Anlässlich des 80. Jahrestages seit dem deutschen Einmarsch in Griechenland (1941) diskutiert der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Büro Thessaloniki mit drei Experten*innen über die Themen Reparationen, Erinnerung und Aufzeichnung in der öffentlichen Geschichte.
2021 ist für Griechenland ein Jahr der Jahrestage. Drei Ereignisse, die drei historische Perioden in verschiedenen Epochen definierten, bieten ebenso viele Anlässe zum Feiern, zum Erinnern, aber auch zur Arbeit an angemessenen politischen Antworten. Nachdem zu Beginn des Jahres 40 Jahre seit dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft und am 25. März 200 Jahre seit der griechischen Revolution gefeiert wurden, stellt am 6. April der achtzigste Jahrestag des deutschen Einmarschs in das Land während des Zweiten Weltkriegs ein wahrhaft Datum dar. Ein Kapitel der modernen griechischen Geschichte, das wie eine tiefe Wunde Vor allem in den Fragen der Wiedergutmachung, Erinnerung und Aufzeichnung in der öffentlichen Geschichtsschreibung offen bleibt. Dank der Beiträge von drei Experten*innen beleuchten die folgenden Gespräche diese drei Aspekte dieses Themas, die nach wie vor aktuell sind und immer noch nach überzeugenden Antworten suchen.
Aris Radiopoulos
Reparationen – Aris Radiopoulos: „Ich bin überzeugt, dass das Bedürfnis nach Gerechtigkeit so tief verankert ist, dass es nur einen Anlass braucht, das Thema wieder in den Vordergrund zu rücken.“
Am 25. März 2021, vor dem Hintergrund des 80. Jahrestags des Angriffs der Wehrmacht auf Griechenland am 6. April 1941, wurde ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und Der Linken im Deutschen Bundestag eingebracht. Er forderte u.a. "die erinnerungspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Griechenland zu intensivieren". Der vom Plenum abgelehnte Antrag brachte ein Thema wieder auf den Tisch, das die deutschen Regierungen seit Jahrzehnten als abgeschlossenen Fall behandeln. „Wir wollen auf Augenhöhe über noch offene Fragen sprechen“, betonte der Grünenabgeordnete, Manuel Sarrazin zu Beginn der Debatte.
Die wichtigste aus diesen offenen Fragen ist eigentlich das Thema Deutsche Kriegsschulden und Reparationen. Kurz vor dem Jahrestag, am Montag, 5.4. erklärte das griechische Außenministerium, dass die Frage der Entschädigung aus griechischer Sicht weiterhin offen sei. Aris Radiopoulos ist Autor der umfassenden Quellenedition „Die deutschen Kriegsschulden an Griechenland. Die griechischen Forderungen aus dem I. und II. Weltkrieg anhand von Archivdokumenten des griechischen Außenministeriums“, (erschienen bei Nefeli-Verlag, 2019, bald auch auf Deutsch beim Metropol-Verlag) die er während seiner Dienstzeit als Diplomat in der griechischen Botschaft in Berlin verfasste. Wir haben ihn gebeten, einige Erkenntnisse aus seiner Forschung mit uns zu teilen.
Michalis Goudis: In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass eine Internationalisierung der Frage der Kriegsreparationen notwendig ist. Griechenland hat dies bisher nicht geschafft. Warum ist das Ihrer Meinung nach so, wenn man bedenkt, dass Griechenland nicht der einzige Fall mit dieser Art von offenen Fragen ist?
Aris Radiopoulos:
Griechenland war lange Zeit mit den Folgen der Besatzung beschäftigt. In den Jahren 1941-1944 führte ihre Brutalität große Teile der Bevölkerung zur Radikalisierung und nicht zuletzt zur Bewaffnung. Hinzu kommt, dass die deutschen Besatzer gleichgesinnte Griechen bewaffnet und animiert haben gegen die eigenen Landsleute zu kämpfen. Der Bürgerkrieg war eine direkte Folge der Besatzung. Die griechische Gesellschaft war vor der Besatzung weder verelendet noch in diesem gefährlichen Ausmaß bewaffnet. Diese Bewaffnung hätte ohne die Anwesenheit und das Zutun der Besatzer nicht stattgefunden.
