Friedrich Zillessen und Oliver Hildenbrand diskutierten aktuelle politische Herausforderungen in Deutschland und Europa und stellten hierbei Bezüge zur Lage und den Maßnahmen in Baden-Württemberg her, um die Demokratie gegen populistische Bedrohungen zu wappnen.
Die Veranstaltung „Demokratie in der Zwickmühle: Gefahr des autoritären Populismus“ behandelte die Risiken, die durch den Aufstieg autoritärer populistischer Bewegungen für demokratische Strukturen entstehen. Friedrich Zillessen und Oliver Hildenbrand diskutierten aktuelle politische Herausforderungen in Deutschland und Europa. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Thüringen-Projekt, das Szenarien einer Machtübernahme durch autoritäre Kräfte analysiert und Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie entwickelt hat.
Ein weiterer Schwerpunkt der Veranstaltung war die Situation in Baden-Württemberg. Es wurden spezifische Probleme und Schutzmechanismen des Bundeslandes erörtert, um zu verhindern, dass autoritäre Kräfte demokratische Institutionen unterwandern. Oliver Hildenbrand stellte hierbei Bezüge zur aktuellen politischen Lage und den Maßnahmen in Baden-Württemberg her, um die Demokratie gegen populistische Bedrohungen zu wappnen.
Demokratie in der Zwickmühle. Gefahr des autoritären Populismus - Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg
Direkt auf YouTube ansehen
Transkript
05.07.2024
ROXANE KILCHLING:
Herzlich willkommen an alle zur Veranstaltung „Demokratie in der Zwickmühle - Gefahr des autoritären Populismus“. Mein Name ist Roxane Kilchling. Ich bin Bildungsreferentin bei der Heinrich Böll Stiftung in Baden-Württemberg und werde heute durch die Veranstaltung führen. Bevor ich unsere Gäste vorstelle, übergebe ich als erstes an unsere Vorständin Bettina Backes.
BETTINA BACKES:
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Online-Veranstaltung heute, ich begrüße Sie/euch alle im Namen der Heinrich Böll Stiftung sehr herzlich zu der heutigen Veranstaltung. Besonders herzlich begrüße ich unsere beiden Gäste: Friedrich Zillessen vom Verfassungsblog und Oliver Hildenbrand, Mitglied des Landtags Baden- Württemberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Die Demokratie wird so schwer erkämpft und kann so leicht wieder verloren gehen. Dieser Gedanke beschäftigt uns sehr und auch viele Menschen in Deutschland, ganz aktuell sicherlich in Frankreich, in ganz Europa und wahrscheinlich auch sehr in den Vereinigten Staaten. Der aktuelle Deutschlandtrend der ARD zeigt an, dass 69 % der Deutschen sich Sorgen um die Demokratie machen, allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während die Anhängerinnen und Anhänger der Grünen und der Union den Rechtsextremismus und Rechtspopulismus als Grund anführen, stellen Menschen, die der AfD und dem BSW nahestehen, eher die “Abgehobenheit der Politik” in den Vordergrund. Auch Letzteres lässt aufhorchen. Die Furcht vor dem Verlust der Demokratie, die Angst allein ist lähmend. Es nützt nichts, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen, um die Angst zu überwinden. Um Probleme mit Zuversicht anzugehen, müssen wir die Schlange erst einmal genau ansehen und ihr Verhalten beobachten, den Angriff simulieren, die Gefahren analysieren und schließlich Strategien entwickeln, wie wir der Schlange den Giftzahn ziehen und sie zum Rückzug in den Dschungel bewegen können. Das haben nicht wir uns gesagt, sondern eine mittlerweile große Gruppe von Wissenschaftlern und Journalisten und Journalistinnen, die im Verfassungsblog, einer Open Access Plattform, zu verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Themen publizieren. Sie initiierten das mittlerweile landesweit bekannte und auch jüngst mit der Theodor-Heuss-Medaille in Stuttgart ausgezeichnete und neben vielen anderen auch von der Heinrich Böll Stiftung unterstützte Thüringen-Projekt. Das Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Resilienz von Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland. Es werden Szenarien entwickelt, wie autoritär-populistische Parteien ihre Macht bis zur endgültigen Übernahme ausbauen, nutzen und demokratische rechtsstaatliche Strukturen zurückdrängen oder gar aushebeln können. Aber dabei bleibt es zum Glück nicht. Denn das Thüringenprojekt hat ganz konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt, um die Demokratie und den Rechtsstaat zu schützen und resilienter zu machen. Die Schlange lässt sich nämlich noch einfangen und zähmen. Ganz unschädlich machen werden wir sie nie. Sie liegt immer auf der Lauer, aber wir sind ihr nicht hilflos ausgeliefert. Mit diesem Thema möchten wir uns heute Abend beschäftigen und mithilfe von Oliver Hildenbrand den konkreten Bezug zu Baden- Württemberg herstellen. Ich kann nur empfehlen, mal beim Verfassungsblog reinzuschauen und sich die Lektüre zu gönnen. Das stimmt zuversichtlich - trotz der bedrohlichen Szenarien, mit denen wir in unterschiedlicher Weise konfrontiert sind. Wir alle sind gefragt, denn ohne eine starke Zivilgesellschaft wird es nicht gehen. Der Spruch ist zwar ein wenig abgegriffen, aber ich mag ihn trotzdem. Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf. In diesem Sinne sind wir jetzt hellwach.
ROXANE KILCHLING:
Vielen Dank, Bettina. Noch kurz zu unseren beiden Gästen. Friedrich Zillessen ist Rechts- und Politikwissenschaftler, hat in Leipzig und Lissabon studiert und ist seit 2022 Redakteur beim Verfassungsblog und hat ziemlich genau vor einem Jahr mit Maximilian Steinbeis zusammen das Thüringen-Projekt gegründet. Und das ist dann auch sehr schnell gewachsen auf der Basis hauptsächlich von Crowdfunding. Aber darüber wirst du gleich noch mehr erzählen. Und Oliver Hildenbrand sitzt seit 2021 für die Grünen im Landtag, war davor lange Landesvorsitzender und ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender, außerdem Sprecher für Innenpolitik und Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Vielen Dank an euch beide, dass ihr euch die Zeit nehmt.
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Ja, vielen Dank für die einführenden Worte und die Einladung nach Stuttgart. Ich würde gerne kurz ein paar Worte zum Thüringenprojekt erzählen, also zu den Szenarien und wie es dazu gekommen ist.
In zwei Monaten wählt Thüringen einen neuen Landtag. Dass der Wahlkampf beginnt, hat sich schon früh abgezeichnet. Während die Brandenburger Parteien noch ihre Spitzenkandidat*innen bestimmt haben, hängen in Thüringen schon längst Wahlplakate. Und in Waltershausen setzten unbekannte Personen das Haus des SPD- Politikers Michael Müller in Brand. In Bleicherode wurde das Büro der Landtagspräsidentin Birgit Pommer mit Hakenkreuzen beschmiert, in Suhl Parteibüros der SPD angegriffen. Vor dem Landtag in Erfurt wurde im April ein Journalist geschlagen und beleidigt. Und spätestens die brutalen Überfälle auf den sächsischen Politiker Matthias Ecke oder die Berliner Senatorin Franziska Giffey haben einer breiten Öffentlichkeit gezeigt, was “Politik machen” in vielen Teilen des Landes mittlerweile bedeutet. Die Organisation Ezra dokumentiert seit Jahren rechtsextreme Gewalt in Thüringen. In ihrer Chronik kann man nachvollziehen, wie sich diese Vorfälle seit Beginn des Wahljahres, also seit Beginn dieses Jahres, zuspitzen. Auf dem Verfassungsblog hingegen beobachten wir seit Jahren, wie Demokratien sterben. Der Verfassungsblog ist ein gemeinnütziges, wissenschaftliches Open Access Forum, also eine Debattenplattform im Internet, auf der über 3.000 Autor*innen, Wissenschaftler*innen in den letzten 15 Jahren aktuelle verfassungsrechtliche Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland, Europa und darüber hinaus diskutieren.
Demokratien sterben nicht mehr wie früher durch einen Putsch, durch einen starken Mann, der die Macht mithilfe des Militärs an sich reißt und die alte Ordnung über den Haufen wirft. Demokratien sterben langsam und, in Anführungszeichen, „legal“ von innen durch gewählte Regierungen, die demokratische Institutionen, Macht- Gleichgewichte aushöhlen, die Gefahr ihres Abgewählt- Werdens minimieren, sich unangreifbar machen für politischen oder rechtlichen Widerspruch. Demokratien sterben nicht beim ersten Schlag, sondern sie werden Stück für Stück geschwächt. Wir kennen vielleicht die Beispiele. In Israel hat eine demokratisch gewählte Regierung versucht, das Verfassungsgericht zum Schweigen zu bringen. In Polen hat das funktioniert. In der Türkei werden politische Gegner inhaftiert. Nachdem sie die EU verlassen hat, hat die Regierung in Großbritannien das Recht zur freien Versammlung eingeschränkt. Die USA bereiten sich gerade mit ordentlich Getöse darauf vor, dass ein autoritärer Populist seine zweite Amtszeit erhalten könnte. Wer soll ihn stoppen? Der Supreme Court wird ihm nicht im Weg stehen, wie auch das aktuelle Urteil zu Trumps Immunität zeigt. Brasilien hat seinen autoritären Präsidenten gerade so wieder abschütteln können. Und Ungarn? Ungarn wird als Paradebeispiel für den autoritären Staatsumbau von den Trumps und Bolsonaro gefeiert. Dort könne man, Zitat Höcke: „noch frei atmen“. Ein bizarres Wahlrecht hat eine Mehrheit in eine Zweidrittelmehrheit verwandelt und Viktor Orban ermöglicht, Wahlen, Gericht, Behörden und Medien unter seine Kontrolle zu bringen.
