstreiter ausgeben, tatsächlich aber die Waffen unseres politischen Gegners benutzen und ihm damit in die Hände spielen.“[58] Es wurde argumentiert, die Ausschlussverfahren würden im innerparteilichen Machtkampf instrumentalisiert: „Oft genug haben sich Vorstände dabei selbst der uns feindlich gesonnenen Presse bedient, nur um ihre inneren Widersacher zu diskreditieren. Wir wollen und müssen diese parteischädlichen Mechanismen ein für alle Mal beenden.“[59] Der Appell, sich „als demokratischer Widerstand unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit)“[60] zu verstehen, verweist deutlich auf die „Erfurter Resolution“ von 2015.

Die „Flügel“-Anhänger*innen bezeichnen sich selbst gerne u.a. als „nationalkonservativ“ und manchmal auch als „sozialpatriotisch“. Kritiker*innen bescheinigen dem Höcke-Flügel dagegen eine Nähe zu einer Variante des historischen Faschismus, nämlich zur so genannten „Konservativen Revolution“ und deren Wiedergänger*innen in Form der „Neuen Rechten“.

Exkurs: „Neue Rechte“ – alter Wein in neuen Schläuchen

Die „Neue Rechte“ ist eine spezifische ideologische Strömung der extremen Rechten. Der Begriff „Neue Rechte“ („Nouvelle Droite“) geht zurück auf den französischen Rechts-Intellektuellen Alain de Benoist. Der Begriff entstand in sprachlicher Anlehnung an die „Neue Linke“ und in taktischer Abgrenzung zur traditionellen, NS-belasteten Rechten.

Sich selbst bezeichnet allerdings nur ein Teil der „Neuen Rechten“ so. Ein anderer Teil versucht, den Begriff „konservativ“ an sich zu reißen.

Die „Neue Rechte“ kann als Modernisierungsprogramm der extremen Rechten verstanden werden. Ihr Bezugspunkt ist vor allem die „Konservative Revolution“ in der Weimarer Republik, eine Variante des Weimarer Rechtsextremismus. Die „Konservative Revolution“ war vor allem über gemeinsame Feindbilder vereint: Sie war antidemokratisch, antiliberal, antimarxistisch, antifeministisch und in Teilen antisemitisch.

Die neue Rechte, anti: demokratisch, liberal, marxistisch, feministisch, semitisch

Der Begriff „Konservative Revolution“ ist nicht unproblematisch. Er wurde von dem rechten Publizisten Armin Mohler geprägt, der nach 1945 versuchte, eine von NS-Verbrechen scheinbar unberührte extrem rechte Tradition wieder politikfähig zu machen. Dabei wandte er sich u.a. den antidemokratischen Jungkonservativen und Nationalrevolutionären bzw. Nationalbolschewisten in der Weimarer Republik zu. Diese blickten mit Sympathien auf das faschistische Italien und waren erfolglose Konkurrenten der NSDAP. Nach 1933 beteiligten sich einige von ihnen an der NS-Diktatur, andere opponierten.

Bekannte „konservative Revolutionäre“ waren Carl Schmitt (1888-1983), Ernst Jünger (1895-1998), Oswald Spengler (1880-1936), Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925), Ernst Niekisch (1889-1967) und Edgar Julius Jung (1894-1934). Aus dem Bezug auf diese antidemokratische Gruppe erwuchs ab den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik eine so genannte Neue Rechte. Der „neurechte“ Bezug auf die Antidemokraten der „Konservativen Revolution“ war und ist auch der Versuch, auf eine politische Ahnenreihe Bezug zu nehmen, die scheinbar unbelastet von NS-Verbrechen ist. Toralf Staud schrieb bereits 2006: „Die Neue Rechte versuchte nicht mehr, Hitler von seinen Verbrechen, sondern den deutschen Nationalismus von Hitler zu trennen.“[61]

Von der Rechten in NS-Tradition versucht sich die „Neue Rechte“ inhaltlich abzugrenzen. Im Gegensatz zu der neonazistischen Rechten lehnt die „Neue Rechte“ offiziell Gewalt als individuelles Mittel ab. Allerdings führen ein starkes männliches Selbstbild als Krieger und Kämpfer sowie die allgemeine Verherrlichung von Krieg und Militarismus dann doch oft wieder zu Gewaltbereitschaft.

Die „Neue Rechte“ teilte sich in Reaktion auf die AfD-Gründung in zwei Unterströmungen:

Da ist zum einen eine pragmatische „Neue Rechte“ um die Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (JF) [62], das Zweimonatsmagazin „Cato“ und die in Berlin beheimatete „Bibliothek des Konservatismus“. Der JF-Chefredakteur Dieter Stein unterstützte mit seinem Blatt anfangs den Lucke-Flügel innerhalb der AfD und nach dessen Weggang Weidel und Meuthen. Meuthen konnte sich kurz vor der baden-württembergischen Landtagswahl im März 2016 über eine lange und deutlich sympathisierende JF-Video-Dokumentation freuen.[63]

Zum anderen ist da die radikale „Neue Rechte“ um das im Jahr 2000 gegründete „Institut für Staatspolitik“ (IfS), das Zweimonats-Magazin „Sezession“ und den Antaios-Verlag. Diese radikale „Neue Rechte“ hat sich stärker Straßenbewegungen wie PEGIDA angenähert, tritt nationalrevolutionär auf und ist durch den positiven Bezug auf italienische Vorbilder wie die neofaschistische „Casa Pound“-Bewegung relativ gut als neofaschistisch erkennbar.Casa Pound“ benannte sich nach dem US-amerikanischen Dichter und glühenden Bewunderer des italienischen Faschismus Ezra Pound (1885-1972). Gegründet wurde sie 2003 in Rom in einem besetzten Haus (italienisch: Casa), das nach dem Dichter und Vorbild Pound benannt wurde. Aktuell ist „Casa Pound“ eine der einflussreichsten rechtsradikalen Organisationen in Italien.[64]

Die „Neue Rechte“ ist sehr elitär und in größeren Teilen akademisch sozialisiert. Die Mehrheit ihrer Wortführer stammt aus dem Milieu der Studentenverbindungen, besonders der Burschenschaften und Gildenschaften. Ihre Strategie war es jahrzehntelang, sogenannte Metapolitik zu betreiben. In Anlehnung an den italienischen Marxisten Antoni Gramsci (1891-1937) sollte zuerst der vorpolitische Raum erobert werden und dann die eigentliche politische Macht. Es geht in erster Linie also nicht um die Straße oder die Parlamente, sondern um die Herrschaft über den Diskurs. Konkret versuchte man den vorpolitischen Raum über Publikations-Projekte, Schulungen und Denk-Zirkel zu beeinflussen.