In den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg hatte die griechische Gesellschaft mit den Folgen der Spaltung, die der Bürgerkrieg verursachte, zu kämpfen. Die Verhärtung der inneren politischen Fronten führte zu einer binnenorientierten Haltung. Man war mit den internen politischen Gegnern beschäftigt. Das war der Tenor der griechischen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dieses Klima bot keine Möglichkeiten einer Internationalisierung der Kriegsreparationenfrage. Letztendlich wurde sie nicht zur Priorität. Selbst wenn die griechischen Regierungen die Reparationen oder einzelne Aspekte davon gegenüber deutschen Gesprächspartnern wiederholt zur Sprache brachten, sind von der griechischen Politik, Kulturwelt und Zivilgesellschaft keine starken Initiativen ergriffen worden, um das Thema auf die große Bühne zu bringen. Damit sind nicht unbedingt ein politisches Forum oder bilaterale Gespräche mit Deutschland gemeint, sondern die Weltöffentlichkeit, die z.B. mit großen Kulturwerken, wie internationale Kinofilme, erreicht wird. Das ist eine tatsächliche Lücke und mitunter ein Grund, weshalb das Ausmaß der Katastrophe, die die deutsche Besatzung über Griechenland brachte, weltweit nicht so bekannt ist.
Im Epilog Ihres Buches argumentieren Sie, dass die Aktivierung und Unterstützung der griechischen Gesellschaft für eine Lösung der deutschen Schuldenfrage eine Herausforderung bleibt. Ist diese "Trägheit", die außerhalb der Märtyrerstädte und -dörfer zu beobachten ist, nur auf mangelndes Wissen oder auf die allgemeine Verwaltung der Erinnerung auf griechischer Seite zurückzuführen?
Es gibt kaum eine Familie in Griechenland, die keinen Verwandten unter den Opfern der Besatzung zu beklagen hätte, ob erschossen, vergast, im Widerstand gefallen, an Hunger und Krankheiten gestorben, im Rahmen von sog. „Sühnemaßnahmen“ usw. Also spürt jede/-r von uns ganz genau die Last, die das Wort „Besatzung“ trägt. Jeder Grieche kennt die literarischen Werke, die für den eigenen Markt produzierten Filme oder eben die verbreiteten Comics der Nachkriegszeit, die die Alltagserfahrung der Besatzung festhielten. Natürlich ist die Bedeutung der Besatzung für Mitbürger aus Gemeinden und Orten, die ein Kollektivtrauma infolge eines Massenverbrechens erlitten eine andere, als die der übrigen Griechen. Gleichzeitig wissen wir alle allzu gut, dass die Massenverbrechen in Chortiatis, Distomo oder Kalavryta alle Bürger*innen trafen, unabhängig von ihrer politischen oder sonstigen Gesinnung oder, je nach Fall, sogar von Alter und Geschlecht.
Im Rahmen meiner Studie habe ich die Beobachtung gemacht, dass die Frage in zwei Phasen sehr intensiv politisch verfolgt wurde, nämlich in der Zeit vor dem Abkommen von 1960 und im Jahr 1995, im Vorfeld der ersten griechischen Verbalnote nach der Wiedervereinigung. Der Druck, der in der Gesellschaft aufgebaut wurde, begleitete die Argumentation der damaligen Regierungen und eröffnete ihnen Möglichkeiten, unabhängig vom erzielten Ergebnis. Von einer Trägheit in der Bevölkerung würde ich nie sprechen, eventuell aber von einer mangelnden aktiven Verfolgung der Frage. Ich bin jedoch überzeugt, dass das Bedürfnis nach Gerechtigkeit so tief verankert ist, dass es nur einen Anlass braucht, das Thema wieder in den Vordergrund zu rücken.
Sie haben jahrelang in der deutschen Hauptstadt gelebt und in Ihrem Buch auch die Haltung der deutschen Seite über Jahre hinweg recherchiert. Was sind die Hauptpunkte der deutschen Herangehensweise an die Frage der Reparationen?
