Christiane Benner ist erste Vorsitzende der Männergewerkschaft IG Metall und damit die erste Frau an der Spitze der größten Gewerkschaft der Welt. Maike Rademaker spricht mit ihr über die wirtschaftlichen Herausforderungen, die Stellung von Frauen in den Betrieben, über das Fehlen von Kinderbetreuungsplätzen, die Forderung nach Entgeltgerechtigkeit und über partnerschaftliches Verhalten im Betrieb.
Frau Benner, bevor Sie zur ersten Vorsitzenden der größten freien Einzelgewerkschaft der Welt gewählt wurden, gab es erhebliche Unruhe in der Männergewerkschaft IG Metall – man konnte sich Sie in dieser Position offenbar nur schwer vorstellen. Wie sieht es jetzt aus?
Alle fünf in unserem Team der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder sind mit starken Ergebnissen gewählt worden. Meine 96,4 Prozent sprechen für sich.
Kein leichter Start: Gerade die Metallbranche steht ja wirtschaftlich enorm unter Druck.
Richtig ist: Die wirtschaftliche Situation ist alles andere als einfach, aber das war sie vor meiner Wahl auch schon nicht. Und da hatten wir noch nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt, das nun erschwerend hinzugekommen ist, weil als Folge dessen in wichtigen Transformationsfeldern Investitionen fehlen. Im Fokus steht für die IG Metall, unsere Betriebe zu erhalten und für möglichst viele Beschäftigte Perspektiven zu schaffen.
Wie hoch ist der Prozentsatz an Frauen in der IG Metall Mitgliedschaft?
Wir haben derzeit 18,3 Prozent weibliche Mitglieder, das sind in absoluten Zahlen rund 400.000 weibliche Mitglieder. Damit sind wir einer der größten Verbände, der Frauen organisiert – und das in einer Branche, die immer noch sehr stark männlich geprägt ist. Es gibt also noch Luft nach oben. Positiv finde ich, dass die Betriebsratsgremien im Organisationsbereich der IG Metall einen Frauenanteil von fast 25 Prozent haben.
Werden es denn mehr Mitglieder?
Seit der Corona-Pandemie stagniert die Zahl – vor der Pandemie hatten wir stark wachsende Zahlen. Da hat die Pandemie ihr Gesicht gezeigt, in der Zeit wurden ja vor allen Dingen Frauen stark zurückgeworfen, sie haben einen größeren Teil der Sorgearbeit übernommen, sie waren und sind vor große Herausforderungen gestellt, weil die öffentliche Kinderbetreuung nicht ausreicht. Aber wir werben um Frauen als Mitglieder, schon seit Jahren, das ist für uns ein wichtiges Thema.
Und wir stellen auch die Weichen in der IG Metall: gleichzeitig zu meiner Wahl wurde nun auch über eine Satzungsänderung sichergestellt, dass künftig eine der ersten beiden Vorsitzenden eine Frau sein muss. Quotenregelungen für die Aufsichtsräte haben wir uns schon lange vor dem Gesetz gegeben. Und wir haben Frauenbildungswochen und Netzwerke, wo sich hunderte Frauen treffen und engagieren. Da ist richtig Power dahinter!
Wieviel Frauen leiten einen Bezirk bei der IG Metall? Das ist ja ein einflussreicher Posten
Eine von sieben, nämlich Barbara Resch in Baden-Württemberg. Das ist ausbaufähig, keine Frage, und das werden auch mehr, da bin ich zuversichtlich. Es bewegt sich ja was: In den 150 Geschäftsstellen hat sich der Anteil weiblicher Führungskräfte seit 2006 vervierfacht, auf 25 Prozent.
Gehen wir in die politischen Themen: Auf EU-Ebene gibt es seit Sommer 2023 eine neue Richtlinie gegen Lohndiskriminierung geplant, um endlich den Gender-Pay-Gap zwischen Frauen und Männern zu schließen. Dabei haben wir in Deutschland seit 2017 das Entgelttransparenzgesetz. Reicht das nicht?
Nein, die nationale Gesetzgebung reicht hier überhaupt nicht. Wir haben in Deutschland immer noch eine Lohnlücke von 18 Prozent. Die neue EU-Richtlinie, die wir als Gewerkschaften auch gefordert haben, ist deswegen ein ganz wichtiges Signal. Wir wollen ein echtes Gleichstellungsgesetz. Notwendig sind regelmäßige Prüfverfahren, die nach einheitlichen Kriterien aufgestellt werden. Aus der Debatte, wie die Richtlinie in die nationale Gesetzgebung verankert wird, werden wir die Bundesregierung auch nicht rauslassen.
Welche Rolle spielen Tarifverträge bei diesem Gender-Pay-Gap? Tarifverträge sagen ja: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Trotzdem gibt es in tarifgebundenen Betrieben diese Lücke. Gibt es hier Nachbesserungsbedarf auf Gewerkschaftsebene?
Wir prüfen unsere Tarifverträge sehr genau darauf. Und insgesamt stellen sich Frauen in tarifgebundenen Betrieben finanziell deutlich besser – sie verdienen zum Beispiel in der Metall- und Elektroindustrie im Schnitt monatlich rund 1.400 Euro mehr als Frauen in Betrieben ohne Tarifvertrag. Das hat das statistische Bundesamt gerade mit neuen Zahlen nachgewiesen. Tarifverträge sind ein Garant für Gleichstellung. Das entlässt uns nicht aus der Pflicht, das nachzuprüfen. Wir stellen zum Beispiel fest, wenn Frauen aus der Elternzeit zurückkehren, und zum Beispiel einen Teilzeitwunsch äußern, dass Unternehmen ihnen plötzlich andere Stellen anbieten, die nicht so vergütet sind, weil angeblich der alte Arbeitsplatz nicht teilzeitfähig ist. Das sind so Stellschrauben, wo man genau hingucken muss.
Weiterhin strukturelle Benachteiligung von Frauen
Es gibt also keine strukturelle Benachteiligung nach dem Motto: Du warst jetzt drei Jahre nicht da, also gibt es weniger Geld.
Nein, die Systematik unserer Tarifverträge schaut auf die tatsächliche Tätigkeit, auf die Anforderungen der Aufgabe. Wer zum Beispiel an der Pforte arbeitet, wird nach der entsprechenden Einstufung bezahlt, egal ob jemand einen Doktortitel hat oder Kinder oder einige Jahre ausgesetzt hat. In der Praxis gibt es aber strukturelle Nachteile: Frauen hängen oft in den unteren Entgeltgruppen fest. Gerade wenn sie in Teilzeit arbeiten. Ihnen wird weniger zugetraut: sie bekommen nicht die „wichtigen“ Projekte – sie könnten ja angeblich jederzeit ausfallen, wenn sie Kinder haben. Führungskräfte hängen manchmal noch in der Steinzeit fest und sehen nicht, dass sie da super engagierte und gut strukturierte Leute haben.
Eigentlich sind die Zeiten für Frauen optimal - dank des Fachkräftemangels könnten sie jetzt bei den Löhnen richtig nachverhandeln. Schließlich wird jede Arbeitskraft gebraucht. Tun sie es?
Die Ausgangslage ist gut. Und wir bieten den Frauen auch viel Unterstützung an. Aber wir kämpfen gegen Bilder, die immer noch gültig sind: Eine Frau fordert nicht regelmäßig eine Gehaltserhöhung, weil zum Beispiel neue Aufgaben hinzugekommen sind. Hier sehen wir unsere Aufgabe, die Mitglieder zu unterstützen. Wir qualifizieren sie für Gehaltsverhandlungen und informieren, auch über die Betriebsräte.
Bilden Frauen hier immer noch zu wenig Bündnisse für solche Fragen?
Das ist immer noch ein Faktor, aber wir beobachten, dass sich in den Betrieben immer mehr Frauennetzwerke bilden, zum Beispiel das Löwinnen-Netzwerk bei MAN, oder die Frauenplattformen bei BMW – da bin ich auch Schirmherrin. Die Männer haben zwar noch einen Vorsprung, aber da tut sich viel – auch mit unserer Hilfe.
Arbeitssouveränität für Frauen und Betreuungsplätze für Kinder schaffen
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird für Frauen immer schwieriger: Einerseits wollen sie arbeiten und brauchen ein zweites Einkommen - andererseits funktioniert die dafür notwendige Kinderbetreuung immer schlechter. Was tut die IG Metall dagegen?
Wir drehen an einer anderen Stellschraube: Mehr Zeit. Arbeitszeitsouveränität ist ein ganz wichtiges Thema. Wir haben ja schon 2018 unseren Tarifvertrag durchgesetzt, wo wir es erstmalig ermöglicht haben, dass Geld in Zeit umgewandelt werden kann, für Beschäftigte mit kleinen Kindern, die Angehörige pflegen oder in Schicht arbeiten. In der nächsten Tarifrunde wird die Arbeitszeitsouveränität voraussichtlich auch wieder eine Rolle spielen. Das ist ein Riesenthema. Frauen melden uns bei Befragungen regelmäßig zurück, dass sie mehr, und Männer, dass sie weniger arbeiten wollen. Viele Frauen stecken ja auch unfreiwillig in Teilzeit, weil Arbeitgeber sie nicht wieder auf Vollzeit stellen lassen. Da könnte man sich eigentlich gut in der Mitte treffen, wenn hier auch die gesetzlichen Stellschrauben besser eingestellt werden – Stichwort: Rückkehrrecht in Vollzeit.
Mehr Mitbestimmung bei der eigenen Arbeitszeit steht und fällt aber auch in Ihrer Branche mit der Kinderbetreuung.
Ja, das ist richtig, wir haben zwar mehr Kitaplätze, aber das reicht einfach nicht. Laut Untersuchungen ist der Bedarf einfach wesentlich höher. Aktuelle Zahlen zeigen, dass deutschlandweit ca. 400.000 Betreuungsplätze fehlen. Und die Rahmenbedingungen stimmen nicht, wie z.B. die Öffnungszeiten, die nicht mit den Schichtplänen übereinstimmen, oder die Qualität der Kitaplätze. Es gibt noch viele Herausforderungen.
Eine Lösung sind Betriebskindergärten. Das passt dann auch zu den Schichtzeiten. Ist die Metallindustrie hier aktiv?
Ja, die Betriebsräte haben auch Mitbestimmungsrechte und setzen sich durchaus für Betriebskindergärten ein. Es gibt Unternehmen, die das anbieten, wie MAN in Augsburg, aber das sind noch wenige. Man muss auch sagen: Es ist eine riesige Herausforderung, so einen Betriebskindergarten einzurichten. Ich sehe das erst einmal als Aufgabe der Politik, hier aktiver zu werden.
Wie bewerten Sie die Frauen- und Familienpolitik der Ampel allgemein?
Unser Dachverband, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), hat kürzlich analysiert, inwieweit die Gleichstellungsvorhaben der Bundesregierung aus dem Koalitionsvertrag bereits umgesetzt sind. Das Urteil ist vernichtend. Nehmen wir die Familienstartzeit. Da geht es darum, dass der Vater oder die andere Mutter nach der Geburt des Kindes eine zehntägige Freistellung bekommt. Die Bundesfrauenministerin, Lisa Paus, hat hier einen guten Entwurf vorgelegt - er ist noch in der Ressortabstimmung. Diese Freistellung ist überfällig - deshalb hat die EU jetzt auch ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, denn nach der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie muss das umgesetzt werden.
Ein umstrittenes Vorhaben im Koalitionsvertrag ist die Ausweitung der Minijobs, der ehemalige Präsident des Sozialgerichts Schlegel hat gerade gefordert, sie abzuschaffen und nur noch für Rentner und Studierenden zuzulassen. Wie stehen Sie dazu?
Minijobs spielen in unserem Organisationsbereich eine sehr überschaubare Rolle. Wir arbeiten eher an den Rahmenbedingungen für Frauen, die in Vollzeit arbeiten wollen. Da passt, dass bei uns vielfach die 35-Stunden-Woche gilt. Trotzdem haben wir natürlich gesehen, wieviele Nachteile gerade die Beschäftigten im Niedriglohnsektor während der Pandemie hatten. Da sind Frauen direkt in die Arbeitslosigkeit gerutscht, weil sie keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld hatten. Wir müssen erreichen, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen und damit ihre eigenständige Absicherung gelingt.
Lohnsteuerklasse 5 und Ehegattensplitting abschaffen
Wie soll das gehen?
Es sollte endlich die Lohnsteuerklasse 5 abgeschafft werden. Mit der jetzigen Steuerkonstruktion entscheiden sich Frauen häufig dafür, zu Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern, allenfalls noch mit einem Nebenjob. Deswegen sind in dieser Lohnsteuerklasse zu 93 Prozent Frauen. Das hat massive Auswirkungen, weil Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld am Nettoeinkommen berechnet werden. Das müssen wir überwinden und abschaffen. Beim Ehegattensplitting haben wir gemeinsam mit dem DGB Vorschläge erarbeitet, wie eine gerechte Steuerreform aussehen könnte. Denn bisher fördert das Splitting nicht die Familie, sondern die Ehe - auch wenn es keine Kinder gibt oder sie längst aus dem Haus sind. Das kostet den Steuerzahler - je nach Schätzung - bis zu 22 Milliarden Euro im Jahr. Damit könnten zum Beispiel Familien mit Kindern gezielter entlastet werden.
Interessieren sich Frauen nicht genug für ihr Geld, um solche Entscheidungen zu treffen?
Ich glaube, das ist ein Vorurteil. Aber sie könnten sich mehr dafür interessieren, vor allem was die Vorsorge fürs Alter angeht. Wir haben beim DGB dazu ein sehr erfolgreiches Projekt, „Was verdient die Frau“.
Aber auch die Politik muss die Weichen so stellen, dass aus der Kombination von Teilzeit, geringerem Einkommen, Ehegattensplitting und Hinzuverdienstregelungen am Ende nicht Altersarmut wird und Frauen im Alter unabhängig bleiben. Die Scheidungsraten sind hoch, dass vergessen viele Frauen. Unsere Aufgabe als Gewerkschaft ist es auch, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Wahlfreiheit gibt. Wir geben hier nichts vor, aber wir weisen darauf hin, welche Folgen welche Entscheidung haben kann, und arbeiten mit unserer Politik daran, dass die Folgen nicht so ungleich verteilt sind, wie es jetzt der Fall ist.
Welche frauenpolitische Forderung hat derzeit Priorität bei der IG Metall?
Neben der Entgeltgerechtigkeit, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dem Ziel, Frauen gut durch die Transformation zu bringen, haben wir derzeit ein großes Thema: Partnerschaftliches Verhalten im Betrieb. Es ist jetzt gesetzlich vorgeschrieben, dass jeder Betrieb eine Anlaufstelle für Diskriminierung, Rassismus oder Belästigung haben muss. Es gibt noch viele weiße Flecken in der Landschaft, große Lücken, die wir schließen wollen. Wir kümmern uns um entsprechende Betriebsvereinbarungen, in denen klar geregelt ist, was bei Fehlverhalten passiert, wer Ansprechpartner ist, wie Beschäftigte qualifiziert werden, um solche Situationen zu vermeiden und eine Kultur zu schaffen, in der sich alle wohl und sicher fühlen.
Ganz schön viele Aufgaben für eine Vorsitzende. In der IG Metall gilt die 35-Stunden-Woche. Halten Sie sie die ein? Und was machen Sie zum Ausgleich?
Nein, da bin ich ehrlich, eine 35-Stunden-Woche habe ich nicht. Deswegen brauche ich als Ausgleich auch meinen Sport. Ich laufe sehr gerne am Main meine Runden, gern gemeinsam mit meinem Mann und fahre, wenn es möglich ist, mit dem Fahrrad zur Arbeit.
Frau Benner, vielen Dank für das Gespräch!
Christiane Benner ist Soziologin und Gewerkschaftsfunktionärin. Seit 2023 ist sie als erste Frau Erste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, nachdem sie bereits im Jahr 2015 als erste Frau in der 125-jährigen Geschichte der IG Metall in deren Führungsspitze gewählt worden war.
Maike Rademaker ist freie Journalistin und Moderatorin und arbeitet zu Wirtschafts- und Umweltthemen. Sie war Redakteurin bei der Financial Times Deutschland und Kommunikationschefin beim Deutschen Gewerkschaftsbund.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de