Die radikale „Neue Rechte“ hat diesen Ansatz erweitert um eine Strategie der direkten politischen Handlung durch Straßenbewegungen und kreative Aktionen, die vom linken politischen Gegner abgeschaut wurden. Der Mannschaft um den Verleger Götz Kubitschek geht es nicht nur um die indirekte Einflussnahme durch Publikationen und um die Organisation von Bildungs-Veranstaltungen, sondern auch um die direkte Intervention. Kubitschek sieht sich selbst in einem „geistigen Bürgerkrieg“[65]. Als jugendlicher Flügel der radikalen „Neuen Rechten“ tritt seit mehreren Jahren die „Identitäre Bewegung“ auf, der mehrere hundert Personen in der Bundesrepublik zuzurechnen sind.

Inhaltlich positioniert sich die „Neue Rechte“ völkisch-nationalistisch. Das bedeutet, „echte“ Deutsche sind für sie nur weiße Menschen, vorzugsweise mit deutschsprachigen Vorfahren. Die aus diesen Vorstellungen vom Deutschsein resultierenden rassistischen Ungleichheitsvorstellungen werden mit der neurechten Vokabel „Ethnopluralismus“ verkleidet. Dahinter steckt die Annahme, Völker besäßen unveränderliche kulturelle Identitäten, die es zu bewahren gelte. Vertreter*innen des „Ethnopluralismus“ behaupten, im Gegensatz zum biologistischen Rassismus des Nationalsozialismus, nicht chauvinistisch zu sein. Sebastian Friedrich schreibt dazu:

„Der Ethnopluralismus ist eine Art modernisierter Rassismus, in dem die biologistische Argumentation ersetzt wird durch das Festschreiben unüberbrückbarer kultureller Unterschiede. Daraus wird die Notwendigkeit der nationalen und kulturellen Identität eines jeden Volkes abgeleitet.“[66]  

Die „Neue Rechte“ argumentiert gezielt intellektuell, stützt sich aber letztendlich auf Mythen, besonders auf Geschichtsmythen bzw. mythisch überhöhte reale Orte, Ereignisse und Personen.

Da der Höcke-Flügel der AfD der radikalen „Neuen Rechten“ zugerechnet werden kann, finden sich auch hier viele deutschnationale Mythen. Nicht ohne Grund traf man sich mehrmals am Kyffhäuser-Berg in Thüringen. Hier soll Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, laut Sage im Berg schlafen und in der großen Not seines Volkes wiedererwachen.

Neue Rechte“ in der AfD

Der offen faschistische Flügel der „Neuen Rechten“ gruppiert sich um den Strippenzieher Götz Kubitschek, der als Freund und Ratgeber Björn Höckes gilt. In einem Interview im Oktober 2014 mit Björn Höcke verwies Götz Kubitschek als Interviewer darauf, dass er und Höcke alte Bekannte seien:

Björn, wir kennen uns nicht erst seit gestern, will sagen: nicht erst, seit Du nun die AfD in Thüringen als Fraktionsführer im Landtag und als Vorsitzender des Landesverbandes führst und dadurch zu einer Person immensen öffentlichen Interesses geworden bist. Ich hätte diesen Schritt nie bei Dir vermutet. Wie kommts?[67]

Höcke selbst gibt an, er beziehe sein „geistiges Manna“ aus den Werken des neurechten Antaios-Verlags von Kubitschek.[68] David Begrich kommt 2016 zu dem Schluss: Höckes Schlüsselwörter Volk, Identität, Dekadenz, aber auch Ordnung, Liebe, Nation stammen alle samt aus dem Wörterbuch der Diskursstrategie der Neuen Rechten.“[69]

Der Faschismusforscher Roger Griffin fasste 2004 in einem Interview zum Faschismus der „Neuen Rechten“ zusammen:

Ein blauroter Baum wächst aus faschistischen Wurzeln

Kurz gesagt, die Neue Rechte hat nachweislich einen faschistischen Stammbaum und ist der faschistischen Ideologie zutiefst verpflichtet. Auch wenn sie sich als metapolitisch ausgibt, ist sie dochkeineswegs apolitisch und ihre Ideologie zeigt klare strukturelle Affinitäten zu den radikalen rechten undfaschistischen Traditionen der Anti-Aufklärung, des Anti-Liberalismus und des konterrevolutionärenDenkens.[70]  

Patriotische Plattform“ (2014-18)

Als kleinere Version des „Flügels“, in der sich ab 2014 die deutschnationalen Lucke-Gegner*innen sammelten, gilt der 2018 aufgelöste Verein „Patriotische Plattform e.V.“ (PP) um den sachsen-anhaltischen AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Thomas Tillschneider.

Die „Patriotische Plattform Baden-Württemberg“ (PP-BW) gründete sich am 9. Mai 2014 in Stuttgart. Sie entwickelte in Baden-Württemberg nach außen hin aber kaum wahrnehmbare Aktivitäten. Im September 2018 beantragte der Vereinsvorstand unter Hans-Thomas Tillschneider die Selbstauflösung des Vereins, nachdem er in den Fokus des Verfassungsschutzes geraten war. Die PP entfaltete nie denselben Einfluss wie der „Flügel“ und ihre Mitglieder dürften sich heute dort engagieren. Ein bekannterer Aktivist der PP in Baden-Württemberg war Dubravko Mandic[71], der seit 2019 für die AfD in Freiburg im Stadtrat sitzt.

Burladingen-Flügel“

09.02.2019, Baden-Württemberg, Burladingen: Doris von Sayn-Wittgenstein (l), fraktionslose Abgeordnete im Landtag von Schleswig-Holstein, spricht während einer Veranstaltung der AfD-Splittergruppe "Stuttgarter Aufruf" in der Stadthalle mit Christina Baum, AfD-Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
09.02.2019, Baden-Württemberg, Burladingen: Doris von Sayn-Wittgenstein (l), fraktionslose Abgeordnete im Landtag von Schleswig-Holstein, spricht während einer Veranstaltung der AfD-Splittergruppe "Stuttgarter Aufruf" in der Stadthalle mit Christina Baum, AfD-Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Neben der offiziellen Flügel-Struktur findet sich in der AfD auch ein „wilder“, undisziplinierter, extrem rechter Rand, der in Parteikreisen als „Burladingen-Flügel“ bezeichnet wird, wie die gut unterrichtete „Junge Freiheit“ verriet.[72] Am 9. Februar 2019 veranstalteten Ultra-Rechtsaußen der AfD aus dem ganzen Bundesgebiet in der Stadthalle in Burladingen im Zollernalbkreis ein Treffen, an dem etwa 150 Personen teilnahmen. In Burladingen war zu dieser Zeit Harry Ebert Bürgermeister, der seit 2018 AfD-Mitglied ist.