Wir haben uns gefragt: Kann das auch in Deutschland passieren, in dieser föderalen Verfassungsordnung mitten in Europa, mit Bundestag und Bundesrat und einem starken, respektierten Verfassungsgericht, mit einem 75 Jahre alten Grundgesetz mit seinen 16 Bundesländern und unzähligen Kommunen? Diese sogenannte wehrhafte Demokratie, die als Antwort auf den Nationalsozialismus Mechanismen geschaffen hat, die verhindern sollen, dass sich Geschichte wiederholt. Und vor rund einem Jahr haben wir aus diesem Impuls heraus das Thüringenprojekt gestartet. Das Thüringenprojekt geht noch einen Schritt weiter und fragt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn eine autoritär-populistische Partei staatliche Machtmittel in die Hand bekommt? Was passiert, wenn in Landratsämtern und Bürgermeisterbüros, in Landtagen und Ministerien Leute sitzen, die mit Ängsten Politik machen? Die Grenzen des Sag- und Machbaren verschieben und die Demokratie untergraben? Wie könnten und wie würden diese Leute die Spielregeln ändern, um ihr eigenes Abgewählt-werden unmöglich zu machen?
Auf der Grundlage einer erfolgreichen Crowdfundingkampagne konnten wir ein Team aus Rechts- und Politikwissenschaftler*innen zusammenstellen, in dem wir Szenarien durchspielen. Und ich würde vorschlagen, dass wir in den nächsten Minuten in ein, zwei Szenarien eintauchen.
Vorab: Dass der autoritäre Populismus ein globales Phänomen ist, habe ich dargestellt. Was wir unter dem Begriff verstehen, noch nicht. Wir bezeichnen Parteien als autoritär- populistisch, die die Erzählung vom wahren Volk im Gegensatz zu korrupten Eliten einsetzen, um die pluralistische Demokratie zu delegitimieren und ein autoritäres Regime zu errichten. Die Verfassung ist insoweit für den autoritären Populismus nützlich, als sie ihm Deckung bietet, hinter der er den Mangel an Begründung für seine autoritären Setzungen verstecken kann. Ihm ist dann sein Autoritarismus viel schwerer nachweisbar. Er braucht sich nicht mehr zu exponieren, braucht keinen Militärputsch, keine Gewalt mehr, weil die Verfassung ihm liefert, was er selbst nur setzen kann, aber nicht begründen. Die Rechtfertigung für seinen Herrschaftsanspruch. Sie liefert ihm obendrein Grund- und Minderheitsrechte, die er strategisch einsetzen kann, solange er selbst nicht herrscht. Zum Protest, zur Obstruktion, zur Delegitimierung derer, die an seiner Stelle herrschen. Sie liefert die Möglichkeiten, Entscheidungen zu blockieren und Debatten zum Entgleisen zu bringen. So viele Rechte ihm die Verfassung gibt, so viele verweigert sie ihm auch, hier kommt die Volks- Identität ins Spiel. Sie ist eine Art Meta-Verfassung, hinter der Verfassung, die gegen die Verfassung und ihre Institutionen in Stellung gebracht werden kann, ohne dass man dabei je die Deckung, die die beiden bieten, verlassen muss. Am Ziel ist der autoritäre Populismus erst, wenn er die Verfassung in ein lückenloses Spiegelkabinett umgebaut hat. Ein klares Beispiel für so eine Partei ist die AfD.
Zurück ins Szenario. Nehmen wir jetzt also an, die Landtagswahlen in Thüringen sind gerade vorbei und der größte Schreck ist ausgeblieben. Die AfD hat 35 % der Sitze im Landtag gewonnen und ist klarer Wahlsieger, von einer Chance auf Regierungsbeteiligung jedoch weit entfernt. Die CDU steht noch und irgendwie raufen sich die verbleibenden demokratischen Parteien im Landtag zusammen, ob in einer Koalition oder in einer weiteren Minderheitsregierung. Björn Höcke hat trotzdem allen Grund zum Lachen. Denn das ausgegebene Wahlziel hat die AfD erreicht. Sie hat nun eine Sperrminorität im Landtag, das heißt, sie kann jede Entscheidung im Parlament eigenständig stoppen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordert. So kann sie der neuen Landesregierung das Leben zur Hölle machen und ganz legale Anschläge auf den Rechtsstaat planen. Die Stimmen sind also ausgezählt, das Ergebnis amtlich festgestellt. Binnen 30 Tagen muss der neue Landtag zusammentreten.
Die erste Hürde, die wir in unserem Szenario nehmen müssen, ist die Wahl der neuen Landtagspräsidentin. Erst wenn es die gibt, ist der Landtag tatsächlich handlungsfähig. Traditionell wird das Amt der Parlamentspräsidentin durch die größte Fraktion im Parlament besetzt. In unserem Gedankenspiel also von der AfD. Die kodifizierte Form dieser Tradition, Paragraf zwei, Absatz zwei Geschäftsordnung des Thüringer Landtages beinhaltet allerdings nur ein Vorschlagsrecht der größten Fraktion für dieses Amt. Gewählt werden muss die Präsidentin dann von allen Mitgliedern des Landtages und muss dabei die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten. Diese Stimmen können ihr natürlich verweigert werden. Kein Abgeordneter ist gezwungen, gegen seinen Willen einen AfD-Abgeordneten zu wählen. Allerdings muss die Landtagspräsidentin gewählt sein, damit sich das Parlament überhaupt konstituieren kann. Ohne Präsidentin kann weder die Legislative noch die Exekutive ihre Arbeit aufnehmen. Würden sich die anderen Fraktionen des Parlamentes also aufgrund absehbarer unüberbrückbarer politischer Differenzen nicht auf einen gemeinsamen anderen Kandidaten oder eine andere Kandidatin einigen können, den sie nach dem ersten oder zweiten gescheiterten Wahlgang des AfD-Kandidaten aufstellen, dann erscheint diese Wahl einer AfD-Landtagspräsidentin gar nicht mehr so unrealistisch. In unserem Gedankenspiel müssten nur einige Abgeordnete von BSW und CDU ihre Stimme dafür hergeben. Was aber hätte das zur Folge? Die Landtagspräsidentin leitet nicht nur die Verhandlungen und erteilt Ordnungsrufe, sie leitet natürlich auch die Wahl des Ministerpräsidenten und hätte die faktische Macht zur Auslegung des umstrittenen dritten Wahlgangs. Sie steht an der Spitze der Parlamentsverwaltung, die neutral und unpolitisch und allen Abgeordneten zu Diensten sein muss, damit diese ihre Aufgaben erfüllen können. Sie ist verantwortlich dafür, dass das Parlament als Ort der kollektiv-verbindlichen Entscheidungsfindung funktioniert. Die Parlamentspräsidentin kann den Direktor des Landtags ohne Angabe von Gründen austauschen und durch eine loyalen Person ersetzen. Dessen Bedeutung für den parlamentarischen Betrieb ist groß. Die Verwaltung verteilt die Vorlagen, über die die Abgeordneten beraten und beschließen, etwa Gesetzesentwürfe. Sie stellt die ganze IT bereit. Bisher muss sich kein Abgeordneter fragen, wer da in der Verwaltung alles seine dienstlichen E-Mails mitlesen kann. Bisher konnten die Parlamentarier*innen darauf vertrauen, dass der wissenschaftliche Dienst ihnen unabhängig und unverfälscht zuarbeitet. Wie verändert sich das politische Klima und die Handlungsfähigkeit einer parlamentarischen Demokratie, wenn dieses Vertrauen nicht mehr begründet ist? Die Landtagspräsidentin ist es auch, die in Thüringen die Gesetze ausfertigt und verkündet. Bisher eine reine Formalität. Das hatte man in Polen auch gedacht, bis die autoritär-populistische PiS-Regierung plötzlich beschloss, Urteile des Verfassungsgerichts, die ihr nicht passten, einfach nicht im Amtsblatt zu verkünden. Eine Formalität, aber eine, ohne die das, was da verkündet werden muss, nicht zu geltendem Recht wird. In Polen, Ungarn und den USA haben wir gesehen, dass die schwache dritte Gewalt für autoritäre Populisten eines der nächsten Ziele wäre.
Wie verwundbar ist das Oberste Gericht in Thüringen?
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof besteht aus acht ordentlichen Mitgliedern und einem Präsidenten. Das ordnet die Verfassung an. Das Thüringer Verfassungsgerichtshof-Gesetz, also ein einfaches Gesetz, nicht die Verfassung regelt zudem, dass für jedes Mitglied Stellvertreter*innen zu wählen sind. 2026 muss das erste ordentliche Mitglied nachbesetzt werden, und zwar mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Davor schon einige Vertreter*innen. Mit ihrer Sperrminorität könnte die AfD verhindern, dass ein neues Mitglied gewählt wird. Oder vorausgesetzt, die anderen Fraktionen lassen sich darauf ein, einen eigenen Kandidaten ins Amt erpressen. Der Hebel ist dafür erst mal nicht so groß, denn ein Mitglied bleibt geschäftsführend im Amt, bis ein neues gewählt ist. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass das Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetz eine harte Altersgrenze bei 68 Jahren formuliert. Auch beim Tod oder einer Funktionsübernahme, zum Beispiel als Teil des Landtags oder der Landesregierung, verliert ein Richter, eine Richterin ihre Wählbarkeitsvoraussetzung. Vorausgesetzt, es gibt keine vorzeitigen Neuwahlen, müssen dann 2029, noch vor Ende der Legislaturperiode, aber mitten in unserem hypothetischen neuen Landtagswahlkampf, die anderen acht Mitglieder des Gerichts neu gewählt werden. Es ist also unklar, wie lange das Gericht es dann schaffen wird, sich beschlussfähig zu halten. Wie lange genug geschäftsführende und stellvertretende Mitglieder vorhanden sind. Und irgendwann kommt dieser Geschäftsführungsmodus in Konflikt mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters und dem Demokratieprinzip. Wie viel sind die Entscheidungen des Gerichts dann noch wert? Die gute Nachricht für dieses Gedankenspiel: Um die Thüringer Verfassungsgerichtsbarkeit über den Weg der Sperrminorität effektiv zu untergraben, braucht die AfD einen relativ langen Atem. Möglich aber ist es. Und dafür muss sie nicht mal an der Macht sein. Jede Störung, jede Krise und spätestens 2029 wären wir in einer veritablen Verfassungskrise. Jede Störung, jede Krise führt diesem Narrativ der autoritären Populisten Evidenz zu, dass die Eliten und das politische System versagen. Zum Glück gibt es dafür Lösungsmöglichkeiten. Solange demokratische, gegebenenfalls verfassungsändernde Mehrheiten möglich sind, könnte der Thüringer Landtag ein Ventil schaffen für den Fall einer langfristig blockierten Richterwahl. Im April haben wir im Thüringer Landtag ein Policy Paper vorgestellt, in dem wir für dieses und für sechs weitere Probleme ganz konkrete Lösungsvorschläge machen. Diese Lösungsvorschläge minimieren die Einfallstore, durch die autoritäre Populisten schlüpfen können, um die Verfassung so wie in anderen Ländern legal von innen auszuhöhlen.
