Weltflüchtlingstag 2022: Flucht über die Ägäis - history repeating

Kommentar

100 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Der diesjährige Weltflüchtlingstag markiert damit – mal wieder – einen traurigen Rekord: noch nie zuvor waren es nach Angaben des UNHCR so viele Menschen wie dieses Jahr. Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine hat dazu beigetragen.

Lesedauer: 7 Minuten
Teaser Bild Untertitel
Seit dem Krieg in der Ukraine stellt sich die Frage der Ungleichbehandlung von Geflüchteten je nach Herkunftsland.

Vor dem Krieg gegen die Ukraine war es um das Thema „Flucht“ leise geworden. Nur wenige Flüchtlinge erreichten überhaupt noch die EU und es schien als hätten sich die EU-Mitgliedsstaaten mit dem Status Quo arrangiert: Einerseits wurde jede Reform des seit Jahren diskutierten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems blockiert, andererseits hatten “EU-Außengrenzschutz” – auch mittels all der bekannten Rechtsverstöße und Misshandlungen an den Außengrenzen –  sowie die Auslagerung von Flüchtlingsschutz an Länder wie die Türkei dazu geführt, dass kaum jemand mehr auf der Suche nach Schutz Europa erreichte.

Nach dem 23. Februar sind innerhalb weniger Tage mehr Menschen in die Europäische Union geflohen, als in 2015 und 2016 zusammen. Damit war das Thema Flucht wieder ganz oben auf der Tagesordnung der Sitzungen in Brüssel und allen EU-Hauptstädten. Bislang wird den mittlerweile rund 7 Millionen aus der Ukraine Geflohenen noch mit Solidarität begegnet, wie lange diese noch trägt bleibt abzusehen. Bereits jetzt stellt sich aber die Frage der Ungleichbehandlung von Geflüchteten je nach Herkunftsland.

In Griechenland fällt dieser Unterschied besonders auf: Nicht nur in der Rhetorik offizieller Regierungsvertreter*innen, wie beispielsweise des griechischen Migrationsministers Notis Mitarakis der Ukrainer*innen als „echte Flüchtlinge“ im Gegensatz zu den ansonsten „illegalen Migranten“ bezeichnet.  Auch dadurch, dass die etwas mehr als 21.000 Ukrainer*innen, die Griechenland aufgenommen hat, einen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Gesundheitsversorgung sowie Wohnraum und finanzielle Unterstützung erhalten, was allen anderen Geflüchteten staatlicherseits verwehrt wird. In einem gemeinsamen Papier des Griechischen Flüchtlingsrates mit den Organisationen Oxfam und Save the Children wird die Schlechterstellung dieser Menschen kritisiert. Dabei geht es nicht nur um den Zugang zu wichtigen Leistungen sondern indes um den Zugang zu Schutz überhaupt, den dieser wird in Griechenland im Grunde allen ankommenden systematisch verweigert.

Gewaltsame Rückführungen in die Türkei

Im jüngst veröffentlichten Bericht des UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte von Migrant*innen, Felipe González Morales, heißt es unter anderem, dass Pushbacks in Griechenland sowohl an den Land- als auch an den Seegrenzen zur de facto „general policy“, also quasi zum Standardverfahren geworden sind. Ferner drückt Morales seine Sorge über den Anstieg der Zahl der von dieser Politik Betroffenen aus: mindestens 17.000 Menschen seien allein in 2020-21 von gewaltsamen Rückführungen in die Türkei betroffen gewesen. Pushbacks seien die offizielle Strategie der griechischen Regierung im Umgang mit diesen Menschen. Tatsächlich macht die Regierung der konservativen Nea Dimokratia keinen Hehl aus der Zahl Schutzsuchender, die sie „erfolgreich“ daran hindern konnte, Griechenland zu erreichen. Gleichzeitig wird jeder Vorwurf, dies seien Rechtsbrüche an den Außengrenzen abgeräumt. Ein offensichtlicher Widerspruch, der bisher jedoch keine negative Konsequenzen für die hiesige Regierung bedeutet und damit auch zum funktionierenden Modus Operandi geworden ist.

Doch nicht nur auf der griechischen Seite der Ägäis steht es dieser Tage schlecht um den Flüchtlingsschutz. Blickt man in die Türkei dann wird deutlich, wie auch dort die Regierung Stimmung gegen Flüchtlinge im Land macht. Seit Jahren ist die Türkei weltweit führend was die Zahl aufgenommener Flüchtlinge in Relation zur Größe des Landes betrifft. In dem Land mit den knapp 85 Millionen Einwohnern leben derzeit rund fünf Millionen Flüchtlinge, davon mehr als 3,6 Millionen Syrer*innen. Nun sollen nach jüngster Aussage des türkischen Präsidenten Erdogan eine Millionen Syrer*innen die Türkei verlassen, für sie wird derzeit ein Rückkehrprogramm nach Syrien aufgelegt. Zudem hat der Innenminister Suleyman Soylu jüngst verkündet, dass Syrer*innen innerhalb der Türkei umgesiedelt werden sollen, um eine vermeintlich zu hohe Dichte an Flüchtlingen in einzelnen Stadtteilen zu verhindern. Während die türkische Regierung bei Rückführungen von syrischen Flüchtlingen noch auf Freiwilligkeit setzt, werden afghanische Schutzsuchende  zwangsweise in das durch die Machtübernahme der Taliban erschütterte Afghanistan zurückgeschoben. Laut Aussage der türkischen Regierung ist die Zahl aus der Türkei Abgeschobener in diesem Jahr um 70% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen, die Hälfte der Betroffenen kamen aus Afghanistan – und das trotz der eklatant verschlechterten Menschenrechtslage im Land.