Entsprechend der Dokumente ist es einfach nachzuweisen, dass das Hauptaugenmerk der deutschen Regierungen im Fall der Kriegsreparationsfrage in Bezug auf Griechenland auf die finanzielle Komponente ausgerichtet war. Das eindeutige Ziel war die Vermeidung von adäquaten Reparationssummen, womöglich sogar die vollständige Ablehnung jeglicher Zahlungen.
Zu diesem Ziel wurden diverse Taktiken angewendet und konstruierte Begründungen hervorgebracht: Das gängigste Argument in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten war, dass die griechische Seite von ihren Forderungen zurückgetreten sei. In den 1960er Jahren scheuten sich sogar ein Bonner Minister und hochrangige Beamte nicht davor, Unwahrheiten über griechische Diplomaten und Politiker zu säen, -einmal traf es Konstantinos Karamanlis, einmal Andreas Papandreou-, mit dem Ziel, eine innergriechische Auseinandersetzung zu entfachen und die Aufmerksamkeit von der Einforderung der Reparationen abzulenken.
Weil das Argument des vermeintlich persönlich zugesicherten Rücktritts von den Forderungen nicht zum Erfolg führte, wurde auf das Londoner Schuldenabkommen hingewiesen, wonach die Reparationsfrage zumindest vertagt wurde. Diese Taktik wurde bis zum Fall der Mauer praktiziert. Unmittelbar danach änderte sich die Argumentation jedoch: Jetzt war es zu spät! Je nach Fall wurde zusätzlich das immer noch gern verwendete „Ersatzargument“ genutzt. Damit sind die deutschen Beiträge in diversen Organisationen (EG/EU, NATO usw.) gemeint, wovon Griechenland angeblich profitierte. Die Schwäche dieses Arguments wird am NATO-Beispiel deutlich: im Gegensatz zu Deutschland hält Griechenland konsequent die Zwei-Prozent-Vorgabe für Verteidigungsausgaben ein. In den letzten Jahren kam das Argument der diversen bilateralen Zusammenarbeitsforen als weiterer „Ersatz“ für echte Reparationen hinzu.
Während meiner Tätigkeit in Berlin habe ich jedoch festgestellt, dass die Zahl der deutschen Bürger*innen, die tatsächlich verstehen, dass die Einforderung keine Eintagsfliege der griechischen Politik ist, sondern eine historische Notwendigkeit, die zum Interesse beider Völker adäquat angesprochen werden muss, langsam wächst. Trotz ihrer ansonsten unterschiedlichen Positionen unterstützen mittlerweile sogar zwei der sechs im Bundestag vertretenen Parteien den diesbezüglichen Dialog. Das ist ein Fortschritt.
In welchen Punkten würden Sie die Haltung der griechischen Seite in dieser Frage trotz der einzelnen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regierungen zusammenfassen?
Das Studium der Archivdokumente hat deutlich gezeigt, dass es keine griechische Regierung in der Nachkriegszeit gab, die von irgendeinem Aspekt des gesamten Reparationskomplexes zurückgetreten ist - nur die Militärjunta hat entgegen dem geltenden Völkerrecht die Kriegsverbrechenfrage als verjährt betrachtet. Angelehnt an die realpolitischen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit wurde die Einforderung angepasst: Nach dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 z.B. waren die Reparationen zunächst kein Thema, wohl aber die Entschädigung der Opfer und die Rückzahlung des Zwangskredits.
Trotz der inhärenten Differenzen hielten alle Regierungen an dem Tenor der Forderungen fest. Gleichzeitig aber haben sie diesbezüglich keine systematisch organisierten Bemühungen unternommen, um die Frage sowohl in Griechenland selbst als auch im Ausland weiterzubringen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die griechischen Regierungen schon am Tag eins nach der Befreiung daran interessiert waren, die zerstörte Wirtschaft wieder zumindest an das Vorkriegsniveau heranzubringen. Vor dem Krieg war diese in eine gewisse Abhängigkeit von Deutschland geraten, denn allein die Tabakexporte nach Deutschland stellten 25 Prozent der griechischen Exporte dar. Zehn Jahre nach dem Krieg, als in Deutschland das Wirtschaftswunder schon Früchte trug, schleppte sich die griechische Wirtschaft immer noch nur langsam voran. Dazu muss man sagen, dass die internationale Konstellation dem griechischen Reparationsanliegen entgegenstand. Die Bundesrepublik war für den Westen unerlässlich geworden und ihre reparationsbedingte Schwächung war nicht erwünscht. Oberste Priorität in Bezug auf Griechenland hingegen war die Anbindung Athens an den Westen, andere Anliegen wurden entsprechend als weniger relevant abgestuft.
