Mit über 30 Prozent hat sich der rechtslibertäre Kandidat Javier Milei landesweit überraschend als stärkste politische Kraft bei den Vorwahlen in Argentinien etabliert. Inmitten einer zunehmend krisenhaften Entwicklung im Land. Die konservativ-liberale Opposition bleibt mit 28 Prozent deutlich auf Abstand, während das aktuelle, peronistische Regierungsbündnis um Ex-Präsidentin Kirchner und ihren Kandidaten Sergio Massa mit gerade einmal 27 Prozent ein Debakel erleidet.
In der Hauptstadt begann der Wahltag, der 13. August, bei strahlendem Sonnenschein mit einer Reihe von Pannen und Verzögerungen in den Wahllokalen: Fast ein Drittel der erst wenige Wochen zuvor für die Stadtwahlen eingeführten elektronischen Wahlurnen versagten ihren Dienst. Selbst die konservative Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich hatte gut eine Viertelstunde lang mit ihrer Stimmabgabe zu kämpfen. Es bildeten sich zum Teil lange Schlangen in zahlreichen Wahllokalen und Unmut bei jenen, die ihre Wahlpflicht an dem Tag schnell erledigt haben wollten.
Am späteren Abend bewegte dann doch eine ganz andere Nachricht das Land: Mit knapp über 30 Prozent der Stimmen hat sich überraschend der erst vor wenigen Jahren in die Politik eingestiegene, rechtslibertäre Ökonom Javier Milei mit seiner Plattform „La Libertad Avanza“ (Die Freiheit schreitet voran) als stärkste politische Option durchgesetzt. Offenbar hatte niemand mit einem derartigen Ergebnis gerechnet. Auch in den letzten Erhebungen lagen die Umfrageinstitute deutlich daneben. Im Schnitt rund 10 Prozent unter dem tatsächlichen Ergebnis von Milei, und prognostizierten irrigerweise der konservativen PRO von Ex-Präsident Macri den ersten und dem aktuellen Regierungslager den zweiten Platz.
Erschöpfung und lange angestauter Frust in einer multiplen Krisensituation
Das mag dem aus anderen Ländern bekannten Umstand geschuldet sein, dass Abstimmungsintentionen für derartige Kandidat*innen nicht immer offen bekundet werden. In diesem Fall erzielte Milei vor allem in den Provinzen erhebliche Stimmenzuwächse – in immerhin 16 von 23 Provinzen, mal mehr, mal weniger deutlich, in der nördlichen Provinz Salta sogar mit 50 Prozent. Die Provinzen sind geographisch und soziologisch weiterhin schwieriges Terrain für die Umfrageinstitute aus den besseren Gegenden der Hauptstadt.
Auch in den Vorstädten des Großraums Buenos Aires, historisch das zentrale, stets mobilisierbare Wähler*innenreservoir der Peronisten, konnte Milei mit seiner aggressiven und omnipräsenten Überbeschallung gegen die „Korruption“ und die „politische Kaste“ punkten. Die Erschöpfung und der lange angestaute Frust mit der multiplen und eskalierenden Krisensituation seit der Macri-Regierung, spätestens aber mit der Pandemie und der daraus folgenden wirtschaftlichen Verschlechterung und galoppierenden Inflation, bildeten den fruchtbaren Boden für seinen Diskurs.
Zwar gelang es der seit 2019 amtierenden progressiven Regierung um Präsident Fernandez und seiner Vize Cristina Fernandez, die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft mit massiven Interventionen abzufedern. Doch den Anstieg der Armuts- und Inflationsraten auf über 43 Prozent respektive 110 Prozent konnte diese Regierung nicht bremsen.
Milei inszenierte sich als Pandemie-Leugner und Kritiker einer korrupten „politischen Kaste“
Im August 2023 bewegen sich die unteren Einkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze auf einem Niveau von monatlich 160.000 Peso (nach inoffiziellem Kurs ca. 266 Euro). Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 112.000 Peso (186 Euro). Währenddessen kostet ein eher frugaler und fleischloser Wocheneinkauf für eine vierköpfige Familie je nach Bezirk rund 20-40.000 Peso (ca. 33-66 Euro nach inoffiziellem Kurs). Dazu kommen Ausgaben für Mieten, die kaum noch in Landeswährung abgeschlossen werden können, und steigende Tarife für Strom, Gas, Wasser, Telefon und Internet. Allein seit Mai 2023 sind die Kosten für einen Smartphone-Tarif für vier Personen beispielsweise von 18.000 auf 26.000 Pesos gestiegen. Im Juni lag die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie bei 217.000 Peso (361 Euro).