An dieser Stelle bietet es sich an, ganz kurz auf die Bundesebene zu springen. Zu Beginn des Jahres wurde intensiv diskutiert, wie auf der Bundesebene ein großes Einfallstor geschlossen werden könnte. Die Debatte um einen besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts geht in ihrem Ursprung auch auf ein Szenario zurück: auf den „Volkskanzler“, auf dem am Ende auch das Thüringenprojekt aufbaut. Mittlerweile existiert ein Arbeitsentwurf des Bundesjustizministeriums, der vorschlägt, einige Regeln, die nur in einem einfachen Gesetz geregelt sind, ins Grundgesetz zu überführen. Zum Beispiel die Wahl mit Zweidrittelmehrheit der Verfassungsrichter*innen. Die Debatte zeigt meines Erachtens zwei Dinge, die auch für die Situation in Thüringen gelten: Reformen für einen besseren Schutz der Gerichte hängen zurzeit vom politischen Willen der Union ab. Und der absolute Schutz eines Verfassungsgerichts lässt sich auch mit diesen Vorschlägen nicht erreichen. Und das muss man sich bewusst machen. Angriffe auf die finanzielle und administrative Unabhängigkeit bleiben auch danach möglich. Und ein Verfassungsgericht ist maßgeblich darauf angewiesen, dass seine Entscheidungen von Gerichten, von Regierungen und Parlamenten geachtet werden. Truppen hat Karlsruhe nicht. Trotzdem halte ich den besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts, dieses Vorhaben für eine sehr, sehr wichtige Initiative und plädiere dafür, dass auch das so wichtige 2/3-Quorum für die Verfassungsrichterwahlen sowie eine intensivere Einbindung des Bundesrates in den Gesetzesentwurf aufgenommen werden. Denn so macht man es autoritären Populisten etwas schwerer.
Zurück nach Thüringen. Stellen wir uns vor, die AfD erhält bei den Wahlen 2029 eine absolute Mehrheit im Landtag. Dann hätte sie Zugriff auf das Verfassungsgerichtshofgesetz und könnte die Altersgrenze des Gerichts ändern, herabsenken zum Beispiel, den Haushalt kürzen und die geschäftsführende Ämter- Fortführung abschaffen. Wenn sie das konsequent und geschickt macht, kann sie das Gericht innerhalb von kürzester Zeit neutralisieren.
Bleiben wir kurz in diesem Szenario und blicken in das neue AfD-Kabinett. In Thüringen fußt die Landeszentrale für politische Bildung lediglich auf einer Kabinettsanordnung von 1992. Wenn Björn Höcke Ministerpräsident wäre, könnte er nicht nur von seinem Amnestie- und Begnadigungsrecht Gebrauch machen und rechtsextreme Straftäter begünstigen. Er könnte auch den Medienstaatsvertrag mit einer einfachen Unterschrift kündigen oder eine neue Anordnung aufsetzen, die die Linien der inhaltlichen Arbeit der Landeszentrale neu zieht und sie personell auf neue Beine stellen. Im Einklang mit seinem Fünf-Punkte-Plan könnte Höcke diesem „Laden“ und sogenannten Ideologieprojekten mittelfristig den Saft abdrehen. Dann wäre auch Schluss mit dem Landesprogramm “Denk bunt”, das mit rund 6 Millionen Euro pro Jahr zivilgesellschaftliche Projekte fördert. Würde dieses Landesprogramm gestrichen, hätten Betroffene rechtsextremer Gewalt kaum noch Hilfs- und Beratungsangebote in Thüringen. Viele Projekte und zivilgesellschaftliche Initiativen für ein demokratisches und gewaltfreies Miteinander bekämen fortan keine finanzielle Unterstützung mehr. Sie stünden vor dem Aus, könnten vermutlich kaum mehrere Monate überleben. Dort, wo die Regierung den Geldhahn nicht einfach abdrehen kann, wird man um die Gemeinnützigkeit bangen müssen, lästige Steuerprüfungen und andere Einschüchterungsversuche über sich ergehen lassen. Die Arbeit der parteinahen oder privaten Stiftungen im Bildungs-, Vernetzungs- und Unterstützungsbereich wird von noch viel größerer Bedeutung sein als jetzt. Darauf sollte man sich auch dort vorbereiten. Vor diesem Hintergrund und der Frage, inwiefern Bund oder Länder Vorkehrungen für diesen Fall treffen können, erscheint mir auch die Debatte um das Demokratiefördergesetz in einem ganz anderen Licht.
Wir, die Mitarbeiter*innen des Thüringenprojekts, recherchieren nun seit einem Jahr, was auf Demokratie und Rechtsstaat zukommen könnte, wenn die AfD über staatliche Machtmittel verfügt und sich die Bedrohungsallianzen weiter verschärfen. Über 130 Mal haben wir uns mit Wissenschaftler*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Richter*innen, Anwält*innen, Journalist*innen, Kulturschaffenden, Lehrer*innen, Kommunal-Beamt*innen in analoge und digitale Räume gesetzt und Szenarien entwickelt. Was-wäre-wenn-Fragen diskutiert, Plausibilitäten abgewogen. Seither betreiben wir gemeinsam das, was wir zivilen Verfassungsschutz nennen. Wir wollen die demokratische Öffentlichkeit für die Schachzüge autoritär-populistischer Parteien sensibilisieren und durch Antizipation dafür sorgen, dass sie wachsam bleibt. Wehrhaft ist eine Demokratie, wenn sie sich ihrer Schwächen bewusst ist. Nach und nach haben sich vier Schwerpunkte unserer Arbeit herauskristallisiert, vier Säulen gewissermaßen: Recherche und Forschung, politische Bildung, Policy Arbeit und Kommunikation. Die Recherche haben wir in Themengebiete aufgeteilt: Kommunales, Medien, Bildung, Wahlen, Justiz, Sicherheitsapparat, Kultur. Viele der Szenarien, mit denen wir uns beschäftigen, sind noch nie eingetreten. Recht einem Stresstest auszusetzen und in die Zukunft zu denken, provoziert neue, ungeklärte und unbehandelte rechtswissenschaftliche Fragen. Unter welchen Voraussetzungen etwa und mit welchen Folgen ließe sich auf der Bundesebene darauf reagieren, dass in einem deutschen Bundesland eklatant gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen wird? Um darauf Antworten zu finden, tragen wir unsere Szenarien in den rechtswissenschaftlichen Diskurs hinein.
Wie ich schon kurz berichtet habe, haben wir sieben Einfallstore in der Thüringer Verfassungsordnung identifiziert, die ohne große Kosten für die Demokratie geschlossen werden könnten. Einige wenige dieser Szenarien könnten also noch entschärft werden, indem bestimmte Rechtsgrundlagen ergänzt oder klargestellt oder geschaffen werden. Dafür haben wir in enger Absprache mit Expert*innen ein Policy Paper entwickelt. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass der Ministerpräsident die Zustimmung des Landtags zur Kündigung von Medien-Staatsverträgen braucht, damit er nicht im Alleingang mit einer Unterschrift die Rundfunkstaatsverträge zu MDR, ARD und ZDF vernichten kann. Wir sind außerdem dafür, dass das Vorschlagsrecht der Landtagspräsidentin in der Geschäftsordnung konkretisiert wird, um Auslegungsstreitigkeiten vorzubeugen. Der Polizeipräsident, der Verfassungsschutzpräsident und der Landtagsdirektor sollten keine politischen Beamten sein und konsultative Volksbefragungen von der Verfassung ausgeschlossen werden. Um zu vermeiden, dass sich ein Ministerpräsident Höcke das Lieblingsinstrument von Viktor Orban und der PiS-Partei in Polen selbst schafft. Und wir haben einen Lösungsvorschlag für den ominösen dritten Wahlgang, der seit 2009 bei jeder Ministerpräsidentenwahl in Thüringen für Unruhe sorgt. Unser Vorschlag vereint die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen von CDU und Die Linke, und er würde das Problem beseitigen. Mit unseren Ergebnissen wollen wir vor allem die Menschen erreichen, die ab dem Herbst mit diesen Szenarien konfrontiert sein könnten. Es geht uns darum zu zeigen, in welchen Momenten es ganz konkret auf ihr Handeln ankommt. Autoritäre Populisten profitieren davon, Chaos und Unsicherheit zu stiften, indem sie mit bisherigen demokratischen Konventionen brechen.
Um Funktionsträger*innen auf diese Situation vorzubereiten und unter ihnen mehr Rechtssicherheit zu schaffen, organisieren wir mit Kooperationspartnern Workshops, etwa mit der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft für Lehrer*innen, mit der Deutschen Richtervereinigung für Rechtsreferendare. Diese Bildungsarbeit würden wir gerne ausbauen. Diese vier Säulen Recherche und Forschung, politische Bildung, Policy Arbeit und Kommunikation tragen das, was ich zivilen Verfassungsschutz genannt habe.
Dabei geht es in erster Linie nicht um die Verhinderung der Krise, sondern um das rechtzeitige Vorbereiten auf diese. Das ist auch im Umgang mit antiliberalen Akteuren wie Viktor Orban oder der PiS-Partei effektiv. Das sicherlich anschaulichste Beispiel für dieses Antizipieren und dieses Zusammenwirken von Rechtswissenschaften und Zivilgesellschaft findet sich in Israel. Dort gingen tausende Menschen teilweise bis in die Millionen hinein, gegen die sogenannte Justizreform auf die Straße. Sie hatten erkannt, dass die scheinbar technische Frage, wie weit genau der Prüfumfang des Gerichts reichen sollte, um die es in der Reform unter anderem ging, die hatten erkannt, dass diese technische Frage alle etwas angeht. Solche Änderungen an Recht und Verfassung haben, so scheint es, nichts mit unserem individuellen Leben zu tun, bis sie es tun. Und dann ist es meistens zu spät. In Israel haben zahlreiche Rechtswissenschaftler*innen in ihre Häuser eingeladen, um zu erklären, was es mit diesen Plänen der israelischen Regierung auf sich hat. Dabei konnten sie auf Erfahrungen aus Polen und Ungarn zurückgreifen, wo das so nicht passiert ist. Anders als dort hat das zivilgesellschaftliche Bewusstsein für illiberale Schachzüge in Israel dazu geführt, dass das Regierungsvorhaben unter Druck geriet, gesellschaftlich. Zu Beginn des Jahres hat der Supreme Court dann das Gesetz gekippt. Und ich bin mir sicher: Mit ihrem lautstarken Protest hat die israelische Zivilgesellschaft dem Supreme Court bei der Legitimation dieser Entscheidung ganz entscheidend den Rücken gestärkt. Nur so, mit diesem Bündel an Maßnahmen, kann es gelingen, ein Bewusstsein für autoritäre Schachzüge zu schaffen.