Dr. Anna Maria Droumpouki
Erinnerung – Dr. Anna Maria Droumpouki: „In Krisenzeiten werden die traumatischen Erinnerungen an die Besatzungszeit geweckt“.
Der Umgang mit der Erinnerung ist ein komplexes Thema, das eine holistische Strategie erfordert, die sich durch Politik, Bildung und auch die Orte der historischen Erinnerung zieht. Besonders in einem Land wie Griechenland mit einer so reichen und bewegten Geschichte. Die Historikerin Dr. Anna Maria Droumpouki hat als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts "Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland" die Aspekte der Erinnerungspolitik vertieft, die mit der Deutschen Invasion und Besatzung verbunden sind. In ihren Büchern nähert sie sich der kollektiven Erinnerung aus verschiedenen Blickwinkeln und versucht, die Lücken in der Politik der Erinnerung, der Erinnerungskultur und die Wahrnehmung der Erinnerungsorte zu diskutieren.
Michalis Goudis: In Ihrem Buch "Denkmäler der Vergessenheit" argumentieren Sie, dass sich, obwohl die Erinnerung an den Krieg in Griechenland oft diskutiert wird, keine ernsthafte Reflexion über die Politik der Erinnerung und den Umgang mit der Vergangenheit entwickelt hat. Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Wurde der griechische Fall durch den anschließenden Bürgerkrieg geprägt?
Anna Maria Droumpouki: Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Militärdiktatur in Griechenland (1967-1974), war die Erinnerung an die Jahre der Besatzung von politischen Interessen bestimmt, und zwar auf zwei Ebenen. Die Gewinner des Bürgerkriegs (1946-1949) prägten die offizielle und einzig legitime Version, wohingegen die Verlierer im Untergrund bzw. im Exil eine ebenso manichäistische historische Gegenkultur schufen. Erst nach dem Sturz der Militärdiktatur 1974 mit der Legalisierung der Kommunistischen Partei und 1982, als durch Gesetz auch linke Widerstandsgruppen als Nationaler Widerstand anerkannt wurden, bestand die Chance zu einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschichte. Die Wunden des Bürgerkriegs mit der Spaltung der Gesellschaft sind bis heute nicht ganz verheilt. Der Bürgerkrieg bestimmte rückwirkend die Erinnerung an die Okkupation. So bleibt die Repräsentation der Besatzung im griechischen Gedächtnis untrennbar verknüpft mit den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs. Dies prägt auch die Geschichtsfiktionen in der griechischen Literatur der zweiten und dritten, der jüngsten, Generation.
In den letzten Jahrzehnten verzeichneten die wissenschaftlichen Studien zur Geschichte Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs erhebliche Fortschritte. Die einschlägige Literatur hat sich vervielfacht und die akademischen Forschungseinrichtungen entwickeln sich qualitativ und quantitativ. Trotz – bzw., besser, wegen – ihres sprunghaften und zeitweise disproportionalen Anwachsens sind Teile der Forschung lückenhaft, fragmentarisch, und regionalisiert. Oft dominiert die mediale bzw. nicht-akademische Geschichtsdarstellung. Allerdings liegt das Schwergewicht nach wie vor zumeist auf hochpolitischen und kontroversen Themen wie Widerstand und Kollaboration, wohingegen die in der internationalen Forschung untersuchten Bereiche wie Alltag, Ökonomie, Arbeit und soziales Leben in Griechenland vorerst nur sekundäre Aufmerksamkeit erfahren. Griechenland ist in den meisten internationalen Studien zum Zweiten Weltkrieg völlig unterrepräsentiert und findet vor allem innerhalb der deutschen Forschungslandschaft kaum Beachtung.
