Überlegungen, wie sich ein herrschaftsfreies Wir neu erfinden lässt – entgegen aller Wahrscheinlichkeit
Vor kurzem sprach Achille Mbembe auf einer internationalen Konferenz darüber, dass wir das ganze Wissen der Welt brauchen, um die Welt zu reparieren. Ich kann seinen Ausführungen zur Aufgabe der Reparatur der Welt nur zustimmen. Ich stimme auch zu, dass es eine uns allen gemeinsame Aufgabe ist. Wir müssen die Welt „im Maßstab der Welt“ wie Aimé Césaire sagt, neu erfinden. Das aber verlangt, dass wir verstehen, dass wir aus sehr unterschiedlichen geo- und machtpolitischen Positionierungen heraus an diese Aufgabe herangehen. Was meine ich damit?
Ich spreche hier als weiße, im globalen Norden positionierte feministische, queere, aktivistische Theoretiker:in, die viel über die Rolle von Wissen, Theorie und Kritik in diesem Projekt der Neuerfindung der Welt nachdenkt. Ich nenne das den reparativen Auftrag kritischer Theorie. Und aus dieser Perspektive will ich etwas zur Frage der Reparatur sagen.
Für mich heißt das erstens, dass wir Herrschaft sowohl in den Kategorien aufspüren müssen, mit denen wir uns Welt erschließen und sie deuten, als auch in den Formen, in denen wir Wissen gewinnen und es darstellen. Die Kritik muss ihre Sensibilität auch für jene Begriffe schärfen, die sie selbst auf die Welt anwendet, sie muss sich verdinglichenden Denkformen und rassifizierten, sexistischen, misogynen, homo-, trans-, und crip-feindlichen Schreibweisen verweigern. Sich resistent „gegen das ihr Aufgedrängte“ zeigen, hat Theodor W. Adorno das genannt. Wir müssen also epistemische Gewalt untersuchen und dekonstruieren.
Die Geschichte der Verweigerung von Gleichheit muss real werden
Wir dürfen zweitens die Jahrhunderte währende Geschichte der Verwandlung von Menschen, ihrer Körper und dessen, was ihnen zugehörig und in welchem Sinn auch immer heilig ist, in global zirkuliertes Rohmaterial nicht länger verleugnen. Die Geschichte der Verweigerung von Gleichheit muss real werden. Weil sie real ist. Nicht zuletzt in jedem einzelnen so genannten „ethnologischen“ Artefakt, das in einem Museum in Berlin, Paris, London, Madrid oder Lissabon ausgestellt wird. Die Geschichte von Gewalt, Enteignung, Entfremdung und Verdinglichung muss erzählt und angehört werden – und zwar nicht um des schieren Erzählens willens, und auch nicht, weil Reparatur die Illusion nähren sollte, dass die Gewalt ungeschehen gemacht und alle Traumata geheilt werden könnten, sondern weil wir es einander schulden. Zeug:in sein, unter allen Umständen die Geschichte erzählen. So hat James Baldwin die Aufgabe der Schriftsteller:in beschrieben. Hinsehen und berichten.
Es gilt also kontinuierlich Rechenschaft zu geben davon, wie wir seit Jahrhunderten in auch epistemisch begründeten Praktiken der Unter- und Überordnung eingeübt wurden und immer noch eingeübt werden, wie wir uns in Dominanzkultur eingerichtet haben, sie in unserem Tun lebendig halten und fortschreiben.
Ich will auf einen Aspekt epistemischer Gewalt hier noch besonders eingehen. Die französische Philosophin Elsa Dorlin hat jüngst noch einmal darauf hingewiesen. Und zwar auf das auf dieser Gewalt beruhende Privileg, dass die Herrschenden die Beherrschten nicht berücksichtigen müssen, sie nicht kennen und bedenken müssen. Es ist ein Privileg, schreibt Dorlin, das den Herrschenden „Zeit für sich selbst“ verschafft – weil sie von den anderen nicht wissen, ihre Leben nicht bedenken müssen. Ausdruck einer asymmetrisch strukturierten moralischen Ökonomie, die jenen in den herrschenden gesellschaftlichen Positionen erlaubt, „sich selbst kennenzulernen, sich selbst zu lieben, sich selbst zuzuhören, sich selbst zu kultivieren“. Nichts Anderes also als das: Dominanzkultur zu zelebrieren. Die Chance, von der Bedrängnis der anderen nicht wissen zu müssen und die Rolle, die race und gender in der Strukturierung von Welt und Wissen spielen, ausblenden zu können. It’s the innocence that constitutes the crime, sagt James Baldwin.
Zärtliche Bürger:innenschaft
Wenn wir uns im historischen Überhang global verflochtener Herrschafts-zusammenhänge also als ungleich Positionierte begegnen, heißt das, dass wir auch die Arbeit an einem neuen Gemeinsamen nicht auf Augenhöhe beginnen. Es wird daher nicht ausreichen, das Soziale als im Prinzip symmetrisch konstruierten Raum der Gegenseitigkeit zu imaginieren, wie es die Mehrzahl liberaler Denker:innen bis heute tut. Es braucht auch mehr, als dass wir uns auf als zivil geltende Standards einigen. Einmal abgesehen davon, dass bereits diese Standards auf ihre wenigstens impliziten normativen und normalisierenden Gehalte hin untersucht werden müssen, sind die Aufgaben sehr verschieden, eben abhängig davon, aus welcher historischen, sozialen, politischen und moralischen Position heraus wir jeweils diese Arbeit aufnehmen. Eine „imperiale Lebensweise“ zu verlernen, aktiv Nein zu einer in Jahrhunderten geformten Sozialisierung in Dominanz zu sagen, verlangt etwas anderes als sich aus einer Position ebenfalls über Jahrhunderte geformter Enteignung heraus als politische Bürger:in neu zu entwerfen.