Wie geht es nun weiter? In diesem Monat publizieren wir unsere Szenarien und Rechercheergebnisse noch mal auf anderen Wegen. Ende Juli erscheint ein Buch im Hanser Verlag mit dem Titel „Die verwundbare Demokratie“ und kurz davor ein sechsteiliger Podcast in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit zwei anderen Organisationen versuchen wir zurzeit, eine Rechtsschutzstruktur aufs Gleis zu setzen, die gerade denen den Zugang zu rechtsstaatlichem Schutz erleichtern soll, die von rechtswidrigen, autoritär motivierten Verwaltungshandeln betroffen sind. Das Angebot soll dabei in ganz Deutschland, vorerst aber mit einem besonderen Fokus auf die ostdeutschen Bundesländer, zur Verfügung stehen. Diese Struktur soll auf Dauer angelegt sein und so die demokratische Resilienz durch Inanspruchnahme von Rechtsschutz dauerhaft stärken. Wir hoffen, dass wir die Schwachstellen-Tests auch auf andere Bundesländer und auf die Bundesebene ausweiten können. Denn wir sehen, dass wir über Thüringen hinaus auf Szenarien aufmerksam machen können. In Medien und Politik lässt sich beobachten, das Was-wäre-wenn-Fragen gestellt werden. Mit etwas Stolz können wir also schon jetzt sagen, dass Thüringen-Projekt wirkt. Und ich glaube, wir können das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes auch dazu nutzen, unsere Verfassungsordnung in seinen Stärken und in seinen Schwächen zu reflektieren. Denn eine wehrhafte Demokratie ist in erster Linie eine vorbereitete Demokratie. Vielen Dank.
ROXANE KILCHLING:
Vielen Dank, Friedrich, für den ausführlichen Einblick in Eure Arbeit des letzten Jahres, die wirklich sehr, sehr umfassend ist. Vielleicht sagst du noch mal kurz, wie groß euer Team ist, in dem ihr das alles gemacht habt: Szenarien-Arbeit, Workshops, Veranstaltungen, Publikationen.
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Dadurch, dass wir das Ganze ja mit einem Crowdfunding gestartet haben, war gar nicht so klar, in welchem Umfang und in welcher Größe wir arbeiten konnten. Wir haben zu dritt angefangen und das natürlich auch erst mal nur mit dem Horizont von wenigen Monaten. Und dann wurde das immer mehr Geld, was da zusammengekommen ist. Und dabei hat uns ironischerweise auch ein AfD-Politiker geholfen oder zumindest in die Karten gespielt. Das war der Landrat von Sonneberg, also der erste AfD-Landrat, der gewählt wurde und die erste ernsthafte Machtposition, die die AfD auch besetzen konnte. Das war eben relativ zeitgleich zu dem Crowdfunding und dadurch gab es relativ viel Aufmerksamkeit auch für das Projekt, glaube ich. Und dann konnten wir im September eine Menge Leute einstellen und haben auch Hilfe erhalten durch ein paar ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, die dann teilweise irgendwann auch noch richtig ins Team eingestiegen sind, weil die so viel gearbeitet haben, dass es echt nicht mehr als ehrenamtliche Arbeit zu rechtfertigen war. Und weil es auch gepasst hat. Und mittlerweile sind wir 15 Leute mit natürlich unterschiedlich vielen Stunden.
ROXANE KILCHLING:
Sehr, sehr beachtlich. Du sagst, ihr versteht euch selbst als ein Projekt des zivilen Verfassungsschutz. Warum macht ihr diese Arbeit als selbstorganisiertes Projekt? Ihr seid an kein Forschungsinstitut oder keine Uni angegliedert - wird diese Arbeit auf diese Art und Weise an Unis einfach nicht gemacht? Und wenn ja, warum? Wurde das bisher einfach nicht ernstgenommen oder keine Relevanz gesehen auf diese Art und Weise mit Szenarien zu arbeiten und die Situation zu erforschen?
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Also in der internationalen Rechtswissenschaft gibt es schon eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, auf die wir aufbauen konnten. Aber auch da ist es noch relativ dünn, die wissenschaftliche Durchdringung und die Analyse dieses Phänomens. Und in Deutschland hat es zumindest nach meiner Kenntnis so gut wie gar nicht stattgefunden bisher, also zumindest bis zum Sommer, als wir die Idee hatten, uns diese Frage zu stellen. Das hat glaube ich damit zu tun, dass man sich eben, und das habe ich auch kurz in dem Input angedeutet, dass man sich hier so sehr sicher war lange. Also, es gibt eben dieses mächtige 75 Jahre alte Grundgesetz, das prinzipiell sehr geschätzt wird. Es gibt ein Bundesverfassungsgericht, das eine hohe Akzeptanz genießt, und es ist auch ganz richtig und wichtig so, und es gab ganz lange auch nicht so eine populistische Bedrohung wie in den anderen Ländern um uns herum, in denen wir das ja schon viel länger beobachten. Und auch die AfD hat sich ja erst in den letzten Jahren zunehmend radikalisiert und ist immer problematischer geworden. Und so richtig wie Schuppen von den Augen gefallen, ist es ja auch in der großen politischen Öffentlichkeit erst nach der Correctiv-Recherche, obwohl natürlich jahrelang vorher schon gute Beobachter*innen davor gewarnt haben, zu welchem rechtsextremen Potenzial diese Partei auch neigt. Also es gab eigentlich, soweit ich weiß, keine richtige Auseinandersetzung mit diesem Phänomen in Deutschland, weil man das nicht für so wahnsinnig aussichtsreich gehalten hat. Und im Zweifel ja dann noch ein Parteiverbot anstrengen könnte oder die anderen Mittel der wehrhaften Demokratie einsetzen und ich war aber neulich eingeladen in einem Seminar in Berlin an der FU, das den Titel trug: „Was wäre, wenn?“, das aber jetzt natürlich erst im Sommersemester gestartet wurde. Also, ich sehe auf jeden Fall, dass die Auseinandersetzung damit auf jeden Fall angefangen hat. Und es sind auch in der Wissenschaft die ersten Artikel zu den Fragen der Resilienz erschienen, also da tut sich jetzt was. Aber das war vor einem Jahr noch nicht so.
ROXANE KILCHLING:
Du hast auch gerade schon gesagt, dass diese Arbeit mit Szenarien und die Handlungsempfehlungen sich auf andere Bundesländer übertragen lassen. Auf die Frage würde ich gleich noch mal zurückkommen. Oliver, die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie ist ja auch eins deiner Schwerpunktthemen. Hast du die Arbeit des Thüringenprojekts in den letzten Monaten mitbekommen, begleitet? War das vielleicht auch Thema im Landtag? In der Landtagsfraktion?
OLIVER HILDENBRAND:
Ja, erst mal auch von mir einen schönen guten Abend in diese digitale Runde. Ja, ich habe das Thüringenprojekt auch schon in den vergangenen Wochen und Monaten verfolgt, bin aber trotzdem froh, es heute noch mal aus erster Hand vorgestellt zu bekommen. Und bin mir auch sicher, dass es über den Abend hinaus noch mal Anlass geben wird, die Diskussionen auch bei uns in die Fraktion und ins Parlament zu tragen. Die Entwicklung ist die, dass unsere Landtagspräsidentin Muhterem Aras auch eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, also die Fraktionen, die demokratischen Fraktionen im Landtag beschäftigen sich auch mit der Frage, wie das Parlament resilienter gemacht werden kann. Nicht nur das, die Justizministerkonferenz auf Bundesebene hat einen Bund-Länder-Bericht jetzt gerade erst vor wenigen Wochen vorgestellt, wo es auch um diese Fragestellungen der Resilienz geht. Der Abschlussbericht ist auch veröffentlicht worden, hat stolze fast 200 Seiten und ist, glaube ich, auch eine ganz wichtige Sammlung von Überlegungen, weil ich das auch ganz gelungen finde, dass da verschiedene Konstellationen auch gegeneinander abgewogen werden. Denn das ist ja alles gar nicht trivial und gar nicht einfach. Ich glaube, wir kommen gleich noch auf die Fragen zu sprechen, die uns schon über das Frage-Antwort- Tool erreicht haben. Zum Beispiel die Frage nach der Zweidrittelmehrheit und deren Wirkungen, gerade weil das ja auch erst recht dazu führen kann, dass dann 1/3 auch eine Sperr-Wirkung entfalten kann. Das wird zum Beispiel in diesem Bericht auch dahingehend diskutiert, dass man das mit einem Ausgleichsmechanismus verbinden sollte. Da können aber gleich die Juristen vielleicht noch mal näher darauf eingehen, wie das dann aussehen würde. Also ja, wir verfolgen das, wir beschäftigen uns damit. Aber, und das darf ich vielleicht als persönliches Wort noch sagen, auch die Vorbereitung auf die heutige Veranstaltung, da habe ich es noch einmal sehr deutlich gespürt: Die Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen und Szenarien, die macht was mit einem. Zumindest mit mir, muss ich zugeben, dass dieses Nochmal-Durchdenken von verschiedenen Dingen einfach auch die Besorgnis und die Beunruhigung bei mir noch mal so verstärkt hat. Und ich glaube, das ist ja auch ein ganz wichtiges Ziel dieses Projektes, dass man sich klarmacht, wie verwundbar die Demokratie auch sein kann, wie schwierig es ist und wahnsinnig komplex, darauf formale Antworten zu finden. Und so verstehe ich auch das Konzept des zivilen Verfassungsschutzes eben auch nicht zu glauben, man könnte damit alles regeln, sondern die Demokratie wird immer darauf angewiesen sein, dass es genug Demokratinnen und Demokraten gibt, die sie auch verteidigen. Und deshalb finde ich das sehr gelungen, dass das Thüringen-Projekt nicht für sich alleine steht, sondern auch dieses Konzept des zivilen Verfassungsschutzes ja auch sehr damit verbindet. Ich denke, das ist ganz wertvoll für die Diskussionen, die wir zu führen haben.