In einem de facto ungleichen Verhältnis, das nach einer Invasion und einer Besatzung entsteht, wie hat sich Ihrer Meinung nach die deutsch-griechische Erinnerungskultur über die Jahre entwickelt, wie sie auch im Projekt "Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland" dokumentiert ist?
Die griechischen Regierungen der 50er und 60er Jahre hatten andere Prioritäten gesetzt. Das Aufblühen der griechisch-deutschen Beziehungen auf der Basis einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit hatte Vorrang. Vergessen und Verdrängen über die Verbrechen der deutschen Besatzungszeit in Griechenland waren in Deutschland auch ausgeprägt. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass diesen Verbrechen in der historischen, juristischen und politischen Aufarbeitung der NS-Diktatur bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist und sie deshalb auch kaum ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gedrungen sind. Dieses Erinnerungsdefizit ist vielmehr in den Nachkriegsbeziehungen BRD-Griechenland begründet, bei denen beide Seiten das Vergessen kultivierten. Oradour in Frankreich ist als Schreckensort ein Begriff, oder Lidice in der Tschechoslowakei. Aber Kalavryta, Distomo, Klissura nicht. Über Oradour kann man in fast allen deutschen Schulbüchern lesen, Distomo wird man vergeblich suchen.
Diese Missachtung ist der griechischen Öffentlichkeit bewusst – fast in jedem Zeitungsartikel über das Distomo-Urteil wurde darauf hingewiesen. Ein anderer Grund für diese „Erinnerungslücke“ sind die politische Entwicklungen nach dem Krieg, diese ließen nicht genug Raum für die Thematisierung der Nazi-Verbrechen in Griechenland. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges trafen sich Bonn und Athen im gleichen ideologischen Schützengraben; so gaben die Griechen etwa dem diplomatischen und ökonomischen Druck des großen Partners nach und überließen dessen Justiz die Verfolgung aller deutschen Kriegsverbrecher, was de facto deren Amnestierung gleichkam.
Ein notwendiges Korrektiv gegen das Vergessen ist die Aufarbeitung der Besatzungszeit, und das wurde von beiden Ländern nicht ausreichend betrieben. Einerseits wurde die Öffentlichkeit in Deutschland kaum informiert, andererseits wurde in Griechenland weder an Schulen noch an Universitäten die Zeit der Besatzung Gegenstand der Lehre. Das deutsch-griechische Kooperationsprojekt „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ setzt bei dieser Lücke an. Ziel ist es, die Erinnerungen griechischer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der deutschen Besatzung während des Nationalsozialismus zu bewahren. Bezogen auf die deutsche Erinnerungskultur will das Projekt dazu beitragen, die immer noch aktuelle gesellschaftliche Debatte über die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht aufrechtzuerhalten. Das ist meines Erachtens nach der wichtigste Vorteil dieser Art der Zusammenarbeit.
Sie haben sich sorgfältig mit den Gedenkorten beschäftigt, die über ganz Griechenland verstreut sind - die sogenannte "Erinnerung der Stadt" - und zusätzlich gibt es auch noch die Märtyrerstädte und -dörfer. Wie können diese Mosaike ein kollektives Gedächtnis formen? Was ist die Rolle der deutschen Seite in diesem Prozess?
Erinnerungsorte lassen sichtbar werden, dass Geschichte nicht nur das ist, was irgendwann geschah, sondern auch das, was weiterhin geschieht. Während historische Fragestellungen von Diskursen der Gegenwart neu bestimmt und interpretiert werden und sich dadurch auch der Blick auf die Vergangenheit ändert, bleibt der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis weiterhin als ein Ereignis von gesonderter historischer Bedeutung haften, das kontinuierlich neue Identitäten entwirft. Gedenkstätten ermöglichen das kontinuierliche Hinterfragen von historischen Ereignissen und folglich auch eine neue Bewertung der Einschreibung von Geschichte in das kollektive Gedächtnis. Sie lassen die Vergangenheit in der Gegenwart und durch die Gegenwart entstehen. Die Anerkennung und kontinuierliche Pflege solcher Erinnerungsorte stellt daher gerade heute ein besonderes historisches Anliegen dar, weil sie der historischen Erzählung eine greifbare, materielle Dimension verleiht.
