EU-Beitritt Ukraine: Keine weiteren 30 Jahre

Resolutes Handeln gehörte nie zu den Stärken der Europäischen Union. Demokratien haben andere Vorzüge als kurze Entscheidungs­wege. Aber reicht das auch in Kriegs­zeiten, wie jetzt in der Ukraine, in denen jedes Zögern Menschenleben kostet? 

Wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine – es muss Anfang März 2022 gewesen sein – habe ich einen etwas sentimentalen Text über Europa geschrieben. Überwältigt von einer Flut von altertümlichen SMS, E-Mails und sonstigen Meldungen, die ich kaum alle beantworten konnte, war ich meinen Freunden und Bekannten in verschiedenen europäischen Ländern dankbar. Alle haben ihre Hilfe angeboten, mir und meiner Familie Zuflucht in Aussicht gestellt – in Deutschland, Frankreich, Österreich, Norwegen, Polen oder sonst wo. Ich habe mir eine imaginäre Reise quer durch Europa vorgestellt, durch Länder, die ich zumindest einmal besucht habe, von Nord nach Süd. Wohlgemerkt, es waren nicht alle Länder, die meine Füße jemals betreten haben. Außerdem waren auf dieser zufällig gewählten Route Mitgliedstaaten und Nicht-Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Jenes politischen Gebildes, das allgemein als Erfolg europäischer Integration und in zahlreichen ärmeren Ländern der Welt als Kontinent des Wohlstands gesehen, von diversen Rechtspopulisten als Zerstörer des heiligen Nationalstaates verteufelt wird. Jener Gemeinschaft, die bisher nur ein Land, verführt von seinem Inselstolz, freiwillig verlassen hat; jener Gemeinschaft, in der nur ein Land, eingehüllt in die Weiten der Pannonischen Ebene, das die ihr zugrunde liegenden Werte regelmäßig untergräbt und sie wohl von innen zerstören will – den Radikalen aller möglichen Couleurs in allen europäischen Ländern und dem Diktator in Moskau zur Freude.

Doch meine imaginäre Reise, die ich in einer anderen Zeit und unter anderen Umständen durchaus hätte unternehmen können – womöglich werde ich dies nach dem Krieg tatsächlich tun –, diente einem anderen Zweck. Nämlich den Lesern und Leserinnen klarzumachen, warum ich mein Heimatland nicht verlasse. Denn in diesen ersten Tagen nach der Invasion dachte ich – wie viele Ukrainer im Gegensatz zu westlichen Politikern und Experten – nicht daran, aufzugeben. Wir dachten daran, dass wir für unsere Freiheit kämpfen müssen. In den europäischen Hauptstädten hatte man sich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich mit der Ukraine solidarisiert. Mit Worten, aber noch nicht mit Waffen.

Die osteuropäischen EU-Staaten haben aus ihren Erfahrungen heraus anders agiert 

Seitdem habe ich viele Texte geschrieben. Mal überwältigt von einer unglaublichen Hilfsbereitschaft einfacher Menschen in Polen, Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern. Mal verzweifelt über das Versagen der deutschen Politik und die Weigerung der Bundesregierung, eine Lieferung von Sanitätspanzern zu bewilligen. Mal begeistert über freiwillige Helfer in Europa, die uns mit allen möglichen Hilfsgütern versorgten. Mal verärgert über die europäischen Pazifisten, die das Böse nicht beim Namen nennen wollten und zwischen dem Angreifer und dem Opfer nicht wirklich unterscheiden konnten. Oder über europäische Politiker, die immer neue – und sinnlose – Gespräche mit Putin suchten und mit einer resoluten militärischen Unterstützung zögerten, um den russischen Diktator nicht zu provozieren. Damit die Lage nicht eskaliert, wie es offiziell im politischen Slang hieß. Als wären das ständige Bombardement der ukrainischen Städte und die Morde an Zivilisten keine Eskalation gewesen. Die osteuropäischen EU-Staaten, die in ihrer Geschichte den Horror des Stalinismus und die kaum vorstell­bare Brutalität der sowjetischen Okkupation erlebt haben, agierten ganz anders. 

30 lange Jahre bis zu dem Entschluss, die Beitrittsverhandlungen aufzunehmen 

Schnelle Entscheidungen und resolutes Handeln gehörten nie zu den Stärken der Europäischen Union. Eine Gemeinschaft, die auf Konsens ihrer Mitglieder setzt, kann sich nur langsam bewegen. Demokratien haben andere Stärken als kurze Entscheidungswege. Das Bemühen um politischen und gesellschaftlichen Kompromiss hat sie stabiler gemacht, als dies auf den ersten Blick scheinen mag, wenn auch nicht immun gegen Manipulation und Hass in der Welt der Social Media. Aber reicht das auch in Kriegszeiten, in denen jede verzögerte Entscheidung Menschenleben kostet? Die Kluft zwischen einem Land im Krieg und einem Land im Frieden scheint fast unüberwindbar zu sein, wie ich im Oktober 2022 während der Frankfurter Buchmesse bei einer meiner äußerst selten gewordenen Auslandsreisen feststellen musste. Da wird die Gesellschaft von ganz anderen Sorgen getrieben.

Böll.Thema: Europa – ein Versprechen

Dieser Artikel ist Teil des Magazins Böll.Thema. Mit dieser Ausgabe informieren wir über die Geschichte und Zukunft der EU. 

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Seit die Ukraine die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als strategisches Ziel definiert hat und dann grünes Licht für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen gegeben wurde, sind knapp 30 Jahre vergangen. Wäre es passiert, wenn das Land nicht überfallen worden wäre? Wohl kaum. Bei aller Freude hinterlässt dies einen bitteren Beigeschmack. Warum müssen so viele Menschen sterben, damit man sich zu einer zukunftsweisenden Entscheidung durchringt (und selbst das nicht ohne Widerstände)? Offenbar sind Visionäre im Facebook-Zeitalter rar geworden.