ROXANE KILCHLING:
Eine Frage möchte ich euch beiden stellen, mit euren jeweils unterschiedlichen Perspektiven: Wie viel von dieser Szenarien-Arbeit, die ja jetzt sehr auf Thüringen fokussiert war ‒ und Thüringen ist ja in vielerlei Hinsicht ein besonderer Fall ‒ wie viel kann davon übertragen werden auf andere Länder? Oder wie viel ist überhaupt sinnvoll auf andere Bundesländer mit einer ganz anderen Situation zu übertragen? Ist das gewinnbringend? Bei den Handlungsempfehlungen ließe sich einiges übertragen, hast du ja auch schon gesagt. So unterschiedlich sind die Landesverfassungen dann auch nicht, sodass da vieles relativ leicht übertragen werden könnte. Habt ihr da auch als Projekt den Eindruck, dass jetzt Aufmerksamkeit besteht und in anderen Ländern geguckt wird, was vielleicht schon frühzeitig umgesetzt werden kann, ohne dass die Bedrohungslage schon so ist wie in Thüringen?
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Ja, den Eindruck habe ich auf jeden Fall. Und auch der Jumiko-Bericht, dass sich da eine Arbeitsgruppe gebildet hat, das ist auch ein Schritt, den wir genau beobachtet haben und begrüßen. Ich will noch mal ganz kurz eingehen darauf, was du gesagt hast Oliver, weil das ist wirklich die Kernmessage am Ende: Dass man eigentlich keine Verfassung in alle Richtungen abdichten kann und absichern kann. Also, diese Burg so schützen kann, dass sie vor jeder autoritär- populistischen Bedrohung gefeit ist. Das funktioniert nicht. Das ist einfach das Dilemma, das einer Demokratie irgendwie inhärent ist, wenn sie freiheitlich sein möchte. Und das muss man sich immer wieder bewusst machen. Und ich glaube, der Trick ist so ein bisschen, dass man sich einerseits eben diese Horrorszenarien vor Augen führt und eben diesen Schreckmoment hat und dann vielleicht ein bisschen auch schwarzmalt und gleichzeitig aber auch immer wieder im gleichen Atemzug diesen zivilen Verfassungsschutz so nutzt, dass man sich irgendwie rückversichert, dass es eben viele sind, die dann auch dafür einstehen und dass man links und rechts jemanden neben sich hat, der genauso demokratisch denkt und handeln würde. Ich glaube, dann ist es nicht nur so, dass man mit einem schlechten Gefühl aus so einer Veranstaltung oder aus so einer Beschäftigung herausgeht, sondern es kann eigentlich auch empowernd sein in einer gewissen Art und Weise.
Zu der Frage, ob sich das übertragen lässt, da bin ich vor allem auch auf deine Antwort gespannt, Oliver. Aber prinzipiell ja. Also, wir haben eine Menge Vorschläge gemacht. Ich hätte mir im Vorhinein überhaupt nicht denken können, gerade jetzt, im Juni, Juli 2023, als dieses Crowdfunding gestartet wurde und es so langsam anlief das Projekt, hätte ich niemals gedacht, dass wir in der Lage sein würden, Vorschläge zu machen, die irgendwie so gut sind, dass sie der Demokratie und dem Rechtsstaat ja nicht irgendwo was wegnehmen oder so. Also, bei den meisten Vorschlägen, das klingt ja auch in dieser Frage an, wenn man eine Zweidrittelmehrheit einführt, dann hat man eben das Problem mit der 1/3- Sperrminorität und so, also bei vielen Entscheidungen schneidet man sich halt immer irgendwie was ab als Demokrat oder als Rechtsstaat. Und wir haben aber trotzdem einige Regelungen gefunden, die Sinn machen insgesamt und die auch Sinn machen würden, selbst wenn es jetzt so eine autoritär-populistische Bedrohung nicht geben würde. Und von denen sind einige Vorschläge ganz Thüringen-spezifisch und andere lassen sich auf einige Bundesländer oder auf alle Bundesländer übertragen. Also, es gibt zum Beispiel den Vorschlag, der ist auch nicht neu, dass man zum Beispiel diese geheime Ministerpräsidentenwahl abschafft und zu einer freien, offenen Wahl macht. Es gibt keinen richtig ernsthaften theoretischen Grund dafür, dass die Ministerpräsidentenwahl in allen Bundesländern geheim stattfindet. Und sie führt im Gegenteil dazu, dass da teilweise noch so kleine Rechnungen beglichen werden. Kai Wegner, der Berliner Bürgermeister, der hat es erst im dritten Wahlgang geschafft, eine Mehrheit hinter sich zu bringen und gewählt zu werden. Das war eine ganz schöne Hängepartie, bei der dann auch unklar war: Welche Rolle spielt die AfD? Weil, man kann ja nicht nachvollziehen, wer für wen abgestimmt hat. Und genau dieses Phänomen hat damals zu dieser Staatskrise geführt, die durch die Kemmerich-Wahl ausgelöst wurde, wo die AfD eben wider der Gewohnheit nicht ihren eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang gewählt hat, sondern Kemmerich. Und der war dann plötzlich Ministerpräsident, ohne dass man das hätte ahnen können. Na gut, das will ich nicht sagen, das hätte man schon ahnen können. Und ich glaube, es haben auch im Landtag einige geahnt. Aber so oder so haben es auf der Bundesebene wenige kommen sehen. Und dann gab es plötzlich eine veritable Verfassungskrise bis hin nach Südafrika und zum Bundesverfassungsgerichts-Urteil gegen Merkel. Also, das ist zum Beispiel ein Vorschlag, den man super übertragen kann. Ich habe im Vorhinein auch mal geguckt, wie es aussieht bei den Polizeipräsidenten, Verfassungsschutzpräsidenten. Das ist nämlich auch so eine Sache, die man in vielen Ländern hat. Also dass Polizeipräsident als oberster Behördenchef der Polizei, oder der Verfassungsschutzpräsident politische Beamte sind, dass sie einfach ausgetauscht werden können von den jeweiligen Ministern. Und das ist zum Beispiel in Nordrhein- Westfalen der Fall, wo jetzt auch das Bundesverfassungsgericht jüngst geurteilt hat, dass es dafür keinen guten Grund gibt und da ist aber Baden-Württemberg ganz gut aufgestellt, habe ich gesehen.
OLIVER HILDENBRAND:
Genau. Also ich glaube, es ist so, dass jetzt die Analysen für Thüringen nicht in jedem Punkt tatsächlich auf Baden-Württemberg übertragbar sind. Auch die Ausführungen zur Wahl der Landtagspräsidentin, des Landtagspräsidenten, das ist bei uns schon jetzt anders geregelt, dass das Vorschlagsrecht da nicht automatisch bei der stärksten Fraktion liegt, sondern dass es einfach aus der Mitte des Hauses Vorschläge geben kann, dass die Zahl der Vorschläge auch nicht begrenzt ist. Aber nichtsdestotrotz liefern alle Punkte, die da aufgemacht werden, eben Anlass, überhaupt mal danach zu gucken. Das ist ja nun auch nicht außer Acht zu lassen, dass man sich damit auch beschäftigt und damit auseinandersetzt. Und andere Fragestellungen sind dann trotz unterschiedlicher Regelungen natürlich trotzdem Anlass zum drüber nachdenken. Also zum Beispiel das Thema Besetzung des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg beschäftigt uns auch gerade aktuell. Wir haben bisher die Regelung, dass die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen reicht. Also das ist noch nicht mal eine qualifizierte Mehrheit im Sinne einer Mehrheit, sondern nur der abgegebenen Stimmen. Das ist auch ein Punkt, der in dieser schon erwähnten Arbeitsgruppe gerade diskutiert wird. Das zeigt, finde ich, nochmal diesen Ansatz des Vorausdenkens, sich mit Sachen beschäftigen und antizipieren. Was könnte passieren? Ich will mal ein ganz konkretes Beispiel aus Baden-Württemberg beschreiben. Das ist schon ein paar Jahre her. 2016 hat sich die AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg gespalten. Es gab dann die Alternative für Deutschland als Fraktion und die Alternative für Baden-Württemberg als Fraktion. Zerstritten hatten die sich über die Frage des internen Umgangs mit Antisemitismus. Jedenfalls waren es ja dann zwei Fraktionen. Im Untersuchungsausschuss-Gesetz war bis dato geregelt, dass 25 Prozent der Mitglieder oder zwei Fraktionen einen Untersuchungsausschuss beantragen können. Und die AfD und die ABW haben dann einen Untersuchungsausschuss Linksextremismus in Baden-Württemberg beantragt. Also, eigentlich unter Ausnutzung dieser Regelung - zwei Fraktionen. Da hat man dann im Gesetz nachgeschärft und hat klargestellt, dass es zwei Fraktionen sein müssen, von denen die Fraktionsmitglieder unterschiedlichen Parteien angehören. Aber das ist natürlich auch darüber hinaus mit diesen 25 Prozent der Mitglieder des Landtags auch so eine Sache. In dem Szenario, dass eine solche Partei über 25 Prozent kommt, kann sie einen Untersuchungsausschuss einrichten. Das ist aber, und das will ich auch ganz offen sagen, in dieser Arbeitsgruppe, der ich selbst zwar nicht angehöre, aber mich natürlich doch auch fortlaufend drüber informiere, was da besprochen wird. Das ist dann auch gar nicht so einfach. Denn dieses komplexe Wechselspiel zwischen Mehrheit und Minderheit und dem Formulieren von Minderheitenrechten aus einem sehr demokratischen Anspruch heraus, das führt auch in dieser Arbeitsgruppe dann zu sehr kontroversen und gar nicht leicht aufzulösenden Diskussionen, weil das natürlich ein starkes Kontrollinstrument ist, das ein Parlament gegenüber der Landesregierung hat. Und jetzt ganz leichtfertig zu sagen, wir streichen jetzt das Thema 25 Prozent, da sollen künftig nur noch zwei Fraktionen in der Lage sein, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, ist auch alles andere als ohne. Also, das haben wir bis jetzt noch nicht gemacht in Baden-Württemberg. Aber ich denke, das war auch so was. Das hatte sich einfach niemand vorstellen können, dass ein solches Szenario auftritt mit dieser Fraktionsspaltung. Und plötzlich sind es zwei. Na, das ist auch die Frage, ob man solche Dinge wirklich in jeder Form immer antizipieren kann. Aber es ist doch wichtig, in den ganz großen Fragen, die gerade auch schon angerissen wurden, eben doch den Versuch zu unternehmen, sich auf verschiedene Szenarien auch einzustellen und wie gesagt, dieses Wechselspiel aus Mehrheit und Minderheit ist in der Demokratie echt immer fordernd und deshalb gibt es da auch ganz selten ganz einfache oder klare Lösungen.