Die Türkei befindet sich in einer tiefen Wirtschafts- und Währungskrise, in der Bevölkerung macht sich zunehmend eine flüchtlingsfeindliche Stimmung breit und es ist offensichtlich, wie die Regierung nun versucht, vor den Wahlen im kommenden Jahr mit Maßnahmen gegen Flüchtlinge zu punkten. Hierin sind sich die Regierungen der beiden Länder trotz aller Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland gegenwärtig sehr ähnlich. Wer dieser Tage eine griechische oder türkische Tageszeitung aufschlägt merkt schnell: Die staatliche Rhetorik auf beiden Seiten der Ägäis steht angesichts innenpolitischer und wirtschaftlicher Krisen und im Lichte bevorstehender Wahlen auf Konfrontation -  Menschen auf der Flucht sind in dieser Gesamtgemengelage zu einem weiteren Zankapfel bzw. Mittel zur Demonstration von Macht und Souveränität geworden.

Not und Verzweiflung: Flucht über die Ägäis

Das ist leider nicht neu. Die inhumane Sicht auf wehrlose Schutzsuchende als Mittel zum Druck, sogar als Instrument hybrider Kriegsführung, kam anders als oft behauptet nicht erst im Zusammenhang mit der menschenverachtenden Politik des belarussischen Diktators Lukaschenka an der polnischen Grenze und der brutalen Reaktion der polnischen Regierung auf, sondern schon im Frühjahr 2020 am Grenzfluss Evros zwischen der Türkei und Griechenland. Es ist eine Schande wie Menschen zwischen diesen beiden Ländern behandelt werden, wie diejenigen, die in ihrer Not und Verzweiflung über die Ägäis fliehen als eine vermeintlichen Bedrohung gesehen werden, obwohl doch sie es sind, die Bedrohungen allerseits ausgesetzt sind, wenn sie ihr Leben in seeuntauglichen Booten riskieren.

Solche Szenen sind in der Geschichte dieser Region keineswegs neu . Vor ziemlich genau einem Jahrhundert flohen Menschen zu Tausenden über dieselben Wege über das Mittelmeer. Dieses Jahr jährt sich zum Hundertsten Mal das Ende des türkisch-griechischen Krieges und 2023 auch der Abschluss des Vertrags von Lausanne. Damit einher ging der sogenannte „Bevölkerungsaustausch“, der euphemistisch für die Vertreibung von rund 1,5 Millionen Griech*innen aus Kleinasien und Hundertausende  Muslime aus dem heutigen Griechenland steht. Gerade im Norden Griechenlands, wo damals viele Vertriebene angekommen sind, trifft man kaum jemanden, der nicht von Flucht und den damit einhergehenden Traumata aus der eigenen Familie berichten kann. Schätzungsweise vierzig Prozent aller Menschen in Griechenland haben ihr Wurzeln in Kleinasien.

Doch die historischen Spannungen und die Tatsache, dass die damals neu Ankommenden keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden, werden in Griechenland kaum öffentlich thematisiert. Dabei ist die Erinnerung an jene Zeit vielen durchaus präsent. So sehr, dass sie bei manchen zur Identifikation und damit auch zu Solidarität mit heute in Griechenland ankommenden Schutzsuchenden führt. Doch wieso nicht bei allen? Wieso sind „dieFlüchtlinge“ häufig doch „die anderen“, wieso wird Flucht nicht als universales Menschheitsschicksal gesehen, das im Laufe der Zeit aus unterschiedlichen Gründen unterschiedliche Menschen ereilen kann, vor dem aber – wie der Krieg gegen die Ukraine zuletzt demonstriert hat – niemand grundsätzlich gefeit sein kann?

Eine Veranstaltung mit dem Goethe Institut in Thessaloniki mit dem Historiker Andreas Kossert, Autor des Buches "Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ ging jüngst genau diesen Fragen auf den Grund. Moderiert wurde das Gespräch von der Historikerin und Archäologin Vasiliki Kartsiakli, Gründungsmitglied von „dot2dot“ die politisch-historische Bildungstouren durch Thessaloniki anbieten, bei denen sie unter anderem den Spuren der Flüchtlingen in der Stadt nachgehen. In dem Gespräch wurde schnell deutlich: Es gibt viele Anknüpfungspunkte, persönliche wie gesellschaftliche und in der historischen Rückschau liegt viel Potential zur Bewältigung der Herausforderungen der Gegenwart. Schaffen wir es das Gemeinsame zwischen Menschen auf der Flucht damals und heute zu sehen? Stellen wir uns der Menschheitsaufgabe, denjenigen die fliehen müssen, Schutz und ein neues Zuhause zu gewähren? Eigentlich sieht es unser Recht, die geltende Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 längst vor, dass wir das tun und der Weltflüchtlingstag ist abseits aller tagesaktuellen Nachrichten ein wichtiger Anlass, daran zu erinnern. Andreas Kossert bringt es auf den Punkt: „Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben“.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de