In Griechenland wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit und der Besatzungszeit nicht ausreichend betrieben, da den Erinnerungsorten in Griechenland auffällig wenig Bedeutung beigemessen wird. So musste z.B. das ehemalige SD-Hauptquartier in der Merlinstraße im Athener Zentrum einem Kosmetik-Einkaufszentrum weichen. Es gibt nach wie vor nur wenige wissenschaftliche Studien zu den deutschen KZs in Griechenland, selbst statistische Daten existieren kaum. Der Forschung stehen fast nur Memoirenliteratur sowie oral und public history zur Verfügung. Von den mutmaßlich 36 (und vorerst nicht vollständig und genau lokalisierbaren) von den Deutschen angelegten KZs, zählen das KZ Chaidari und das KZ „Pavlos Melas“ zu den Schlimmsten. Das zweite große KZ in Griechenland, das „Pavlos Melas“ in Stavroupoli bei Saloniki, ursprünglich ein Militärlager, ist als historischer Ort nicht bekannt. Von den Gebäuden, in denen 1941 bis 1944 Widerstandskämpfer inhaftiert waren, stehen jedoch nur noch Ruinen. Im Konzentrationslager „Pavlos Melas“ waren in diesem Zeitraum tausende Personen interniert, die von der Wehrmacht und anderen deutschen Behörden im Zuge von Säuberungsoperationen und Überfällen auf Dörfer und Städte festgenommen worden waren.
Der Mangel an Primärquellen erschwert die Beschäftigung mit dem anderen, berüchtigtsten Lager in Athen während der Besatzungszeit, dem KZ Chaidari. Erst seit 1982 finden dort Gedenkveranstaltungen statt, doch nur ein kleiner Teil des Geländes (Block 15) wurde 1984 als Kulturerbe anerkannt. Auch heute kann man vom Lager nur Block 15 besuchen. Dieser Block und eine aus Stacheldraht aufblühende Mohnblume sind zum Symbol von Chaidari geworden. Charakteristisch für den paradoxen Umgang mit dem Lager ist die einerseits symbolische Aufwertung des Ortes als Gedenkstätte, andererseits die Verwahrlosung eben jener und die andauernde militärische Nutzung des Lagers.
Die Erinnerung ist auch mit einer Reihe von praktischen Fragen verbunden, wie z.B. der Wiedergutmachung. Ihr neuestes Buch hat den Titel "Eine endlose Verhandlung" und untersucht die deutschen Reparationszahlungen an die griechischen Juden. Inwieweit wird Ihrer Forschung zufolge die Erinnerung bei einem Thema wie der Wiedergutmachung instrumentalisiert?
Die deutsche Okkupation ist das größtes Trauma in der neueren griechischen Geschichte. Die deutsche Besatzung in Griechenland von April 1941 bis Oktober 1944 forderte mehr Menschenopfer als in allen anderen nicht-slawischen Ländern. Das Land wurde zum Schauplatz von Vergeltungsmaßnahmen, unbegrenzter Gewalt und systematischer Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs gibt es engagierte Schriften, z.B. von Hagen Fleischer, durch die verdeutlich wird, dass die Frage der Entschädigung nicht zwangsläufig erledigt sein müsste. Im Vergleich zu den Betroffenen in anderen Ländern sind die Juden Griechenlands in der Nachkriegszeit mit Abstand am schlechtesten entschädigt worden.