Die Versammelten waren Hardliner, die oft vom Parteiausschluss bedroht waren. Trotzdem scheinen sie nicht die Protektion des Höcke-Flügels zu genießen.

Unter den Teilnehmenden waren auch mehrere Landtagsabgeordnete wie Christina Baum (Baden-Württemberg), Jessica Bießmann (Berlin), Stefan Räpple (Baden-Württemberg) und Doris von Sayn-Wittgenstein (Schleswig-Holstein) sowie die ehemalige rheinlandpfälzische Landes-Vize Christiane Christen. Die Moderation übernahm Jürgen Elsässer, Herausgeber des extrem rechten Magazins COMPACT.[73] Das Youtube-Video seiner Rede „Gegen Ausschließeritis und Distanzeritis“ zeigt die anwesende rechte AfD-Prominenz auf der Bühne des Saales.[74]

Obwohl auch die Mitglieder dieses „Burladingen-Flügels“ mehrheitlich Höcke-Fans sind, engagierte sich der „Flügel“ nicht gegen ihren Parteiausschluss (z.B. von Räpple oder von Wittgenstein) – mutmaßlich auch deswegen, weil diesen Personen die Disziplin und Unterordnung fehlte. Das Netzwerk dieses „Burladingen-Flügels“ versucht vor allem, sich gegenseitig zu unterstützen. So ist es kein Zufall, dass z.B. Doris von Sayn-Wittgenstein bei der Demonstration von Stefan Räpple gegen den SWR in Baden-Baden am 4. Januar 2020 auftrat.[75]

Die „Junge Alternative Baden-Württemberg“

Zu den Höcke-Hardliner*innen innerhalb der Südwest-AfD darf offenbar mehrheitlich auch die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative Baden-Württemberg“ (JABW) gezählt werden, wie Online-Postings immer wieder zeigen. Auch bei ihr ist eine Nähe zur sogenannten Neuen Rechten festzustellen, die bereits zu Zeiten des Parteivorsitzenden Bernd Lucke sichtbar wurde.

Am 30. März 2014 referierte laut Ankündigung in Stuttgart Felix Menzel für die „Junge Alternative Baden-Württemberg“ zum Thema „Junges Europa statt Brüsseler Zentralismus“.[76] Menzel gilt mit seinem Online-Informationsportal „Blaue Narzisse“ als neurechter Nachwuchs-Publizist. Der Auftritt eines „Neuen Rechten“ 2014 zur Lucke-Zeit darf als deutliche Provokation und Stellungnahme der JABW interpretiert werden.

Besonders offen demonstrierte die „Junge Alternative Freiburg/Breisgau-Hochschwarzwald“ ihre Nähe zur „Neuen Rechten“. Sie dokumentierte selbst auf Facebook, wie ihre Mitglieder vom 28. bis 30. August 2015 die 16. Sommerakademie des „Instituts für Staatspolitik“ in Schnellroda zum Thema „Machbarkeit“ besuchten.[77]

Diese Nähe zur antidemokratischen „Neuen Rechten“ führte dazu, dass selbst das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) aufmerksam wurde und die JABW seit November 2018 als Beobachtungsobjekt führt.

Hol dir dein Land zurück

Dieser Umstand führte wiederum zu einer Austrittswelle rechtskonservativer, aber nicht rechtsextremer JA-Mitglieder in Baden-Württemberg. In ihrem Austrittsschreiben weisen die Ex-JA-Mitglieder auf Überschneidungen zu den Identitären hin: „So wurden etwa in mehreren Bezirksverbänden regelrechte Parallelstrukturen mit engen Verbindungen zu der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung (IB) aufgebaut, obwohl die JA seit geraumer Zeit einen Unvereinbarkeitsbeschluss zu dieser Organisation getroffen hat. Wo derlei Querverbindungen gerichtsfest nachweisbar waren, wurden zwar entsprechende Ordnungsmaßnahmen eingeleitet, diese konnten allerdings bis heute von der internen Schiedsgerichtsbarkeit noch nicht abschließend bestätigt werden. Dies liegt in der Regel darin begründet, dass die betroffenen Personen sämtliche Möglichkeiten juristischer Gegenwehr ergriffen haben, anstatt die verhängten Sanktionen einsichtig zu akzeptieren und einen Lernprozess zu durchlaufen.“[78]

Vor diesem Bruch hatte die JABW 2018 620 Mitglieder. Doch in der JABW gibt es nicht nur durch diesen Aderlass Probleme, sondern auch durch eine Art „Kaderlass“: Viele Jungalternative machen in der Partei Karriere bzw. finden bei Abgeordneten eine Anstellung. Durch diesen „Kaderlass“ in Richtung bezahltes Personal und die VS-Beobachtung haben die Aktivitäten der JABW merklich nachgelassen.

Alternative Mitte Baden-Württemberg“

Die „Alternative Mitte Baden-Württemberg“ (AMBW) ist ein Ableger der im Juni 2017 bundesweit gegründeten „Alternativen Mitte“ (AM) in der AfD, die für sich in Anspruch nimmt, die „Mitte“ der Partei zu vertreten. Von innerparteilichen Gegner*innen wird sie als „Lucke 2.0“ geschmäht.