Wenn die liberale Demokratie im Wesentlichen ein Projekt des 19. Jahrhunderts und der neu entstehenden bürgerlichen Elite war, eine Weise des Zusammenlebens und Sich-Regierens also, das von europäischen, weißen, cis-männlichen, heterosexuell lebenden und mit dem Recht auf Eigentum ausgestatteten Bürgern erdacht und ins Werk gesetzt wurde, braucht es im 21. Jahrhundert für eine Demokratie der Vielen, dringend eine neue Vision von Bürger:innenschaft. Eine bürgerliche Revolution 2.0 wird nicht ausreichen, sie kann nicht einfach in die Zukunft hinein verlängert und dort vollendet werden, weil sie von Anfang an nicht als universale gedacht war, weil sie eine bürgerliche Revolution war.
Worum es bei der Reparatur der Welt geht, scheint mir vor diesem Hintergrund einigermaßen klar. Nämlich imperial grundierte Dominanzkultur verlernen und Formen des Zusammenlebens entstehen lassen, die Herrschaft aktiv entsagen. Und dafür dürfen wir weder auf die gewaltförmige Verdinglichung von Differenz setzen – die rassistische Ideologie des von der Identitären Bewegung vertretenen Ethnopluralismus wäre ein Beispiel hierfür –, noch darauf, dass jede:r Einzelne nur für sich selbst, nicht aber für andere verantwortlich ist. So wenig es daher um die letztlich nostalgische Wiederbelebung normalisierter, egal in welcher Hinsicht homogener, gar völkisch kodierter Kollektive gehen kann, wird es ebenso wenig damit getan sein, für befriedete, eingehegte oder eingebettete Versionen von Liberalismus zu werben. Dies wird als Imagination des demokratischen Zusammenlebens auch deshalb nicht ausreichend sein, weil solche Aktualisierungen nicht oder kaum in den Blick nehmen, wie sehr der ökonomische Zwilling des politischen Liberalismus – Kapitalismus – seit Jahrhunderten von dem zehrt, was Jason Moore die „sieben billigen Dinge" nennt – Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie, Leben. Die Ermächtigung und Freiheit der einen also auf der Enteignung und Unfreiheit der anderen beruht und die koloniale, rassistische und sexistische Gewaltgeschichte der liberalen Demokratien nicht in der Bilanz auftaucht.
Weil wir anfangen und Neues in Bewegung setzen können
Ich fasse zusammen: Intellektuell geht es um ein gleichermaßen Gewissheiten unterminierendes wie epistemische Rechenschaft ablegendes, reparatives Projekt. Die politische Aufgabe besteht dagegen darin, wider alle Wahrscheinlichkeit, neu zu entwerfen, neu zu erfinden. Weil wir anfangen und Neues in Bewegung setzen können, wie Hannah Arendt wieder und wieder sagt. Weil es uns möglich ist, eine Reihe von vorne zu beginnen, wir aufstehen und gehen können. Weil wir eine neue Welt beginnen lassen können, indem wir sie schlicht praktizieren. So sagen es die Guérillères in Monique Wittigs atemberaubend wilden Roman Les Guérillères, erschienen 1969. Die Guérillères sind frei, weil sie Freiheit praktizieren und nicht, weil ihnen Freiheit ontologisch gegeben ist. Weil sie miteinander sprechen und handeln, sich körperlich reziprok einander aussetzen, weil sie Interdependenz praktizieren.
Den Guérillères folgen und der neuen demokratischen Sozialität eine Gestalt verleihen, die ein egalitäres Leben mit anderen ermöglicht. Einen Ausgang finden aus der monadisch strukturierten, kolonialen Melancholie, in der wir uns eingerichtet haben und uns an unsere selbst verschuldeten und nie realisierten Verluste klammern, allen voran den Verlust an geteilter Welt und der Fähigkeit, uns von den Anderen anrühren zu lassen. Unsere Privilegien verlernen, indem wir erkennen, dass diese bereits den Verlust an gemeinsamer Welt mit allen verkörpern, wie Gayatri Spivak sagt. Unlearning one’s privilege as one’s loss. An nicht-nostalgischen, dem Ressentiment und der Feindschaft aktiv entsagenden Entwürfen von Gemeinschaftlichkeit arbeiten, ein Ethos des Zusammenlebens stiften, in welchem Freiheit und Sorge nicht als Antipoden auftreten, sondern zusammen wirklich werden. Aus dem Traum über uns selbst erwachen. Das ist, was jetzt zu tun ist.
Der Text basiert auf Überlegungen, die Sabine Hark in ihrem neuen Buch entwickelt hat: „Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation“. Es wird im Herbst 2021 bei Suhrkamp erscheinen.