Auch in diesem einzigartigen Wahljahr mit Pandemie läuft das Leben in den USA weiter. Washington D.C. ist, im Vergleich zu anderen Orten in den USA, bisher relativ gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Jetzt könnte Washington D.C. und die Umgebung wegen eines vermutlichen Super-Spreader-Events im Weißen Haus in Schwierigkeiten geraten. Ein Bericht über den Alltag von unseren Kolleg/innen im Washington-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.
Nordöstlich vor den Toren von Washington D.C. liegt Prince George’s (PG) County, mit rund 900.000 Einwohner*innen nicht nur der zweitgrößte Landkreis in Maryland, sondern auch der bevölkerungsreichste Landkreis in den USA, in dem die Mehrheit der Bewohner Schwarze sind.
Hier, wo extrem überteuerter Wohnraum im Einzugsgebiet der Stadt noch einigermaßen bezahlbar ist - einer der Gründe, warum es auch mich und meine Familie nach PG-County verschlagen hat - wohnen viele der essentiellen, aber oft unterbezahlten Arbeitnehmer*innen, die eine Metropole wie Washington D.C. auch in Corona-Zeiten am Leben halten: Krankenhaus- und Pflegepersonal, Bus- und U-Bahnfahrer*innen, Supermarktangestellte, Reinigungskräfte oder Handwerker*innen. Das ist mit ein Grund, warum die Coronavirus-Pandemie PG-County im Großraum Washington mit am schlimmsten getroffen hat. Mehr als 30.500 COVID-19 Infektionen gab es bislang hier. Über 4.000 Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden, mehr als 826 Infizierte sind am Coronavirus gestorben.
Fassungslosigkeit und Ärger
Im Altstadtbereich in Bowie, einer Nachbarschaft von bescheidenen Einfamilienhäusern aus den sechziger Jahren, wo ich wohne, gab es bereits 410 Infektionsfälle bei nur knapp 25.000 Bewohnern. Fast jede*r meiner Nachbar*innen kennt jemanden persönlich, den das Coronavirus schlimm erwischt, wenn nicht gar getötet hat. Das sind keine abstrakten Statistiken, sondern Familienmitglieder, Freund*innen, Arbeitskolleg*innen. Viele der Haushalte in meiner Nachbarschaft haben Arbeitsplätze, und damit ihre Einkommensgrundlage verloren. Die Lebensmittelregale der interreligiösen Tafel in Bowie sind seit Corona chronisch unterbestückt.
Kein Wunder, dass meine Nachbarn*innen nur mit Fassungslosigkeit und Ärger auf die erst jüngst wiederholte Äußerung des Präsidenten reagieren können, dass COVID-19 weniger tödlich als die Grippe sei. Die Corona-Pandemie, aber auch Trumps Aussagen zu Black Lives Matter und seine Verneinung der Existenz strukturellen Rassismus in den USA werden ihm in diesem Landkreis stolzer mehrheitlich schwarzer Wähler*innen keine zusätzlichen Stimmen bringen.
Wie die Präsidentschaftswahl in PG-County ausgehen wird, ist zweifellos. Im Landkreis machen registrierte Demokrat*innen 78 Prozent aller Eingetragenen in die Wahllisten aus. Die Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl vor vier Jahren war mit 67 Prozent für ganz Maryland, das mehrheitlich ebenfalls demokratisch wählt, höher als in 43 der 50 amerikanischen Bundesstaaten. Alles spricht dafür, dass auch die Corona-Pandemie Prince Georg'ler, und meine Bowie-Nachbar*innen nicht von der Wahl am 3. November abhalten wird. Denn für zu viele geht es dabei um eine sehr persönliche Abrechnung mit Donald Trump.
Mehr als ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie hat sich in Washington D.C. ein neuer Alltag etabliert, geprägt von zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen, die ein sozial distanziertes Miteinander ermöglichen.
Zahlreiche Aktivitäten, von der Gesichtsbehandlung bis zum Fitnesskurs, wurden nach draußen verlagert. In meiner Nachbarschaft befindet sich ein Parkplatz beeindruckenden Ausmaßes, der nahezu autofrei ist, seit fast alle Angestellten im Homeoffice arbeiten. Stattdessen ziehen dort nun kleine Kinder ihre ersten Kreise mit dem Fahrrad, durchtrainierte junge Menschen arbeiten mit ihrem Personal Trainer ein hartes Programm ab und ein Fitnessstudio hat im 2-Meter-Abstand seine Rudermaschinen aufgestellt.
In der Innenstadt von Bethesda, einem beliebten Wohnviertel vor den Toren von DC, wurde eine neue Fußgängerzone eingerichtet, mit Restauranttischen und Lichterketten am Abend. Eine Rarität im Autoland Amerika!