Die AMBW wurde am 19. Oktober 2018 gegründet und hat sich im November 2019 aufgelöst, weil sie angeblich obsolet geworden sei. Am 5. Dezember 2019 veröffentlichte die AMBW auf Facebook dazu eine Erklärung mit dem Titel „Auf zu neuen Ufern!“, in der es hieß:

„Die Alternative Mitte Baden-Württemberg verstand sich als Bollwerk gegen radikale Ansichten und Schutzschirm gegen eine derartige Unterwanderung. Zum Zeitpunkt unserer Gründung bestanden hiergegen nur unzureichend parteiinterne Schutzmechanismen. Inzwischen sind durch klare, unmissverständliche Positionierungen der Parteiführung sowie durch operative Aktivitäten wie beispielsweise dem Arbeitskreis Verfassungsschutz deutliche rote Linien gezogen worden. […] Die Alternative Mitte Baden-Württemberg hat ihr Ziel erreicht. Wir haben dazu beigetragen, dass die AfD Kurs hält und für bürgerliche Mitglieder, Interessenten und Wähler ein attraktives politisches Angebot darstellt. […] Die Alternative Mitte halten wir nunmehr für obsolet, ebenso wie den Flügel. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn der Flügel sich in Baden-Württemberg ebenfalls auflöst.“[79]

Die AM galt als Gegenstück zum „Flügel“. Die politische Biografie des Sprechers der AM in Baden-Württemberg deutet aber darauf hin, dass die Entfernung in der Vergangenheit gar nicht so groß gewesen sein muss: Sprecher der AMBW war Robert Schmidt aus Mannheim, der auch als Sprecher des AfD-Kreisverbands Mannheim fungiert.

AfD-Mainstream im Südwesten

Es stellt sich die Frage, ob dem AfD-Flügel in Baden-Württemberg ein konsistenter AfD-Mainstream gegenübersteht, der dann über 50 Prozent umfassen müsste. Nach ausführlicher Beschäftigung mit dem Innenleben der AfD muss das aber verneint werden.

Es gibt keine originäre konsistente Ideologie des AfD-Mainstreams, der über das Abrufen von Ressentiments hinausreichen würde. Gerade der Schlingerkurs von Personen wie Weidel und Meuthen, die nicht dem Höcke-Flügel zuzurechnen sind, zeigt das deutlich. Während Jörg Meuthen sich bis mindestens 2018 mit dem Höcke-Flügel verbündete, trieb Alice Weidel im Februar 2017 noch ein Parteiausschlussverfahren gegen Björn Höcke voran und konkurrierte 2017 erfolglos gegen den gemeinsamen Kandidaten von Flügel und Meuthen, Ralf Özkara, um den Landesvorsitz. Inzwischen haben sich die Verhältnisse komplett gewendet. Weidel darf inzwischen als Verbündete Höckes angesehen werden, während Meuthen versucht, den ehemaligen Flügel-Vorsitzenden Andreas Kalbitz aus der Partei ausschließen zu lassen. Bei Personen wie Meuthen oder Weidel kann durch ihre inhaltliche Flexibilität nicht von einem festen Lager die Rede sein, eher handelt es sich um Pole, etwa den Meuthen-Pol.

Der AfD-Mainstream auch in Baden-Württemberg hat keine verbindenden Inhalte, die über gemeinsame Feindbilder wie Islam und Feminismus oder das für alle Parteimitglieder geltende Parteiprogramm hinausreichen. Gerade diese ideologische Beliebigkeit bzw. Flexibilität ermöglicht den rechtspopulistischen Stil. Anders als beim Höcke-Flügel stellt der völkische Nationalismus eher ein wackliges Glaubensfundament dar, dessen man sich bedient, wenn es opportun scheint. Man ist aber weniger ideologisch verbohrt. So werden auch vom AfD-Mainstream immer wieder deutlich völkisch-nationalistische Töne angeschlagen, sowohl in Verlautbarungen von Partei und Gliederungen wie auch von wichtigen Partei-Funktionär*innen.

Inhaltlich sind sich auch die „Gemäßigten“ bei diversen Feindbildern und oft auch im völkischen Nationalismus durchaus einig, auch wenn sie nicht in einer festen ideologischen Tradition stehen wie der Höcke-Flügel. Der Kalbitz-Opponent Jörg Meuthen legte dafür in seiner Rede beim Bundesparteitag am 22. April 2017 in Köln ein beredtes Zeugnis ab: „Und wenn ich an einem Samstagmittag im Zentrum meiner Stadt unterwegs bin, mit offenen Augen, wissen Sie, was ich dann sehe? Ich sage das wirklich ohne jede Übertreibung: Ich sehe noch vereinzelt Deutsche. Und wenn ich darüber erschrecke, nicht aus irgendeiner Ausländerfeindlichkeit, die mir völlig fremd ist, sondern weil dieses ungeheure Maß an wie auch immer in unser Land gekommenen Migranten, offensichtlich mehrheitlich aus anderen Kulturkreisen stammend, mein Land zwangsläufig und unwiderruflich in ein ganz anderes verwandelt, das kaum mehr etwas mit dem Land zu tun hat, in dem ich groß geworden bin.“[80]

Wie anders ließen sich diese Zeilen deuten denn als Ausdruck eines völkischen Weltbildes?

Spezialitäten in Südwesten

Bei der Charakterisierung der einzelnen AfD-Landesverbände ist es wichtig, Spezifika der jeweiligen Bundesländer wahrzunehmen, die sich aus Geografie, demografischen Besonderheiten und innerparteilichen Machtverhältnissen ergeben haben. 

Die „Außenpolitik“ der Südwest-AfD

Da der baden-württembergische AfD-Landesverband an zwei andere Länder grenzt, nämlich Frankreich und die Schweiz, und auch Österreich nicht fern ist, lohnt es sich, die „Außenpolitik“ der Südwest-AfD genauer zu untersuchen. Immerhin sind in allen drei Ländern ähnlich ausgerichtete rechte Parteien schon länger als die AfD aktiv.

Inhaltlich sind sich die AfD, die „Schweizerische Volkspartei“ (SVP), der „Rassemblement National“ (RN, bis 2018 „Front National“) in Frankreich und die „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ) in vielen Punkten ähnlich. Alle vier teilen sich die Feindbilder Einwanderung, Establishment, Europäische Union (EU) und Islam. Allerdings gibt es bei den Rechtsaußen-Parteien in einigen Bereichen durchaus auch Unterschiede. So ist der RN im Gegensatz zu den restlichen drei Parteien sehr zentralistisch orientiert, während AfD, FPÖ und SVP den Föderalismus ihrer Länder nicht in Frage stellen. Auch im wirtschaftspolitischen Bereich finden sich Unterschiede. Die SVP und, in großen Teilen, die FPÖ sind wirtschaftsliberal, während der RN sich sozialstaatlich gibt und in der AfD darüber noch gestritten wird. Die SVP geht als Partei in einem Land, das multilingual verfasst und nicht Mitglied der EU ist, ohnehin einen Sonderweg. Für AfD, FPÖ und RN lohnt sich eine stärkere Kooperation mehr, weil ihre Staaten der EU angehören.