Die Diskussion um die griechischen Forderungen nach Entschädigung und Wiedergutmachung aufgrund der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ist immer kontrovers geführt worden und hat an Aktualität nichts verloren. In den letzten Jahren ist vor allem in griechischen, aber auch in deutschen Medien wieder viel darübergeschrieben und diskutiert worden. Die traumatisierten Erinnerungen der Besatzungszeit erwachen in Zeiten von Krisen, Vorurteile und Ressentiments gedeihen am besten in Krisenzeiten auf. Und die anhaltende Eurokrise, die griechische Schuldenmisere, die ganzen Diskussion um Grexit und milliardenschwere Rettungspakete, all das hat dem Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland schwere Wunden zugefügt. Manche Beobachter meinen, die Beziehungen der beiden Länder sind derzeit sogar schlechter als nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Griechen machen den Vergleich zwischen heute und damals, und behaupten, dass Griechenland eine zweite deutsche Okkupation seit 2009 erlebt. Natürlich sind diese Argumente hoch problematisch.
Dr. Stratos Dordanas
Öffentliche Geschichte – Dr. Stratos Dordanas: „Die Kriege der Erinnerung in der öffentlichen Geschichte haben immer Gewinner und Verlierer...“
Öffentliche Geschichte (Public History) wird in der Regel als Geschichte außerhalb des Klassenzimmers definiert, kann also eine Reihe von Wegen einschließen, auf denen Geschichte von der breiten Öffentlichkeit konsumiert wird, einschließlich der Medien, Kunst und Kultur, aber auch Aktivitäten wie Führungen usw. In einem Gespräch mit dem prominenten deutsch-griechischen Historiker Dr. Hagen Fleischer vor einem Jahrzehnt hatte er mir gesagt: "Öffentliche Geschichte ist alles um uns herum, was danach strebt, etwas über die Vergangenheit zu erzählen".
Für die Wahrnehmung von Ereignissen wie der deutschen Invasion und Besatzung ist die Öffentliche Geschichte also vielleicht noch entscheidender als der traditionelle akademische Bereich. Der Universitätsprofessor und Historiker Dr. Stratos Dordanas erforscht seit Jahrzehnten die deutsch-griechischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, die politische, diplomatische und Sozialgeschichte sowie die Kriegs- (Erster und Zweiter Weltkrieg) und Bürgerkriegsgeschichte in Griechenland. Wie hat sich die Wahrnehmung der deutschen Invasion und Besatzung in den letzten Jahrzehnten entwickelt und welche Rolle spielt dabei die Öffentliche Geschichte?
Michalis Goudis: Jahrelang herrschte die Auffassung, dass die Moderne Geschichte (die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg) eigentlich Politik ist, d.h. eine Befassung damit im Bildungssystem sollte lieber vermieden werden. Haben Sie in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung in dieser Wahrnehmung betrachtet? Sind die Griechen bereit sich mit der Modernen Geschichte zu konfrontieren?
Stratos Dordanas: Die griechische Nachkriegsgeschichte beginnt nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern mit dem Ende des Bürgerkriegs (1949). In den letzten Jahrzehnten rufen die Ereignisse der Okkupationperiode (1941-44) und des Bürgerkriegs (1946-49) nicht mehr die gleichen Leidenschaften hervor wie in der Vergangenheit, und in dieser Hinsicht hat das moderne Griechenland in gewisser Weise seiner Vergangenheit akzeptiert.
Wie haben sich die Deutsche Invasion und die Besatzung Ihrer Meinung und Erfahrung nach in die griechische Public History eingeschrieben? Haben die Kriege der Erinnerung einen Sieger?
Ein großer Teil der griechischen Public History beschreibt Deutschland bis heute in Begriffen, die sich auf die Zeit der Besatzung beziehen. Die deutsche Seite hat das Gleiche für Griechenland während der Zeit der Griechenlandkrise getan. Die Kriege der Erinnerung in der öffentlichen Geschichte haben immer Gewinner und Verlierer...
Da Public History lebendig ist, gibt es Ihrer Meinung nach noch offene Kapitel im Fall der deutschen Besatzung und der Reparationen? Hat die Deutsch-Griechische Erinnerungskultur genügend Schwung?
Die deutsche Besatzung Griechenlands beeinflusst die bilateralen Beziehungen bis heute, denn das Trauma des nicht beendeten „Krieges“ ist immer noch präsent. Und es wird nicht enden, solange die Opfer beider Seiten ungerecht verteilt bleiben.