ROXANE KILCHLING:
Dieses Spannungsfeld wird ja auch vielfach auf dem Verfassungsblog als eines beschrieben, das sich nicht auflösen lässt. Also, es ist nicht Ziel, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Das ist der Demokratie inhärent. Ihr habt jetzt auch gerade schon ein bisschen die Frage im Chat angerissen, ob die Schutzmechanismen für Baden-Württemberg andere sind als in Thüringen. Ich glaube, das ist eine Frage, die sich wahrscheinlich so pauschal gar nicht so einfach beantworten lässt. Also, im Detail sind sie teilweise unterschiedlich, aber wahrscheinlich im Großen und Ganzen sehr ähnlich, kann man sagen, oder? Also, nicht nur in Baden-Württemberg, und Thüringen, sondern generell in den Bundesländern.
OLIVER HILDENBRAND:
Ich würde auch sagen, die Themen, die aufgeworfen werden, sind überall relevant. Muss man dann natürlich jeweils gucken, was ist im jeweiligen Gesetz, in der jeweiligen Verordnung, in der jeweiligen Geschäftsordnung konkret der Sachstand, der dort dann im jeweiligen Bundesland bislang geregelt ist. Aber die aufgeworfenen Themen, die sind natürlich sehr wohl vergleichbar, weil es eben ja auch Institutionen, Mechanismen, um die es da letztendlich geht, ja dann doch auch in allen Ländern gibt.
ROXANE KILCHLING:
Ich finde gerade auch interessant, also ein Kritikpunkt oder eine Kritik, mit der ihr euch als Projekt auseinandersetzen musstet, ist der Vorwurf, dass ihr praktisch mit eurer Szenarien-Analyse eine Art Anleitung gebt für die AfD. So von wegen Schritt für Schritt, was können wir machen um die Demokratie auszuhöhlen. Und es denen damit noch leichter macht. Ich finde aber gerade, dass jetzt ja die Gelegenheit ist oder der Grund ist für so ein Sicherheitscheck. Du hast es vorhin Stresstest genannt. Auf den hin dann alle gucken, was kann nachgebessert werden, was kann sicher gemacht werden? Und es gibt total viel Stellschrauben, die nachgebessert werden können, ohne dass man sich selbst einschränkt. Wie du gesagt hast.
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Ja, was ich ganz spannend finde, ist, dass diese Frage am Anfang des Projektes immer kam und irgendwann nicht mehr so oft. Wir haben uns natürlich auch am Anfang gefragt, ob das eine gute Idee ist, das zu machen. Und es könnte auch unter Umständen sein, dass man durch die Recherchen an Informationen kommt, die man vielleicht wirklich nicht mit der Öffentlichkeit teilen will, wo es vielleicht besser ist, dass es die Entscheidungsträger vor allem wissen, die dann damit zu tun haben. Also darauf haben wir uns schon vorbereitet am Anfang, aber mir ist es nie schwergefallen, da drauf zu antworten, weil wir ja auch genauso gut wissen, wie gut vorbereitet diese Akteure sind. Das ist ein globales Phänomen, und die Akteure lernen voneinander. Die besuchen sich regelmäßig und die sind international aufgestellt. Martin Sellner ist ein gutes Beispiel dafür, wie der zwischen den Ländern hin und her fährt. Und da und da arbeitet und auch zwischen Netanjahu und der PiS-Partei gab es damals Kontakte, als man ihm die Justizreform gemacht hat und so. Das ist nicht so, dass die von uns groß was lernen können und dann überwiegt letztendlich, selbst wenn sie noch was von uns lernen könnten, überwiegt der Vorteil, dass viele Menschen in der Lage sind, diese Schachzüge zu erkennen, wenn sie gespielt werden und sich darauf vorbereiten können. Das ist halt wichtiger am Ende. Aber ich finde es, ich finde es total interessant, dass diese Frage so viel seltener kommt. Ich würde sagen, das hängt schon auch mit dieser Correctiv-Recherche zusammen und mit der veränderten Stimmung im Land seit, seit Januar.
ROXANE KILCHLING:
Oliver, du hast anfangs erwähnt, dass Muhterem Aras jetzt aktuell prüfen lässt, was noch im Landtag nachgebessert werden kann. Und du hast auch schon ein konkretes Beispiel genannt, wo die AfD-Fraktion bzw. damals Fraktionen ganz gezielt die Spielregeln sich zu Nutze gemacht haben. Ist jetzt die juristische Prüfung auch, also folgt die auch aus Versuchen der AfD sich die Spielregeln zunutze zu machen? Oder was ist Anlass für diese Prüfung?
OLIVER HILDENBRAND:
Also letztendlich ist das Thema einfach auch im Kontext oder Erfolge der Correctiv-Recherchen, glaube ich, größer geworden und einfach die Relevanz verdeutlicht worden. Und Muhterem Aras hat das ganz schön formuliert, weil sie davon spricht, dass die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Gesetze der Demokratie in Baden-Württemberg beleuchtet werden. Das ist nämlich auch noch ein ganz wichtiger Aspekt. Wir haben jetzt ja schon viel über formale Regelwerke und Regelungen gesprochen, aber es gibt eben auch eigentlich parlamentarische Gepflogenheiten, also Dinge, die man aus einer gewissen Tradition oder Kultur heraus so oder so macht, die aber auch natürlich in Frage gestellt sind, wenn plötzlich auch Antidemokratinnen und Antidemokraten in großer Zahl in einem Parlament vertreten sind, wo man eben nicht sozusagen auf den guten Willen oder das gute Funktionieren solcher Gepflogenheiten vertrauen kann. Und ich finde, da haben wir auch als Landesparlament, ich gehöre ihm ja noch gar nicht so lange an, aber ich finde, auch in dieser Zeit, wo ich dem Parlament angehöre, gibt es eine gewisse Entwicklung, eine gewisse Lernkurve, möchte ich sagen. Und zwar schauen wir einfach genauer hin bei der Frage: Wo geht es um die Besetzung von parlamentarischen Gremien und wo geht es um die Besetzung von Gremien, wo zwar das Parlament die Besetzung durchführt, wo dann aber auch andere Arbeit gemacht wird. Also konkret das Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung. Ich finde das sehr richtig und sehr wichtig, dass der Landtag bisher so entschieden hat, dass die Wahlvorschläge der AfD für dieses Gremium keine Mehrheit gefunden haben und dass deshalb die AfD bislang auch nicht in diesem Kuratorium vertreten ist und nicht dort vertreten sein kann. Das sind, glaube ich, Möglichkeiten, die man auch nutzen muss. Und Vorschlagsrecht bedeutet nicht, dass die, die darüber zu entscheiden haben, eine Wahlpflicht haben, sondern es kann dann eben auch passieren, dass ein Vorschlag keine Mehrheit findet. Auch das ist bei einer demokratischen Wahl ein ganz normaler Vorgang und vielleicht auch ein sehr gelungenes Beispiel aus meiner Sicht. Wir hatten jetzt eben gerade kürzlich im Mai dieses Jahres die Situation, dass wir die Position einer Laienrichterin, eines Laienrichters am Verfassungsgerichtshof in Baden-Württemberg neu zu besetzen hatten, nach einem Todesfall. Und hier hat dann die AfD sofort für sich reklamiert, das sei quasi ihr Platz oder ihr Vorschlagsrecht, hat ihren Pressesprecher als Laienrichter für den Verfassungsgerichtshof vorgeschlagen. Die demokratischen Fraktionen haben sich dann auf einen eigenen Vorschlag verständigt und haben Rami Suleiman, den Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Baden zur Wahl vorgeschlagen. Und er ist dann auch mit großer Mehrheit vom Landtag gewählt worden, also auch das sind aus meiner Sicht Beispiele, die zeigen auch, was möglich ist. Und das ist etwas, wo man zu Beginn der Legislaturperiode noch sehr, sehr ängstlich war, weil man eher diesen Aspekt der Gepflogenheit so stark gewichtet hat, aber nicht gefragt hat, ob diese Gepflogenheit im Lichte der aktuellen Lage und Situation dann noch so weiter Gepflogenheit sein kann oder sein sollte. Und da bin ich ganz froh, dass sich manches da doch deutlich verändert hat und finde das ein sehr wichtiges Signal, und mehr als das. Denn es geht ja auch um die Besetzung von relevanten und wichtigen Positionen und Funktionen.