Die Journalistin Charlotte Theile schreibt in ihrem 2017 erschienenen Buch „Ist die AfD zu stoppen?“:

„Die Ziele der AfD lesen sich eher so, als hätte die Partei sie mit Blick auf das fast schon zum Klischee gewordene Schweizer Vorbild entworfen.“[81]

Tatsächlich gilt die SVP seit Parteigründung in der AfD als Vorbild bzw. Bezugspunkt. Die AfD bezieht sich in ihrer Wahl-Propaganda gerne auf die Schweiz und ihre Plebiszit-Demokratie („Volksabstimmungen wie in der Schweiz“). SVP und AfD haben durch ihren rechtspopulistischen Charakter allerhand gemeinsam, etwa die Berufung auf den „wahren Volkswillen“, den sie angeblich vertreten. Trotzdem setzt sich die SVP tendenziell eher von der AfD und anderen Rechtsparteien ab. Da die Schweiz kein EU-Mitglied ist, gibt es auch keine gemeinsame Bühne wie das Europaparlament. So bleiben die Liebesbekundungen der AfD recht einseitig. Es sind auch kaum offizielle Kontakte der Südwest-AfD zur ideologischen Schwester SVP verbürgt. Es war also eher eine Ausnahme, dass am 14. Mai 2019 laut Ankündigung in Lörrach eine AfD-Veranstaltung mit Anian Liebrand, Präsident des SVP-Jugendverbandes, stattgefunden hat. Trotz dieser geringen Kontakte stellt die ältere und erfolgreichere SVP mit den von ihr initiierten Plebisziten wie die so genannte Minarett-Initiative ein wichtiges Vorbild für die AfD dar.

Auch zur ideologischen Schwester-Partei RN sind erstaunlich wenige offizielle Kontakte der Südwest-AfD dokumentiert, obwohl beide im Europa-Parlament im nahen Straßburg sogar gemeinsam die Fraktion „Identität und Demokratie“ stellen. Einzelne Kontakte sind trotzdem festzustellen. Im Mai 2019 besuchten die JA-Vertreter Johannes Rausch und Karl Schwarz eine Wahlkampfveranstaltung von der RN-Vorsitzenden Marine Le Pen im elsässischen Fessenheim.[82] Im Juli 2020 gab es zwei gemeinsame Austauschtage von JA und der RN-Jugend „Generation Nation“, davon einer in Kehl und einer in Straßburg.  

Am stärksten scheint der Kontakt zwischen der Südwest-AfD und der FPÖ zu sein, vermutlich auch wegen der fehlenden Sprachbarriere. Am 17. November 2016 referierte beispielsweise in der Filderhalle in Leinfelden-Echterdingen der FPÖ-Europaabgeordnete Harald Vilimsky. Neben Vilimsky sprach auch Alice Weidel. Organisiert wurde die Veranstaltung von den AfD-Kreisverbänden Bodensee, Esslingen, Rems-Murr und Reutlingen.[83] Der AfD-Kreisverband Böblingen/Sindelfingen richtete am 25. August 2017 im Bürgersaal in Jettingen eine Veranstaltung mit Beatrix von Storch, Markus Frohnmaier und Johann Gudenus von der FPÖ aus.[84] Am 3. Mai 2019 fand im Congress-Centrum in Pforzheim eine AfD-Veranstaltung „Für ein Europa der Freiheit“ mit Jörg Meuthen (AfD-MdEP), Alice Weidel (AfD-MdB) und Johann Gudenus (FPÖ) statt.[85] Mehrmals kam es auch zu Besuchen aus Baden-Württemberg in Österreich. So besuchte eine Delegation der „Jungen Alternative Baden-Württemberg“ Ende April 2019 die FPÖ Niederösterreich und den FPÖ-Wahlkampfauftakt in Wien. 

Die seit Jahrzehnten in Österreich aktive FPÖ hat für die AfD offenbar Vorbildcharakter, wie auch der Titel der Veranstaltung in Leinfelden-Echterdingen 2016 zeigt. Er lautete: „Wie kann die AfD vom Erfolg der FPÖ lernen“[86]. Anwesend war auch die spätere AfD-MdB Alice Weidel aus Überlingen.

Demonstrations-Politik der AfD in Baden-Württemberg

Die AfD in Baden-Württemberg war seit ihrer Gründung im Jahr 2013 im Vergleich mit anderen Landesverbänden ziemlich zurückhaltend, was ihre Demonstrations-Politik angeht. Eine eigene Zählung des Autors Lucius Teidelbaum kommt bis Anfang Juni 2020 auf insgesamt mindestens 52 Demonstrationen von AfD, JA oder einzelnen AfD-/JA-Funktionär*innen, wozu auch Kundgebungen und Mahnwachen gezählt wurden. Diese verteilen sich wie folgt auf die Jahre 2013 bis 2020:

Demonstrationen AfD

Die meisten dieser 52 Demonstrationen hatten unter 100 Teilnehmer*innen. Nur an elf nahmen nachweislich mehr als 100 Personen teil. Davon wiederum hatten nur drei Demonstrationen 300 bis 500 Teilnehmer*innen:

* in Bruchsal am 2. Juni 2018 mit 400 bis 500 Personen. Vermutlich war die Teilnahme Björn Höckes entscheidend für die hohe Teilnehmerzahl;  

* in Offenburg am 18. August 2018 mit 300 Personen; 

* in Freiburg am 29. Oktober 2018 mit 400 Personen – eine Veranstaltung der „Jungen Alternative Freiburg“; Anlass war die Festnahme von sieben Syrern und einem Deutschen, die in der Nacht auf den 14. Oktober in Freiburg eine 18-jährige Frau vergewaltigt haben sollen.

Parteiintern gab es in der AfD spätestens mit dem Aufkommen von PEGIDA in Dresden im Oktober 2014 Streit um das Verhältnis zu rassistischen Straßenbewegungen à la PEGIDA. Während die einen auf Abstand gingen, suchten die anderen die Nähe zu derartigen Bewegungen. Dahinter steckt auch ein unterschiedliches Verständnis der Partei entweder als Parlaments- oder als Bewegungs-Partei. Während diejenigen, die die AfD vornehmlich als Parlaments-Partei sehen, die Parlamente als politischen Entscheidungsort verstehen, ist es bei den Vertreter*innen des Bewegungspartei-Konzepts die Straße. Grob gesagt verfolgt besonders der Höcke-Flügel die Strategie der AfD als Bewegungs-Partei. Die Anhänger*innen dieser Strategie sind in ihrer Haltung auch kritisch bis feindlich gegenüber der parlamentarischen Demokratie eingestellt. Sie bevorzugen auch meist die Haltung der Fundamentalopposition gegenüber den Möglichkeiten einer Regierungsbeteiligung.