Mit Sozialtarifen nach Wohn- und Einkommenslage und kontrollierten Preisen für eine Reihe von Produkten für den alltäglichen Bedarf, versucht die Regierung auch weiterhin, die schlimmsten Folgen abzufedern, aber die Preisanstiege an der gesamten Ausgabenfront heben diese Maßnahmen sofort wieder auf. Zwar konnte der argentinische Arbeitsmarkt bis zuletzt eine der niedrigsten Arbeitslosenraten seit Jahrzehnten vorweisen, doch reicht für eine Mehrheit ein Job nicht zum Überleben und der Arbeitstag inklusive der ermüdenden Arbeitswege nicht für zwei Beschäftigungen.
In diesen kräfte- und nervenzehrenden Alltag drängte sich seit Beginn der Pandemie Javier Milei mit seiner sorgsam disruptiv inszenierten Rhetorik, Tonalität und Erscheinung – zunächst als Pandemie-Leugner und Kritiker staatlicher Schutzmaßnahmen im Namen einer absoluten, individuellen Freiheit, um dann die wirtschaftlichen und finanziellen Engpässe und Nöte zahlreicher Menschen monokausal auf einen vermeintlich überbordenden Nanny-Staat, extreme Steuerlast und die „Selbstbereicherung der politischen Kaste“ zurückzuführen.
Vom Marktradikalen zum vermeintlichen Underdog rechts außen
Während der Ökonom und ehemalige Berater namhafter Unternehmen zu Beginn seiner politischen Laufbahn im Jahr 2019 noch als Libertärer absolut marktradikal, aber gesellschaftspolitisch zumindest neutral auftrat, umgab er sich bald mit einer Reihe von eher randständigen politischen Begleiter*innen. Darunter Victoria Villaruel, eine ultrakonservative, kaum verhohlenene Apologetin der Militärdiktatur, mit der zusammen er die sogenannte Carta de Madrid unterzeichnete – eine Initiative der rechtsextremen spanischen VOX-Partei für ein Netzwerk rechtskonservativer und –extremer Kräfte in Lateinamerika und der iberischen Halbinsel.
Mit immer radikaleren und schriller formulierten Vorschlägen positionierte sich Milei analog zu „erfolgreichen“ Kandidat*innen in anderen Ländern als vermeintlicher Underdog rechts außerhalb des politischen Spektrums. Forderungen nach der Zerschlagung der Zentralbank, der Abschaffung der Landeswährung Peso und einer vollumfänglichen Privatisierung sämtlicher Lebensbereiche verschafften ihm zunehmende Resonanz in konventionellen Medien. Hinzu kamen gesellschaftspolitisch immer mehr nach rechts driftenden Aussagen, zum Beispiel in Abtreibungsfragen und Minderheitenrechten. Den Begriff sozialer Gerechtigkeit diffamierte er als abwegig, er verhöhnte das Konzept sozialer und wirtschaftlicher Rechte und bezeichnete den Klimawandel „als eine Lüge des Sozialismus“.
Radikale Forderungen zur totalen Liberalisierung des Waffenrechts richtet er an ein konservatives Publikum auf dem Land und in den Vorstädten. Er fordert Sicherheit als einzige zentrale staatliche Hoheitsaufgabe und eine harte Hand im Kampf gegen Kriminalität und Proteste, gerichtet an die Zielgruppe der ehemaligen und aktiven Militärs und Polizist*innen. Mit einer gezielten Strategie und Angriffen auf den argentinischen Papst Franziskus versucht er zudem den Brückenschlag zu den Evangelikalen.
Mit massiven digitalen Kampagnen in sozialen Medien, nach exakt demselben Muster rechtsextremer Kräfte in anderen Ländern des Kontinents und Europas, baute er seine Reichweiten kontinuierlich, über die ursprünglich eher jüngeren Zielgruppen in städtischen Räumen, bis in alle Altersgruppen in den Provinzen und die Vorstädte von Buenos Aires aus. Nicht nur junge Männer und Frauen, auch Männer und Frauen in anderen Altersgruppen haben am Sonntag anscheinend für ihn gestimmt. In den letzten Wochen zeigte Mileis Wahlkampf gerade im Großraum Buenos Aires eine überraschend massive Präsenz – was im Verbund mit den bekanntermaßen kostenintensiven Digitalkampagnen nicht zuletzt auf eine außerordentlich üppige Finanzierung schließen lässt, auch wenn bislang die Quellen noch unklar sind.