Freilich war der Weg der Ukraine in diesen 30 Jahren nicht geradlinig. Zweimal hat man versucht, dem Land ein autokratisches Modell aufzuzwingen, und beide Male hat die Gesellschaft darauf mit einem Aufstand reagiert. Bei der Orangen Revolution von 2004 und dem Euromaidan von 2013-2014 haben wir vielleicht nicht das Beste erreicht, aber das Schlimmste verhindert. Bisweilen erinnerte der Dialog zwischen der Ukraine und der Europäischen Union an ein Gespräch zwischen einem Autopiloten und einem Anrufbeantworter, wie einmal ein ukrainischer Politikwissenschaftler sarkastisch bemerkte. Die Regierung in Kyjiw bestand auf einer expliziten Formulierung der Beitrittsperspektive in einem offiziellen Dokument, wenn auch ohne rechtliche oder zeitliche Bindungen, und machte dabei nicht allzu viele Anstrengungen, notwendige Reformen durchzusetzen. Brüssel wies vorschriftsmäßig darauf hin, dass jedes Land das Recht hat, der EU beizutreten, wenn es die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Es sah nicht wirklich danach aus, dass der Wille auf beiden Seiten vorhanden war,

Die neue «Generation Unabhängigkeit» schaut nicht nostalgisch zurück 

Doch in diesen 30 Jahren ist eine Generation herangewachsen, die nicht mehr in der Sowjetunion geboren wurde. Zwar hätte man dazu auch diejenigen Jungen und Mädchen zählen können, die in den letzten Lebensjahren der UdSSR geboren worden sind und diese nicht mehr bewusst wahrgenommen haben. Doch in einer Umfrage im August 2021 nannte man die Jahrgänge ab 1991 symbolisch: «Generation Unabhängigkeit». Für die meisten dieser jungen Männer und Frauen war die Sowjetunion tatsächlich völlig fremd. Es ist eine Generation, die – im Gegensatz zu ihren Altersgenossen und der Gesellschaft in Russland – keine Nostalgie im Zusammenhang mit dem Kommunismus und der sowjetisch-imperialen Vergangenheit verspürt. Wie das Umfrageinstitut «Rating» feststellte, bedauerten nur 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen den Zerfall der UdSSR, bei den 25- bis 30-Jährigen waren es gerade mal 15 Prozent. Noch viel wichtiger war, dass bereits im Jahr 2013 die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine nicht mehr nostalgisch auf die UdSSR zurückblickte, und seitdem ist die Anzahl der Anhänger des kommunistischen Imperiums kontinuierlich gesunken. Hier zeigten die Umfragen in Russland wiederum eine klar gegenläufige Tendenz. Ein halbes Jahr vor dem russischen Überfall waren UdSSR-­Nostalgiker bereits in jeder ukrainischen Altersgruppe eine Minderheit. Der russische Überfall hat den Rest getan.

Die «Generation Unabhängigkeit» konnte bisher zwar noch nicht in politisch führende Positionen aufrücken, spielte aber bereits beim Euromaidan von 2013-2014 eine wichtige Rolle. Und schon damals ging es um die europäische Integration. Die Proteste, bei denen anfangs Studenten eine zentrale Rolle spielten, fingen an, nachdem die damalige ukrainische Regierung sich plötzlich geweigert hatte (übrigens direkt nach dem Besuch des damaligen ukrainischen Präsidenten und Möchte-Gern-Diktators Wiktor Janukowytsch bei seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin), das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.

2022 plädierten knapp 90 Prozent der Bevölkerung für die EU-Mitgliedschaft 

Bereits damals waren die Anhänger des EU-Beitritts des Landes in der Mehrheit. Diese Mehrheit ist kontinuierlich gewachsen, 2021 plädierten bereits rund zwei Drittel der Bevölkerung für die Mitgliedschaft. Der russische Überfall sorgte für einen sprunghaften und dramatischen Zuwachs – seit März 2022 bewegen sich die Zahlen knapp unter der 90-Prozent-Marke. Und zwar unabhängig von der Region und der Altersgruppe.

Ich weiß nicht, ob jemals in einem Land solche Werte erreicht worden sind. Doch das sind alles nur Zahlen. Man könnte auch andere Zahlen nehmen – die der Getöteten und Verwundeten. Beim Euromaidan waren es mehrere Dutzend, in dem von Russland 2014 angezettelten Krieg im Donbas waren es Tausende, nun nach dem massiven russischen Überfall und täglichem Terror gegen Zivilisten geht die Rechnung auf Zig- oder gar Hunderttausende. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass jedes Opfer für europäische Werte gestorben ist, aber jedes wollte in Freiheit, Frieden, Würde und Wohlstand leben. Das mögen Diktatoren nicht. Deswegen sind sie bereit, unabhängige Länder zu überfallen und Menschen zu töten. Man darf das hinter den trocken Zahlen diverser Statistiken nicht vergessen. Wir Europäer haben keine weiteren 30 Jahre Zeit.


Juri Durkot, geboren in Lemberg, ist Journalist, Übersetzer, Dolmetscher, Schriftsteller. Er studierte Germanistik in Lwiw und Wien und schrieb als freier Journalist für österreichische Zeitungen. Von 1995 bis 2000 war Juri Durkot Presse­sprecher der ukrainischen Botschaft in Deutschland. Seit Ende 2000 ist er als freier Journalist, Publizist, Übersetzer und Produzent tätig und arbeitet für die deutschsprachige Presse sowie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

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