In Baden-Württemberg scheinen sich die Vertreter*innen des Parlamentspartei-Konzepts durchgesetzt zu haben. Es gibt nur wenige offizielle AfD-Demonstrationen. Anhänger*innen einer stärkeren Demonstrations-Politik wie die AfD-Abgeordneten Stefan Räpple oder Christina Baum mussten teilweise Demonstrationen ohne Unterstützung des Landesverbandes oder der Landtagsfraktion organisieren.

So war nicht jede der oben aufgelisteten Demonstrationen eine offizielle AfD-Veranstaltung. Beispielsweise fand am 4. Januar 2020 in Baden-Baden eine Kundgebung von 120 bis 150 Personen gegen den dort ansässigen SWR statt. Organisator war der AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Räpple. Neben Räpple sprachen u.a. der AfD-Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel, die aus der AfD ausgeschlossene Doris von Sayn-Wittgenstein, Helmut Gernot Tegetmeyer von PEGIDA Nürnberg und der Freiburger AfD-Stadtrat Dubravko Mandic.[87] Mandic drohte laut Medien in seiner Rede: „Ich sage Ihnen da oben, das hier ist nur der Anfang. Wir werden Sie aus Ihren Redaktionsstuben vertreiben. Wir werden uns Ihre Lügen nicht länger anhören. Das ist erst der Anfang des Sturms.“[88]

Diese Demonstration war einer der angeführten Punkte im Parteiausschlussverfahren gegen Räpple. Ihm wurde vom Bundesvorstand vorgeworfen: Stil und Ton der Veranstaltung entsprachen in weiten Teilen nicht den Vorstellungen des Bundesvorstandes.“[89]

Auch vom AfD-Landesverband offiziell mit organisierte Demonstrationen wie in Ellwangen am 22. September 2018 oder in Sigmaringen am 12. September 2017 waren eher schlecht besucht. In Ellwangen nahmen an der AfD-Demonstration gegen die dortige Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete trotz intensiver Werbung nur 150 Personen teil.

Neben den Demonstrationen der Landes-AfD und einzelner AfD-Mitglieder gab es größere rechte Demonstrationen, an denen die AfD beteiligt war. So die parteiunabhängig organisierte Serie der „Demos für alle“ in Stuttgart 2014 bis 2016 mit über 5.000 Beteiligten.

Ebenfalls offiziell parteiunabhängig organisiert waren die rechten Demonstrationen im rheinland-pfälzischen Ort Kandel mit etwa 4.000 Beteiligten auf ihrem Höhepunkt Anfang März 2018, davon viele aus Baden-Württemberg. Im Impressum der Website von „Kandel ist überall“ findet sich die baden-württembergische AfD-MdL Christina Baum.[90] Zwar liegt Kandel außerhalb Baden-Württembergs, doch wurde zu der Demonstration stark aus Baden-Württemberg, auch aus AfD-Kreisen, mobilisiert.

AfD-Vorfeldorganisationen im Südwesten

Aus den Reihen der AfD Baden-Württemberg gingen bis zum heutigen Tag drei (eingetragene) Vereine hervor: der „Verein konservativer Kommunalpolitiker Baden-Württemberg“ (VKK-BW), „AfD hilft e.V.“ und die „Gustav-von-Struve-Stiftung“.

Die erste Gründung eines AfD-Vereins in Baden-Württemberg fand am 31. Mai 2016 statt. Sieben Personen initiierten den Verein „AfD hilft e.V.“. Zum Vorsitzenden wurde Udo Stein (MdL) gewählt, zur Stellvertreterin Carola Wolle (MdL) und zum Schatzmeister der Parlamentarische Berater der Landtagsfraktion Reimond Hoffmann. Ziel war die Hilfe für das von einem Hochwasser am 29. Mai 2016 schwer getroffene Örtchen Braunsbach, eine kleine Gemeinde in der fränkischen Region Hohenlohe im Landkreis Schwäbisch Hall. Am Tag der Überschwemmungen waren verschiedene AfD-Politiker und -Mitglieder wie Udo Stein und Reimond Hoffmann öffentlichkeitswirksam als Helfer vor Ort. Bei den Aufräumarbeiten halfen auch Geflüchtete mit.[91] Der Verein sammelte später Spenden für die vom Hochwasser Geschädigten in Braunsbach: „Wir helfen Bürgern direkt und unkompliziert, so Udo Stein wenige Tage später auf Twitter.[92] Seither lassen sich keine Aktivitäten mehr nachweisen, formal besteht der Verein aber noch.

Im Juli 2018 gab die AfD die Gründung des Vereins „Gustav-von-Struve-Stiftung e.V.“ bekannt. Die Gründungsveranstaltung in den Räumlichkeiten der AfD-Landtagsfraktion fand bereits am 12. Dezember 2017 statt. Aus den Reihen der zehn Gründungsmitglieder bildeten drei AfD-Landtagsabgeordnete den Vorstand: Rainer Podeswa als Vorsitzender, Udo Stein als Stellvertreter und Emil Sänze als Schatzmeister. Der Sitz des Vereins ist Rottweil im Wahlkreis von Emil Sänze. In der Satzung des rechten Vereins heißt es: „Besonderes Augenmerk richtet der Verein dabei auf die politische Bildungsarbeit.“ Diese soll im „Rahmen von Vorträgen, Seminaren, Diskussionsveranstaltungen, Tagungen, Bildungsreisen, Studien“ geschehen. Weiterhin soll der Zweck des Vereins durch die „Förderung der Bildung und Erziehung der Jugend, insbesondere Schüler und Studenten“ verwirklicht werden. Der Vereinsvorsitzende Podeswa ist Mitglied des Kuratoriums der Landeszentrale für politische Bildung.