Hygienemaßnahmen auf lokaler Ebene
Auch die Kita meiner Töchter hat wieder geöffnet, mit strengen Hygienemaßnahmen: Ab zwei Jahren gilt Maskenpflicht, morgens müssen sich die Eltern in einer App durch einen Katalog von 13 Fragen arbeiten, die eine potentielle Covid19-Infektion erfassen sollen. Kinder, die an Halloween an den Haustüren klingeln und „Süßes oder Saures“ rufen, wird es in diesem Jahr nicht geben. Doch unser Nachbarschaftskomitee hat schon einen Plan: Es wird einen Halloween-Umzug geben, mit Maske und Abstand. Auch Süßigkeiten sollen verteilt werden – meine Große findet, das sei ein vollwertiger Ersatz.
Bisher ist es hier auf lokaler Ebene gelungen, das Virus unter Kontrolle zu halten. Doch diese mühevoll errungenen Freiheiten und Annehmlichkeiten sind gefährdet. Das zeigen auch jüngste Meldungen aus New York und über Superspreader-Ereignisse, bei denen die Unvorsichtigkeit einiger Weniger die Virus-Zahlen exponentiell in die Höhe schnellen lässt.
Washington D.C. war immer eine Stadt krasser sozialer Gegensätze, und die Covid-Pandemie hat diese Kluft größer werden lassen. Die Reichen arbeiten von zu Hause und kaufen größere Häuser, die Armen verlieren ihre Jobs und können die Miete nicht mehr zahlen. Etliche hippe neue Restaurants und Bars in unserer aufstrebenden Nachbarschaft werden die Krise nicht überleben. Sogar unserem 6jährigen Sohn fällt auf, dass die Zahl der Obdachlosen zugenommen hat. Seine Schule ist weiterhin geschlossen, aber sie bietet bedürftigen Familien freie Mahlzeiten an und leiht ihnen Laptops für den Online-Unterricht.
Aber es könnte schlimmer sein. Die Bürgermeisterin Muriel Bowser hat die Stadt im letzten halben Jahr mit konsequenten Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit durch die Krise gesteuert – und rücksichtsvolle Bürger*innen haben das Ihre dazu getan. Unser Sohn und seine Freunde tragen sogar auf dem Spielplatz Masken, unsere Zahnärztin behandelt Patient*innen in Unterdruckräumen, aus denen alle paar Minuten die Luft abgesaugt wird, und bei den Nachbar*innen kommt der Friseur zum Haarschneiden in die Gasse hinters Haus. Dank dieser Maßnahmen sind die Fallzahlen niedriger als andernorts in den USA und diskutieren die Schulen über eine stufenweise Wiedereröffnung ab November.
Viele sind auf sich allein gestellt
Ereignisse wie das Superspreader-Event im Weißen Haus könnten diese Pläne zunichtemachen. Donald Trump und seine Berater*innen mögen ihren eigenen Mikrokosmos bilden, aber diese Berater*innen leben in der Stadt, zum Beispiel in den Apartmentblocks an der South West Waterfront, einem neu aufgebauten Viertel am Ufer des Potomac. Eine Bekannte, die dort wohnt, hatte schon vor Wochen Sorge, sich dort beim Einkaufen zu infizieren. Als ehemalige Washington-Korrespondentin muss ich auch an die Journalist*innen denken, die aus dem Weißen Haus berichten und sich nicht vor Covid-19 schützen können.
Vor allem muss ich an alle Bürger*innen denken, die in ärmeren Stadtteilen auf beengtem Raum leben und nicht die Möglichkeit haben, sich im eigenen Haus und Garten zu isolieren, wenn die Infektionsrate wieder steigt. Sollten sie sich mit dem Coronavirus infizieren, können sie nicht auf die erstklassige medizinische Betreuung hoffen, die der Präsident im Walter Reed Militärkrankenhaus genoss. Während sich die Welt um Trump dreht, sind sehr viele Amerikaner*innen ganz auf sich allein gestellt.
Washington D.C. ist eine pulsierende Stadt, die politische Strippenzieher*innen und Kreative beheimatet; vielfältig, bunt und politisch; die Schwarze Community ist hier seit vielen Generationen zu Hause; Menschen aus vielen Nationen unterschiedlichster Kulturen prägen die Stadt; kleine Geschäfte beziehen politisch Stellung; die LGBTI Community organisiert jedes Jahr das High Heel Drag Queen Race…
Solidarität und politischer Protest
In den letzten Monaten war D.C. vor allem ein Ort von Solidarität und politischem Protest, das zeigt diese Foto-Galerie von Nora Löhle: