20. August 2020 von Sabine Muscat und Nora Löhle
Die Vizepräsidentschaftskandidatin der US-Demokraten streitet für die Rechte von Minderheiten und sozial Schwachen – für saubere Luft, faire Arbeitsbedingungen und Freiheit von Diskriminierung. Dabei stellt sie sich nicht gegen das System – bei Themen wie Energiewende, Strafverfolgung oder Tech-Regulierung galt sie bisher nicht als progressiv.
„Gegen Rassismus gibt es keinen Impfstoff.“ In ihrer Nominierungsrede beim Demokratischen Parteitag nahm Kamala Harris die beiden großen Themen des Jahres 2020 auf: die Coronavirus-Epidemie und die „Black Lives Matter“-Bewegung. Das Virus sei kein „equal opportunity offender“, sagte sie auch: Es greift nicht ohne Ansehen der Hautfarbe an, sondern es trifft überproportional Schwarze und andere Minderheiten in den USA – die oft ökonomisch schwächer gestellt sind.
Mit ihrer Ernennung zur Vizekandidatin von Joe Biden hat Harris selbst eine historische Hürde genommen: Die 55 Jahre alte Tochter einer indischen Einwanderin und eines Jamaikaners wäre bei einem Wahlsieg die erste Schwarze Vizepräsidentin der USA. In ihrer Rede schildert sie, wie ihre bürgerrechtsbewegte Mutter ihr beigebracht habe, jeden Menschen als gleichwertig zu betrachten.
Der Kampf für Gerechtigkeit zog sich durch Harris‘ Laufbahn. Trotzdem ist sie vielen im linken Flügel ihrer Partei nicht progressiv genug. Harris hat sich aktiv für Frauen, Minderheiten und sozial Schwache eingesetzt – ohne an den ökonomischen und politischen Strukturen zu rütteln. In Kalifornien kommen Afroamerikaner*innen fünf Mal häufiger im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung ins Gefängnis. Progressive Aktivist*innen werfen Harris vor, dass sie ihre Zeit als oberste Staatsanwältin in Kalifornien nicht genutzt habe, um diese Statistik zu ändern.
Priorität auf Umweltgerechtigkeit, weniger auf Klimawandel
Einsatz für konkrete Rechte, aber keine Systemkritik. Beim Thema Umweltschutz wurde dieses Muster ebenfalls sehr deutlich. Harris setzt sich seit vielen Jahren für Umweltgerechtigkeit ein – etwa für Zugang zu sauberem Trinkwasser in einkommensschwachen Gemeinden –, aber zu Themen wie Energiewende oder Klimaschutzzielen war von ihr wenig zu hören.
Als Bezirksstaatsanwältin (District Attorney) in San Francisco rief sie 2005 eine neue Abteilung für Umweltgerechtigkeit ins Leben. Sie begründete dies mit der Aussage: „Verbrechen gegen die Umwelt sind Verbrechen gegen Gemeinden und damit Menschen, die oft arm und vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.“
Als Generalstaatsanwältin von Kalifornien verweigerte sie die Zustimmung zum Ausbau einer Chevron Raffinerie in einem Gebiet, in dem überwiegend People of Color lebten. Southern California Gas Co. verklagte sie für eine Methan-Explosion nahe Los Angeles. Harris trat außerdem der Vereinigung „United for Clean Power“ von 17 Generalstaatsanwält*innen bei, die sich dazu bekannte, fossile Unternehmen für ihre Verursachung von Klimawandel zur Verantwortung zu ziehen.
Das heißt aber nicht, dass Harris eine klimapolitische Vorreiterin war. Der angekündigte Kampf gegen die Fossilindustrie blieb ein Lippenbekenntnis. Umso mehr wurde sie kritisiert, nachdem sie in einer Vorwahl-Debatte fälschlicherweise behauptet hatte, sie hätte ExxonMobil für ihr Klimaverbrechen vor Gericht gebracht.
Als Präsidentschaftskandidatin wurde sie für ihr fehlendes Klima-Profil kritisiert. Einen großen Fauxpas beging sie, als sie die Teilnahme an der Town Hall Debatte zur Klimakrise zunächst zugunsten eines Spenden-Events absagte. Nach öffentlicher Kritik revidierte sie und nahm dann doch teil. Erst dieser Anlass nötigte sie ein eigenes Klimaprogramm vorzustellen. Darin forderte sie ambitionierte Klimainvestitionen von 10 Milliarden US-Dollar in den nächsten zehn Jahren und einen CO2-Preis, verbunden mit dem sozialpolitischen Ansatz einer Dividende an Haushalte. Zu einem Verbot von Fracking konnte sie sich nicht durchringen. Immerhin kündigte sie in diesem Wahlkampf an, keine finanzielle Unterstützung von der Öl- und Gaslobby anzunehmen.
Freundschaft zu Big Tech
Im Umgang mit der wichtigsten Branche ihres Heimatstaates, den Technologiekonzernen im Silicon Valley, folgte sie einem ähnlichen Drehbuch: Sie trat für Arbeitnehmer*innen- und Bürgerrechte ein, ohne die Macht der Konzerne direkt in Frage zu stellen. Als Generalstaatsanwältin ging sie hart gegen Werbung für sexuelle Angebote im Internet vor und erwirkte die Schließung der Vermittlungsseite Backpage – nicht zur Freude von Sexarbeiter*innen, für die die Seite einen gewissen institutionellen Rahmen bot. Harris, die den Betreibern Sexhandel vorwarf, verteidigt ihren Kampf gegen die Plattform bis heute mit dem Schutz Minderjähriger.
Als Kandidatin im Vorwahlkampf der Demokraten setzte sie sich für die Entkriminalisierung der Prostitution ein. Die Szene blieb skeptisch, weil sie 2008 in Kalifornien gegen einen Volksentscheid mit diesem Ziel gewesen war. Aber die Thematisierung der Arbeitsrechte von Sexarbeiter*innen war ein Novum in einem US-Präsidentschaftswahlkampf, und Beobachter*innen erwarten, dass eine Biden-Harris-Regierung sich insgesamt für die Stärkung der Arbeitnehmer*innenrechte einsetzen würde. Etwa in der Gig Economy – nach dem Vorbild eines kalifornischen Gesetzes, das gegen Scheinselbstständigkeit bei Unternehmen wie Uber und Lyft vorgeht.
Das Geschäftsmodell der Plattform-Wirtschaft stellt Harris dagegen nicht grundsätzlich in Frage – anders als ihre Mitbewerberin um die Demokratische Präsidentschaftskandidatur Elizabeth Warren, die als Senatorin und im Vorwahlkampf gegen die Monopolmacht der großen Tech-Konzerne wetterte. Als kalifornische Generalstaatsanwältin hätte Harris nach Ansicht von Expert*innen rechtliche Schritte einleiten können, als Facebook sich 2012 den Wettbewerber Instagram und 2014 den Nachrichtendienst WhatsApp einverleibte – aber sie tat es nicht.
Beim Thema Technologiepolitik ist Harris ein Produkt der Obama-Ära, in der die Silicon-Valley-Chefs, die heute vom Kongress verhört werden, Rockstar-Status hatten. Ihre Freundschaft mit Facebook-COO Sheryl Sandberg ist kein Geheimnis, und als Sandberg 2013 ihr Buch „Lean in“ herausgab, fand niemand etwas dabei, dass Harris als eine weitere erfolgreiche Frau in einer Männerdomäne an der Vermarktung mitwirkte. Als kalifornische Politikerin pflegt sie enge Kontakte zur Tech-Elite – ihren Wahlkampf für die Senatswahl 2016 finanzierte sie mit Spenden aus diesem Umfeld, und auch im Vorwahlkampf für die diesjährige Präsidentschaftswahl galt sie unter Spender*innen aus dem Sektor als Favoritin, bevor ihr Pete Buttigieg diesen Rang ablief.
Offen für Kritik und Mut zur Weiterentwicklung
Harris mag aus der Mitte kommen, aber sie ist nicht unbeweglich. Mit dem zunehmenden „Tech-Lash“ in Öffentlichkeit und Kongress ist auch Harris‘ Ton gegenüber der Branche über die Jahre schärfer geworden. Sie kritisiert Facebook seit Jahren wegen Datenschutzverletzungen – und sie stimmte in die Kritik an der Plattform wegen der Verbreitung von Gerüchten und staatlich gelenkter Desinformation ein.
Ihr angekratztes Ansehen bei der „Black Lives Matter“-Bewegung konnte sie im Sommer verbessern, als sie einen Plan für eine Justizreform vorlegte. Darin fordert sie eine Senkung der Inhaftierungsrate, unter anderem durch Maßnahmen wie eine landesweite Legalisierung von Marihuana. Anknüpfend an ihre Arbeit zum Thema Künstliche Intelligenz im Senat forderte sie einen kritischen Dialog über den Einsatz von Gesichtserkennungs-Software – wobei sie aber anders als etwa Bernie Sanders nicht so weit ging, ein Verbot zu fordern.
Beim Thema Umwelt trifft es sich für Harris gut, dass ihr Ansatz, Gerechtigkeitsfragen mit Klimawandel zu verbinden, perfekt zum neuen Fokus der Demokraten passt. Bidens Klimaplan sieht zwei Milliarden US-Dollar Investitionen in grüne Technologien vor – wovon 40 Prozent benachteiligten Gemeinden zugutekommen sollen. Gemeinsam mit der progressiven Abgeordneten im Repräsentantenhaus Alexandria Ocasio-Cortez hat Harris kürzlich einen Gesetzentwurf zu Umweltgerechtigkeit vorgestellt. Die beiden Front-Frauen der Demokraten wollen mit dem Climate Equity Act dafür sorgen, dass einkommensschwache Haushalte vor negativen Umweltauswirkungen – durch kontaminierte Böden oder Wohnnähe zu großen Straßen oder Raffinerien – geschützt werden.
Dafür wollen die beiden eine Stelle für Klimagerechtigkeit im Weißen Haus schaffen. Denn Luftverschmutzung ist ebenso rassistisch wie das Coronavirus. Kamala Harris mag bisher eher als Establishment-Politikerin gelten – aber nähert sie sich über ihren Einsatz für Bürger*innenrechte und Gleichberechtigung am Ende doch den großen Systemfragen.