Allerdings werden in Baden-Württemberg die politischen Stiftungen der im Landtag vertretenen Parteien erst nach zwei vollen Wahlperioden finanziell gefördert. Die Gustav-von-Struve-Stiftung müsste sich, zwei weitere Wahlerfolge der AfD und die reguläre Dauer der Wahlperiode vorausgesetzt, noch bis zum Jahr 2026 gedulden, ehe sie Landesmittel in Anspruch nehmen könnte. Dabei werden neben einem Sockelbetrag die jeweiligen Ergebnisse der vergangenen Landtags- und Bundestagswahlen bei der Verteilung der entsprechenden Haushaltsmittel berücksichtigt.[93] Zu den Gründungsmitgliedern der AfD-nahen Stiftung gehörte auch der Politische Berater Laurens N. Er war „Stellvertretender Bundesführer“ der 2009 verbotenen neonazistischen „Heimattreuen Deutschen Jugend“.[94] Vorübergehend fungierte er sogar als „Bundesführer“[95] dieser in der Tradition der „Hitlerjugend“ stehenden Organisation.

Auf Facebook postete der neugegründete Verein: „Die Gustav-von-Struve-Stiftung e.V. setzt sich ein für die Förderung von politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die den Bürgern Wohlstand, Bildung und Freiheit gewährleisten. Starke Bürgerrechte und direkte Mitbestimmung auf der Basis unserer nationalen Identität sind für uns die Grundlage für eine innovative leistungsfähige, zukunftsoffene und selbstbestimmte Gesellschaft.“[96] Zum Vereinszweck heißt es in der Satzung: „Der Verein fördert die Idee des freiheitlichen Konservativismus in Baden-Württemberg.“[97]

Nun war Gustav Struve politisch nicht konservativ oder reaktionär. In den Jahren 1848/49 war er einer der führenden Köpfe der Revolution in Baden und gehörte in jener Zeit zum radikaldemokratischen und antimonarchistischen Flügel der Aufständischen. Aus damaliger Sicht war Struve ein linker Revoluzzer, so die Stuttgarter Nachrichten.[98] Seine Schulzeit verbrachte der 1805 in München geborene spätere Revolutionär Struve in Stuttgart und Karlsruhe. 1847 legte Struve sein Adelsprädikat ab, das die AfD in ihrem Stiftungsnamen „Gustav-von-Struve-Stiftung“ wieder anhängte. Bislang war der Verein kaum aktiv. Vor dem Hintergrund der anstehenden Kommunalwahlen in Baden-Württemberg im Mai 2019 war eine Veranstaltungsreihe zur kommunalpolitischen Bildung geplant. Vorgesehen waren zunächst je eine Veranstaltung in den vier Regierungsbezirken und, bei endsprechender Nachfrage, eine weitere Veranstaltung in zentraler Lage, von denen aber nichts bekannt wurde.

Jüngster Verein der AfD in Baden-Württemberg ist eine „Kommunalpolitische Vereinigung“. Um die Kommunalarbeit der AfD in Baden-Württemberg zu koordinieren und die Mandatsträger*innen zu schulen, wurde im Nachgang zu den Kommunalwahlen am 13. Juli 2019 der „Verein konservativer Kommunalpolitiker Baden-Württemberg“ (VKK-BW) gegründet. 46 Personen gehörten zu den Gründer*innen [99]. Es handelt sich um den Versuch, die AfD-Kommunalpolitik zu professionalisieren.

VKK
http://www.vkk-bw.de/about-us/die-vorstandschaft/ 100

Bisher ist von dem Verein lediglich eine einzelne Schulung belegt, weitere sind angekündigt. Vorsitzender des VKK-BW ist der AfD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Gemeinderat Marc Bernhard aus Karlsruhe. Zweiter Vorstand ist der Heidelberger Gemeinderat Sven Geschinski, Joachim Hülscher aus Göppingen ist Dritter Vorstand. Der ehemalige Göppinger Baubürgermeister Hülscher ist Gemeinderats- und Kreisrats-Fraktionsvorsitzender der AfD in Göppingen.

Nach Eigenangabe hatte der VKK im November 2019 über 75 Mitglieder unter den fast 250 kommunalen Mandatsträger*innen der AfD in Baden-Württemberg.[101]

Fazit: Pleiten, Pech und Pannen auch in der Südwest-AfD  

AfDLogoverzerrt

Die Geschichte der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist auch die Geschichte einer kontinuierlichen innerparteilichen Rechtsentwicklung. Die AfD startete rechts von der Mitte und ist heute deutlich weiter rechts einzuordnen. Der öffentlich von AfD-Funktionär*innen geleugnete Rechtsdrift wurde von AfD-Aussteiger*innen ein ums andere Mal bestätigt.

Hierbei stellt der baden-württembergische Landesverband keine Ausnahme dar. Die bei Beendigung der Arbeit an diesem Artikel im Mai und Juni 2020 entbrannten innerparteilichen Auseinandersetzungen, die im Parteiausschluss des brandenburgischen AfD-Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz durch den Bundesvorstand mündeten, widersprechen nur scheinbar der These von der konsequenten Bewegung der AfD nach extrem rechts. Immerhin war Meuthen jahrelang Bündnispartner und Beschützer des Höcke/Kalbitz-Flügels. In ihren nationalistischen und rassistischen Phrasen nehmen sich Radikale und angeblich Gemäßigte nur wenig. Der Unterschied ist eher in der ideologischen Verortung der einen zu sehen, die mit einem flexiblen rechtspopulistischen Stil der anderen konkurriert.

Es ist fraglich, ob die von den Medien häufig übernommene Selbstdarstellung als „gemäßigt“, „liberal-konservativ“ oder „bürgerlich“ für die innerparteilichen Gegner*innen und Konkurrent*innen des Höcke-Flügels überhaupt zutreffen. Sie sind sicherlich weniger ideologisch verhärtet und damit flexibler in ihren Positionen, aber im Zuge einer möglichen Resonanz an der Wahlurne vertreten sie oft kaum andere Inhalte als die Personen des Höcke-Flügels. Anders als diese sind sie aber zu Zugeständnissen bereit, wenn es zum eigenen Vorteil ist. Das ist zwar auch bei Höcke und Co. der Fall, aber bestimmte Standpunkte wie ein völkisches Verständnis, im Sinne von weiß und deutschstämmig, sind nicht verhandelbar und bestimmender. Hier bindet sie ihr ideologisches Korsett. 

Daher würde es mehr Sinn ergeben, die angeblich Gemäßigten in der AfD als „Pragmatiker*innen“ zu bezeichnen, denen „Hardliner“ und teilweise „Faschist*innen“ gegenüberstehen. Die Hardliner*innen können aus ihrer Ideologie heraus weniger taktische Zugeständnisse machen. In Baden-Württemberg dominiert der Höcke-Flügel zwar nicht, ist aber als starke Minderheit deutlich wahrnehmbar.