Schrilles Geschrei aber kein regierungsfähiges Personal
Das Ergebnis der Vorwahlen vom Sonntag hat diese Strategie bestätigt, auch wenn er und sein Lager stellenweise über die Reichweite des eigenen Erfolges überrascht zu sein schienen. Seine Rede am Abend schwankte zwischen einem Wiederaufguss der üblichen Suaden, durchsetzt mit schrillem Geschrei und dem Versuch, dazwischen Töne regierungsfähiger Seriösität durchklingen zu lassen. Dieses Hin und Her offenbarte zugleich das Dilemma dieser Kandidatur in den nächsten Wochen: wenn Milei diesen Vorsprung halten will und tatsächlich ernsthaft ein Interesse an der Übernahme von Regierungsverantwortung hat, wird er versuchen müssen, andere, gemäßigte Teile der Wähler*innenschaft zu gewinnen, ohne sein bisheriges Klientel zu verlieren.
Zu seinen – vorsichtig formuliert – größeren Herausforderungen zählt darüber hinaus der bisherige, eklatante Mangel an Funktionseliten in seinem Umfeld oder schlicht regierungsfähigem Personal der zweiten und dritten Reihe. Seine aktuellen Kandidat*innen sind, zumindest soweit sicht- und wahrnehmbar, eher geeignet für die bisherige Wahlkampfstrategie und Kampagnen-Aufmerksamkeitsökonomie. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den Kandidaturen Bolsonaros und auch Trumps, die rechtzeitig professionelles Personal umgab.
Ein weiteres, noch existentielleres Dilemma zeigte sich gleich am Montag nach der Wahl am Devisenmarkt und den Börsen. Der Peso geriet angesichts des unerwarteten Ergebnisses und der nun vollkommen unklaren Perspektiven über mögliche künftige Regierungskonstellationen nach dem inoffiziellen Wechselkurs sofort massiv unter Druck und zwang die Regierung zu einer Abwertung des offiziellen Kurses um 22 Prozent. Selbst wenn ein Teil dieser Abwertung bereits in den vergangenen Wochen im Prinzip überfällig war und wegen der Vorwahlen hinausgezögert wurde, zeigte sich das Unbehagen am Markt über die Unkalkulierbarkeit der Entwicklungen der nächsten Monate.
Die aktuelle Regierung muß jetzt bis zur Amtsübergabe noch einiges an unangenehmen Entscheidungen in Kürzungen und Abwertungen und den daraus folgenden Inflationsschüben entscheiden. Immerhin äußerte sich zumindest der IWF mit der Abwertung zufrieden und versprach eine baldige Entscheidung über weitere Tranchen an frischen Dollar zur Linderung der Devisenknappheit.
Die Konservativen scheiterten mit ihrer Annäherung an den extrem Rechten
Auch die eigentlich als Favorit geltende konservative Opposition der PRO-Partei mit ihrer nun bestätigten Kandidatin Patricia Bullrich hat nicht wirklich einen Grund zum Feiern. Bullrich, eine langjährige Politikerin mit einer schillernd-wechselhaften Vergangenheit von einer aktiven Mitgliedschaft in der linksperonistischen Montenero-Guerilla in den 70er Jahren, über verschiedene Ämter unter UCR-Regierungen bis hin zur Verantwortung als Sicherheitsministerin unter der Macri-Regierung 2015-2019, hat mit ihrem persönlichen Ergebnis von 16 Prozent nur knapp die Hälfte der Stimmen von Milei erzielt.
Das stellt ihre bisherige Strategie in Frage, mit radikalen Konzepten einer wirtschaftlichen Schocktherapie aus sofortiger Wechselkursfreigabe, umfassenden Haushaltskürzungen und Entlassungen sowie Liberalisierungen des Arbeitsrechts in Kombination mit harter Repression gegen soziale Proteste, eine Annäherung an Milei zu versuchen oder in dessen Wähler*innenpotential zu wildern. Nach dem vergangenen Sonntag steht die durchaus reale Gefahr im Raum, dass im Zweifel das authentischere, radikale Original gewählt wird. Zweifelsohne sind Bullrichs Personalressourcen zwar deutlich regierungsfähiger als die Mileis, doch auch bei einem Wahlsieg von Bullrich stünden dem Land und weiten Teilen der Zivilgesellschaft unruhige bis unschöne Zeiten bevor.