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Wenn ich das richtig erinnere, war die Laienrichterin, die zu ersetzen war, ja davor eine AfD-Politikerin oder zumindest ein AfD-Mitglied. Und das zeigt ja auch diese Lernkurve, glaube ich, noch mal deutlich, dass man gerade in Baden-Württemberg da auch am Anfang mehr mit der AfD zusammengemacht hat als vielleicht auch anderswo. Und wie das sich eben so ein bisschen shiften muss. Es gibt interessanterweise viele Beispiele, auch in anderen Bundesländern, die so ein bisschen die Probleme verdeutlichen oder sogar so einen autoritär-populistischen Touch haben. Also zum Beispiel in Berlin hat der Verfassungsgerichtshof das Problem gehabt, dass 6 von 9 Mitgliedern seit 2021, seit Sommer 2021, also seit drei Jahren nicht mehr im Amt sein sollten. Also da waren die Amtszeiten ausgelaufen und man hat es nicht geschafft mit der Wahl, mit der Wahlwiederholung, auch mit der Entscheidung über die Wahlwiederholung durch dieses Gericht hat man es nicht geschafft, Nachfolger zu wählen, hat man es auch nicht geschafft, eine Zweidrittelmehrheit zu erlangen. Und das ist zum Beispiel ein super problematischer Vorgang gewesen, weil der meines Erachtens auch schon im Widerspruch mit dem Recht auf einen gesetzlichen Richter steht. Also das wurde da so strapaziert. Ich unterstelle den Fraktionen da jetzt keine autoritär-populistische Strategie dahinter, aber es ist eben ein Beispiel auch dafür, dass es schon jetzt zu Problemen führt, eben diese Mehrheiten zu finden. Und ich hätte mir gewünscht, dass da das Bundesverfassungsgericht auch noch ein bisschen klarer zu urteilt, wann eben, der Landtag oder die Landesparlamente dann wirklich eine Entscheidung treffen müssen bzw. wenn sie das nicht schaffen, dass man dafür dann halt ein Ventil, eine Lösung und einen Kompensationsmechanismus einführt. Ein anderes Beispiel, wo so eine autoritär- populistische Strategie vielleicht keine Absicht, aber diese Strategie schon viel eminenter ist, ist diese Frage um konsultative Volksbefragungen, die ich kurz auch angedeutet hatte. Also bei konsultativen Volksbefragungen handelt es nicht um direkte Demokratie, wie man denken könnte, sondern es geht darum, dass die Regierung ein Instrument an die Hand bekommt, mit dem sie das Volk befragen kann zu einer bestimmten Frage, die sie sich selbst aussucht, wo sie entscheiden kann, zu welchem Zeitpunkt sie diese Frage stellt und in welcher Form. Und diese konsultative Volksbefragung kann den Eindruck erwecken, dass das Volk dazu irgendwas entscheiden darf. Es ist aber de facto nicht so, dass es entscheiden darf. Es kann höchstens so einen Hauch von Legitimation erzeugen. Und das war das Lieblingsinstrument der PiS und von Orban in Ungarn. Also gleichzeitig zu den Wahlen im Oktober in Polen hat die Regierung zum Beispiel noch mal vier solche Volksbefragungen durchgeführt und dann so eine Frage gestellt, wie: Sind Sie auch dagegen, dass die EU alle illegalen Migranten nach Polen schickt?“ Das sind dann so die Fragen, die man sich so ausdenken kann als autoritär-populistische Regierung. Und interessanterweise hat man es zum Beispiel in Bayern versucht, so eine Volksbefragung einzuführen. In Berlin ist es im Gespräch angesichts der Frage um das Tempelhofer Feld und in Sachsen in einer bisschen anders gelagerten Situation auch. Also, da sind so leicht problematische Anwandlungen da und ich finde, man sollte in dem Prozess, in dem so was ausgearbeitet wird, ganz deutlich darauf hinweisen, wie sehr diese Instrumente zu Manipulationen missbraucht werden können.
ROXANE KILCHLING:
Du hast gerade schon übers Bundesverfassungsgericht gesprochen. Möchtest du noch was zu der Frage im Frage-und-Antwort- Tool sagen in dem Kontext? Ich kann sie kurz vorlesen: Führt die Einführung eines 2/3-Quorums bei der Wahl des Bundesverfassungsgerichts nicht gerade dazu, dass eine 33-Prozent AfD zum Blockadespieler werden kann?
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Genau, das ist das Problem, das wir haben, wenn wir ein 2/3-Quorum vorsehen für eine Entscheidung, vor allem für so eine wichtige Entscheidung wie der Wahl der Richter*innen. Aber es ist eben auch so, dass dieses 2/3-Quorum zum Beispiel in Thüringen uns davor schützt, dass das Gericht übernommen wird, gekapert wird. So wie der Supreme Court in den USA, der eben jetzt die Entscheidungen sehr erwartbar zugunsten von Trump und den Republikanern formuliert. Dieses 2/3-Quorum sorgt dafür, dass diese Wahrscheinlichkeit nicht hoch ist. Und das ist schon mal eine gute Sache. Im Gegenzug hat man eben immer wieder das Problem, dass dann diese Sperrminorität, sofern es eine gibt, diese Wahlen blockieren kann. In Berlin gibt es keine Sperrminorität oder zumindest keine, die autoritär-populistisch motiviert ist. Und trotzdem ist es auch schwergefallen, 2/3-Mehrheiten zu generieren. Und deswegen plädieren wir dafür, dass man sich eine Kompensationslösung überlegt für den Fall, dass über einen bestimmten längeren Zeitraum diese Wahl nicht möglich ist. Und auf Bundesebene bietet es sich an, den Bundesrat zu fragen. Der wählt ohnehin die Hälfte der Bundesverfassungsrichter. Und man könnte sich vorstellen, dass man dann eben ein Gesetz schreibt, das vorsieht, dass der Bundesrat einspringt, wenn zwölf Monate keine Wahl möglich ist oder sechs Monate. Das kann man dann noch mal verhandeln, und dann wechselt eben dieses Vorschlagsrecht zurück zum Bundestag. Man kann sich das ja auch vice versa vorstellen. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass im Bundesrat diese Wahlen so sehr blockiert werden. Aber auch das ist denkbar. Und das wäre jetzt so eine Möglichkeit, wie man dieses Problem einfach auflösen kann. Und auf Länderebene müsste man sich das ein bisschen anders überlegen, weil es da eben nicht diese zweite Kammer gibt, dieses zweite Organ, das dann einspringen kann. Aber auch da gibt es Ideen, wie man das machen kann. Man könnte auch wieder den Zeitraum bestimmen, der ablaufen muss, ohne eine Wahl. Und dann könnte man dem Verfassungsgericht zum Beispiel ein Vorschlagsrecht einräumen und wenn zum Beispiel der Thüringer Verfassungsgerichtshof sich einigt auf 1, 2, 3 Kandidaten, dass diese Fragen wieder zurück ins Parlament spielt und dann aber das Quorum absenkt. Also dann nur die absolute Mehrheit der Stimmen reicht. Das wäre so eine Möglichkeit, wie man da dran vorbeikommt. Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten, die ich nicht unbedingt besser finde. So ein Selbstergänzungsrecht zum Beispiel. Oder die Möglichkeit, dass entweder der Dienstälteste oder vielleicht der Präsident des Oberlandesgerichts oder so dann einspringen für den Fall. Also es gibt Möglichkeiten, daran vorbeizukommen und ich finde es ganz wichtig, auch kreativ zu sein, wenn sich solche Problematiken abzeichnen. Und was noch eine ganz spannende Sache ist, ist, dass man ja eigentlich auch überlegen könnte, das Bundesverfassungsgericht für den Fall, dass das Oberste Gericht in dem Bundesland ausfällt, auch über einen gewissen Zeitraum, dass man dann sagt, das Bundesverfassungsgericht ist ab einem gewissen Zeitpunkt dann zuständig, um bestimmte Entscheidungen zu treffen. Auch das wäre sicherlich möglich.
ROXANE KILCHLING:
Ich würde gern noch mal übergehen zu der Frage des zivilen Verfassungsschutzes bzw. zu den Herausforderungen, größer zu mobilisieren. Du hast über Israel gesprochen und dass es dort gelungen ist, groß zu mobilisieren und zu sensibilisieren und klarzumachen, dass es die gesamte Zivilgesellschaft braucht. Zeigt das, dass die Situation erst mal sehr drastisch werden muss, bis so eine Mobilisierung möglich ist? Und zeigt nicht auch der Blick nach Thüringen, nach Sachsen, Sachsen-Anhalt, gleichzeitig, dass zu so einem Zeitpunkt die Zivilgesellschaft schon so unter Druck steht? Vor allem die, die sich schon lange engagieren, dass da die Räume immer kleiner werden oder schon verschwunden sind? Also, dieses Dilemma hat man ja. Es muss erst mal drastisch werden. Die Gefahr muss erst mal klar sein, dass Leute sich angesprochen fühlen und gleichzeitig ist dann der Handlungsspielraum umso geringer. Was braucht es, damit ziviler Verfassungsschutz gelingen kann? Welche Rahmenbedingungen sind da wichtig? Also Frage an euch beide.
OLIVER HILDENBRAND:
Es ist ja nicht selten, dass es gewisse Vorfälle, Ereignisse oder was auch immer braucht, die dann eine gesellschaftliche Mobilisierung auslösen. Also die Correctiv-Recherchen waren ja durchaus so ein Moment. Wenn man ganz ehrlich ist, für diejenigen, die sich mit der rechtsextremistischen Szene und der Tendenz zu Gewalt und Militanz auseinandersetzen, war dieses Treffen in Potsdam jetzt keine Besonderheit oder etwas, was jetzt völlig singulär mal stattgefunden hat. Das findet regelmäßig statt. Die Vernetzung ist real, und die findet nicht nur bei einem Treffen in Potsdam statt, sondern durchaus kontinuierlich in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Nichtsdestotrotz war das ja ganz erkennbar ein Momentum, das mobilisierend gewirkt hat. Ja, wir haben Demonstrationen gesehen mit Zehntausenden, mit hunderttausenden Menschen. Ich denke, das war sehr, sehr wichtig. Und jetzt, das ist gerade so ein Thema, das mich sehr umtreibt, erlebe ich es so, dass viele von denen, die da engagiert waren, im Lichte des Ergebnisses der Europawahl insbesondere, sehr ernüchtert, vielleicht sogar frustriert sind und sich fragen: Hat das überhaupt irgendwie was gebracht? Hat es nichts gebracht? Und da muss ich sagen, wir sollten nicht so schnell übersehen, dass die AfD in Umfragen bei weit über 20 Prozent auch gehandelt wurde für diese Europawahl. Jetzt ist das, wie sie abgeschnitten haben, immer noch viel zu viel. Das ist für mich keine Frage. Aber ich glaube, wir müssen schon darauf gucken, dass wir diejenigen, die erkannt haben, dass man was tun muss, dass die jetzt nicht aus weiterhin auch schwierigen Entwicklungen und Rückschlägen sich dahingehend frustrieren oder ernüchtern lassen, dass sie diese Aktivitäten wieder einstellen. Also das ist, glaube ich, gerade echt ein wichtiges Thema, worum sich auch die politischen Parteien, die politischen Amts- und Mandatsträger*innen dringend kümmern müssen. Gerade jetzt die Kontakte zu diesen Netzwerken, die vor Ort entstanden sind, nicht abreißen zu lassen, sondern möglichst auch daran anzuknüpfen. Das scheint mir sehr, sehr wichtig, weil diese ja Stimmungslage ist meiner Beobachtung nach schon da, dass das jetzt erst mal als ein ziemlicher Rückschlag empfunden wird und gerade jetzt darf man aber nicht nachlassen. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, diese Mobilisierung auch zu erhalten. Denn das wissen wir, auch wenn das erst mal ganz wieder weg ist, sozusagen neu, ganz neu zu mobilisieren ist immer schwieriger. Ich hoffe, dass viele von den Strukturen, von den Aktiven da auch weiter am Ball bleiben. Und das sollten wir nach Kräften unterstützen.