Der AfD-Landesverband in Baden-Württemberg ist nicht nur geprägt von einem kontinuierlichen Rechtsruck, sondern auch von Brüchen, die zum Teil damit in Zusammenhang stehen. Der erzwungene Auszug des Parteigründers Lucke aus seiner eigenen Partei ließ sich hier auch auf regionaler Ebene gut nachvollziehen.   

Hinzu kommen Pleiten, Pech und Skandale wie bei den illegalen Parteispenden an die beiden wichtigsten baden-württembergischen AfD-Funktionär*innen, Jörg Meuthen und Alice Weidel.

Allerdings erfuhr die AfD im Südwesten bei der Landtagswahl 2016 enorm viel Zuspruch von den Wähler*innen und auch die Mitgliederzahl stieg kontinuierlich. Trotz Schwankungen in den Umfragewerten ist Baden-Württemberg auf Bundesebene die westdeutsche Hochburg der AfD. Die AfD in Baden-Württemberg ist offenbar kein Erfolgsprojekt wegen ihrer klugen Führung oder ihrer Einigkeit, sondern trotz der ständigen Streitereien bis in die höchsten Etagen der Partei.

Eine kritische Darstellung der Südwest-AfD kann das thematisieren, aber diese Aufklärungnstößt an ihre Grenzen. Denn die ständigen Negativ-Schlagzeilen hielten offenbar viele in Baden-Württemberg nicht davon ab, dieser Partei trotzdem ihre Stimme zu geben. Immerhin kann sich niemand damit herausreden, von nichts gewusst zu haben.



Quellen

AfD Baden-Württemberg: Landtagswahlprogramm 2016, 2016, https://afd-bw.de/afd-bw/wahlprogramme/landtagswahlprogramm_afd_2016_1.pdf (aufgerufen am 12.06.2020), S. 18, 47, 48 

AfD Baden-Württemberg: Für unser Land – für unsere Werte: Landtagswahlprogramm 2016 der AfD Baden-Württemberg erschienen, 2016, https://goeppingen.afd-bw.de/aktuelles/news/11660/F%C3%BCr+unser+Land+-+f%C3%BCr+unsere+Werte%3A+Landtagswahlprogramm+2016+der+AfD+Baden-W%C3%BCrttemberg+erschienen (aufgerufen am 03.07.2020)

Bebnowski, David und Förster, Lisa Julika: Wettbewerbspopulismus. Die Alternative für Deutschland und die Rolle der Ökonomen, Otto Brenner Stiftung, Frankfurt am Main 2014, http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2014/05/OBS_AP_Wettbewerb_WEB.pdf (aufgerufen am 04.07.2020)

Bebnowski, David und Förster, Lisa Julika: Der Chauvinismus der Euro-Gewinner, Die Zeit, 21. Mai 2014, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-05/AfD-Europawahl-Rechtspopulismus-Studie (aufgerufen am 14.06.2020) 

Begrich, David (Miteinander e.V.): Was Pegida verändert hat? Alles, 2016

Decker, Frank (1999): Parteien unter Druck: Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Hamburg 2. Aufl. u.d.T. 1999, S. 177-180

Dietzsch, Martin und Maegerle, Anton (1995): Der Bund freier Bürger – Die Freiheitlichen (BFB), Mai 1995, http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/Bund_freier_Buerger.htm (aufgerufen am 04.07.2020).

Erfurter Resolution, Unterzeichner Baden-Württemberg, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

Friedrich, Sebastian: Der Aufstieg der AfD – Neokonservative Mobilmachung in Deutschland, Berlin 2015

Staud, Toralf (2006): Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD, Bonn 2006

Theile, Charlotte (2017): Ist die AfD zu stoppen? Die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten, Zürich 2017



 

[8] https://lkr.de/a-allgemein/esm-2/ (aufgerufen am 22.10.2020)

[9] https://erasmus-stiftung.de/kuratorium/ (aufgerufen am 02.08.2020)

[10] https://erasmus-stiftung.de/kuratorium/ (aufgerufen am 26.08.2020)

[11] Dr. Jan B. Rittaler: Selbstvorstellung als Kandidat bei der AfD, PDF-Dokument, 2013, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

[16] https://afdkompakt.de/tag/remigration/ (aufgerufen am 02.08.2020)

[22] ebenda

[50] https://aufrechte.info/index.php (aufgerufen am 14.06.2020)

[56] https://bit.ly/3eHDTdB, S. 174 (aufgerufen am 30.10.2020)

[57] https://www.stuttgarter-aufruf.de (aufgerufen am 17.06.2020)

[58] Zitiert nach: https://www.stuttgarter-aufruf.de (aufgerufen am 17.06.2020)

[59] Zitiert nach: https://www.stuttgarter-aufruf.de (aufgerufen am 17.06.2020)

[60] https://www.stuttgarter-aufruf.de (aufgerufen am 17.06.2020)

[61] Staud, Toralf (2006): Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD, Bonn 2006, S. 76

[62] Die JF hat ihre Wurzeln in Baden-Württemberg. Sie wurde 1986 in Kirchzarten bei Freiburg als Schüler- und Studentenzeitung von Verbindungsstudenten um Dieter Stein gegründet.

[66] Friedrich, Sebastian: Der Aufstieg der AfD – Neokonservative Mobilmachung in Deutschland, Berlin 2015, S. 52

[69] Begrich, David (Miteinander e.V.): Was Pegida verändert hat? Alles, 2016

[71] Protokoll Mitgliederversammlung der Patriotischen Plattform am 6. November 2016, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

[76] Screenshot der Veranstaltungsankündigung, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

[77] Screenshot: Junge Alternative Freiburg: Besuch IfS-Veranstaltung, 2015, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

[81] Theile, Charlotte (2017): Ist die AfD zu stoppen? Die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten, Zürich 2017, S. 139 

[86] Screenshot „Harald Vilimsky in Leinfelden-Echterdingen“, 2016, Privatarchiv Lucius Teidelbaum

[88] Anti GEZ Demo MdL Räpple – Rede von Dubravko Mandic, 04.01.2020, https://www.youtube.com/watch?v=iYOj8dY0G78

[90] https://kandel-ist-ueberall.de/impressum/ (aufgerufen am 20.06.2020)

[95] ebenda

[97] ebenda