Ob das PRO-Lager nun weiter Macris und Bullrichs Strategie der Annäherung an den extremen Kandidaten verfolgt, oder eher auf Abgrenzung setzt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen – eine Strategie der Annäherung zur Einbindung und Einhegung eines radikalen Politikphänomens wie Milei kann auch krachend scheitern und einer Konsolidierung radikaler Kräfte Vorschub leisten. Noch ist das Spektrum um Milei eher diffus, doch es ist durchaus möglich, dass sich radikale Rechte und Konservative recht bald offen und organisiert um seine Kandidatur gruppieren und damit eine dauerhafte, langfristige politische Kraft etablieren, die die grundsätzlich stabile argentinische Demokratie im vierzigsten Jahr ihres Bestehens vor noch größere und existentielle Herausforderungen stellt.
Schlechte Aussichten für den Peronismus
Für das Regierungslager sieht das Panorama nach diesem Sonntag düster aus. In den Hochburgen des Peronismus in den Vorstädten von Buenos Aires und in vielen weiteren Provinzen sind die sicher geglaubten Wähler*innen nicht mehr ohne Weiteres auf Knopfdruck mobilisierbar. Die territoriale Verankerung und Kontrolle hat sich in den letzten Jahren verringert und Milei hat auch dort unerwartet gute Ergebnisse erzielt. Die Regierung hat kaum noch finanzielle Spielräume, bis zum Wahltag am 22. Oktober deutlich wahrnehmbare Verbesserungen im Lebensalltag auf den Weg zu bringen. Sie kann höchstens noch allzu dramatische Verschlechterungen hinauszögern.
Und doch ist die Ausgangslage auch für das Regierungslager nicht vollkommen hoffnungslos: Tatsächlich hatte die scheidende Vizepräsidentin Cristina Kirchner schon vor ein paar Monaten in einem Interview die jetzige Aufteilung in drei politische Lager für möglich gehalten und das Regierungslager angefeuert, die Stichwahl zu erreichen, um überhaupt eine Chance zu haben. Es gehe im ersten Wahlgang daher vor allem darum, ein dafür notwendiges Minimum an Wähler*innen zu mobilisieren, mit einer klaren und positiven Botschaft. Das dürfte tatsächlich jetzt die Mammutaufgabe für das Regierungslager sein. Spät, aber doch noch am Wahlabend formulierte der Präsidentschaftskandidat des Regierungslagers und jetzige Wirtschaftsminister Massa denn erstmalig in aller Deutlichkeit an das eigene Wähler*innenpotential, was jetzt für die Argentinier*innen auf dem Spiel stehe: Eine unbegrenzte Öffnung der Importe versus eine Verteidigung der nationalen Industrie, gebührenpflichtige Privat-Unis versus freie und kostenlose Universitäten, eine Rückkehr zur privaten Altersvorsorge oder weiterhin kostenlose Medikamente und Rentenerhöhungen, ein Arbeitsmarkt mit weniger oder mehr Rechten. Ob diese Zuspitzung das notwendige Minimum an Stimmen für einen Einzug des Peronismus in die Stichwahl mobilisieren kann, wird auch davon abhängen, ob sich das Regierungslager tatsächlich einig und zugleich offen für ein breiteres Bündnis in die Gesellschaft hinein zeigen kann. Dafür standen die Aussichten bislang nicht sonderlich gut.
Das Eindringen radikaler Kräfte scheint unaufhaltbar
Was wohl in allen Szenarien künftiger Regierungskonstellationen auf der Strecke bleiben wird, ist eine kohärente Strategie und ein Einstieg in eine sozial-ökologische Transformation. Zu kritisch bleibt die Situation um die Rückzahlung der Kredite und die Reduzierung des Haushaltsdefizits, um auf die Devisen aus Agrar-, Bergbau- sowie Gas- und Erdölproduktion und -exporten verzichten zu können. Eher steht zu erwarten, dass jede mögliche Regierung, ob nun in privatisierter Träger- und Eigentümerschaft oder unter stärkerer staatlicher Intervention, diese Sektoren massiv und ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen ausbauen und fördern wird. Zwei der drei zukünftigen Regierungsoptionen haben auch schon angekündigt, mögliche Proteste in diesem und anderen Zusammenhängen, wie zuletzt in Jujuy gegen die Lithium-Bergbau-Vorhaben und Verfassungsänderung, mit aller Härte niederzuschlagen. So bleibt nur die Hoffnung, dass sich die rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen Argentiniens resilient zeigen gegen die Auswirkungen eines unaufhaltbaren Eindringens radikaler Kräfte auf die politische Bühne, die sich schon jetzt ohne eine Beteiligung an Regierungsverantwortung zeigen.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de