FRIEDRICH ZILLESSEN:
Ich bin kein Wahlforscher und ich habe vor allem die Thüringer Umfrageergebnisse mal im Kopf gehabt. Aber als es diese Proteste gab, da ist ja dann plötzlich diese Dynamik durchbrochen worden, gerade in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, die die AfD hatte. Also, es ging irgendwie bei jeder Umfrage 1 Prozent hoch über einen langen Zeitraum und dann gab es die Proteste und dann wurde diese Dynamik unterbrochen und die AfD hat auch ein paar Prozentpunkte verloren. Dann war aber nicht so ganz klar und es haben auch viele zu Recht gewarnt, dass es sein kann,, dass es an BSW liegt und nicht an diesen Protesten. Und das fand ich ganz interessant, dass wir dann gesehen haben, jetzt zu den Europawahlen, die ja überhaupt erst mal diese Umfrage-Werte auch für BSW validiert haben. Gerade auch in Thüringen, das wir gesehen haben, die meisten Wähler sind gar nicht von der AfD zu BSW gegangen, sondern sie sind von anderen Parteien gekommen und insbesondere von der SPD. Und das hat mir wiederum im Nachhinein noch mal gezeigt, dass es tatsächlich an den Protesten lag, dass diese Dynamik der AfD durchbrochen wurde und dass da die Prozente gepurzelt sind. Also, das finde ich, sollte man auch so für sich erkennen. Und deine Frage zielt natürlich schon auch genau ins Schwarze, weil der zivile Verfassungsschutz in seiner Endform in dieser Weise in der israelischen Ausprägung der ist, der findet statt, wenn es kurz vor zwölf steht, also dann ist es eigentlich schon zu spät und dann muss man auf die Straße. Dann müssen alle Demokrat*innen dafür einstehen, dass der Schachzug nicht gespielt wird. Das ist schon so eigentlich mit das letzte Mittel. Aber deswegen habe ich ja auch von diesen vier Säulen immer gesprochen, denn zum zivilen Verfassungsschutz gehört noch ein bisschen mehr. Und diese Policy Arbeit, die setzt eigentlich einen Ticken früher ein, im Idealfall. Das Problem ist natürlich, dass das immer irgendwie auch diesen Anlass, diese Bedrohung braucht, dass man sich eben damit auseinandersetzt. Und ehrlich gesagt sind wir ja auch ein Ticken zu spät gewesen mit diesem Policy Paper. Also, das hätte man ja früher lancieren müssen, dann hätte man da hartnäckig dran arbeiten müssen, dass es die Mehrheiten gibt für die wichtigsten Änderungen. Also, auch da war es schon so ein bisschen zu spät und ich fürchte, dass die anderen Bundesländer, dass die gerade auch im Westen diesen Druck nicht so sehr spüren, um sich dazu aufzuraffen. Druck, damit es da eben ähnliche Untersuchungen gibt, ähnliche Projekte, die noch frühzeitiger ansetzen. Natürlich fängt dann so was an wie politische Bildungsarbeit oder so ein Format wie das, was wir jetzt heute Abend haben. Also, dieses Kommunizieren von unseren Erkenntnissen, von überhaupt, von dieser Grundbotschaft, dass keine Verfassung jemals völlig wasserdicht sein kann und sich zu jeder Seite hin absichern kann. Das setzt natürlich vorher an und so Workshops mit Beamt*innen, zum Beispiel mit Entscheidungsträgern. Das ist wahnsinnig hilfreich. Und auch da will ich sagen einer der wichtigsten Resilienzeffekte, die wir erzielen konnten, war auch einfach durch diese Recherchegespräche mit den 100, über 130 Entscheidungs- und Funktionsträger*innen, denn die haben eigentlich alle irgendwie was in dem Gespräch gelernt. Das war meistens auch total sichtbar, weil sie sich selbst schon Gedanken gemacht hatten. Und dann kam ein Szenario, was sie sich selbst noch gar nicht vorstellen konnten und dieses Vorbereiten ist glaube ich auch schon wahnsinnig wirksam gewesen.
ROXANE KILCHLING:
Ich finde das auch einen wichtigen Punkt, also der Versuch oder der Anspruch, die breite Masse, sag ich jetzt mal, anzusprechen, zu informieren, zu erreichen, überhaupt erst mal mit so einem komplexen Thema, einem Thema, das auch unangenehm ist, mit dem man sich eigentlich nicht oder mit dem sich viele Menschen nicht auseinandersetzen wollen, ist super schwierig und da kann es, glaube ich, total sinnvoll sein, gezielter auf Gruppen zuzugehen, also auf Berufsgruppen, wie ihr es jetzt macht, auf Lehrkräfte, auf die Beamt*innen, die ja auch in ihrem Arbeitsalltag vor allem damit beschäftigt sind und zu wenig an die Hand kriegen, an Orientierung und Hilfestellung. Das ist glaube ich etwas, was dringend mehr gemacht werden muss. Noch ein anderer Aspekt: Diese Correctiv-Recherche. Also, Oliver, du hast gesagt, dass viele jetzt schon enttäuscht sind oder die Motivation stark abgeflacht ist. Nach den Correctiv-Recherchen ist ja auch eine Diskussion entstanden zwischen verschiedenen Gruppen, die unterschiedlich betroffen sind. Also, Leute, die erschrocken waren und auf die Straße gegangen sind für Demokratie und Leute, die dann gesagt haben, „schön, dass es euch jetzt auffällt, aber wir sind davon schon längst betroffen und noch viel existenzieller betroffen, weil wir sind mitgemeint von diesen Abschiebeplänen“. Da gab es ja schon auch so einen Dissens, auch zwischen Gruppen und verschiedene Vorwürfe. Aber dieser Aspekt der Solidarität, also dass man einerseits für Demokratie kämpft, aber andererseits auch für eine vielfältige Gesellschaft und solidarisch ist, ist glaube ich auch noch mal ein besonderer Aspekt bei der Correctiv-Recherche gewesen. Vielleicht ist das auch was, was noch mal ein Antrieb sein kann, sich nicht nur für Demokratie, sondern auch für andere Menschen einzusetzen.
OLIVER HILDENBRAND:
Ich glaube, dass du da einen sehr wichtigen Aspekt ansprichst, weil das hat ja noch mal deutlich vor Augen geführt, diese Deportationsfantasien, die dort ausgetauscht und geplant ja auch worden sind, die haben, glaube ich noch mal deutlich gemacht, dass dieser ja doch immer etwas abstrakte Begriff Demokratie verteidigen, Demokratie schützen, sondern es geht auch um die Freiheit und die Würde jedes und jeder Einzelnen, also um die Frage der Vielfalt unserer Gesellschaft und wie wir zusammenleben. Und das war, glaube ich, ein ganz wichtiger Aspekt dabei. Und ich will die Motivation in keiner Weise weg reden. Ich freue mich, wenn sie erhalten bleibt. Ich will uns damit dazu aufrufen, dazu beizutragen, dass die Motivation erhalten bleibt, weil es so wichtig ist. Und was mich da auch zuversichtlich macht, ist, dass eben vielfach ja auch wirklich Gesprächskreise, Strukturen, Formate entstanden sind, wo ja auch genau das stattgefunden hat, dass sich Leute auch durchaus nicht immer ganz spannungsfrei erst mal verständigen mussten. Wie wollen wir das denn gestalten? Und bei verschiedenen Diskussionsformaten dieses Im-Gespräch-sein, ist ja einfach auch wahnsinnig wichtig. Das war ja gerade auch eine Stärke dieser Bündnisse, dass die durchaus vielgestaltig waren und Leute mit ganz verschiedenen Hintergründen da auch zusammengekommen sind, und sich darüber verständigt haben, wie sie das für ihr Bündnis dann auch als gemeinsame Aktivität oder gemeinsame Aktion ausgestalten wollen. Also, das ist ja sozusagen auch noch ein ganz wichtiger Aspekt dabei gewesen. Und ich persönlich glaube auch, dass diese Correctiv-Recherchen noch mal aufzeigen, dass die Arbeit, die gerade auch von vielen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, aber auch im Journalismus geleistet wird, dieses rechtsextreme Strukturen analysieren, dann auch transparent machen, sich genauer anschauen, mit wem haben wir es da eigentlich zu tun? Mit was haben wir es da eigentlich zu tun? Das ist hoffentlich auch noch mal gestärkt worden. Wir haben ja in Baden-Württemberg mit dem Dokumentationszentrum Rechtsextremismus im Generallandesarchiv Karlsruhe eine wichtige Institution, jetzt gerade im Aufbau eine Forschungsstelle Rechtsextremismus in Tübingen, die jetzt gerade die Arbeit aufnimmt. Also ich glaube, das ist einfach auch noch mal superwichtig und für mich auch ein Teil des zivilen Verfassungsschutzes. Das ist nicht nur eine Aufgabe für die Sicherheitsbehörden oder für die Politik oder für die Verwaltung, für die staatlichen Institutionen, auch, aber auch für die Wissenschaft, auch für die Zivilgesellschaft, für jede und jeden Einzelnen. Und ich glaube, dass der Dialog zwischen all diesen sehr wertvoll ist, weil da noch mal Perspektiven zusammengetragen werden können, wo sonst blinde Flecken irgendwie bleiben. Und das ist aus meiner Sicht auch eine ganz wichtige Entwicklung. Und ich hoffe, dass die Forschungsstelle und die Dokumentationsstelle in Karlsruhe da einen wichtigen Beitrag leisten können und bin davon überzeugt, weil das so engagierte Leute sind, die das machen. Da bin ich echt sehr, sehr froh drum. Und ich denke, das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt, der auch dieses zivilgesellschaftliche Engagement sehr, sehr verstärken kann.
ROXANE KILCHLING:
Vielen Dank an euch beide für eure Ausführungen und an Dich auch, Oliver, für die Herstellung von Bezügen hier zur Situation in Baden-Württemberg. Danke an alle, die zugehört haben.