„In meiner politischen DNA steht die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen“

Interview

Orkan Özdemir engagiert sich seit zehn Jahren ehrenamtlich als SPD Bezirksverordneter in Tempelhof-Schöneberg, im Herbst tritt er für die Wahlen des Berliner Abgeordnetenhauses an. Welche Erfahrungen er als Politiker of Color macht und warum die Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen für ihn eine Herzensangelegenheit ist, bespricht er im Interview.

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(c) Fionn Grosse

Orkan Özdemir (38) hat Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert. Der Diplom-Politologe ist Grundsatzreferent für interkulturelle Angelegenheiten bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Fünf Jahre fungierte er als Leiter der Politikberatung bei BQN Berlin. Seit zehn Jahren engagiert er sich ehrenamtlich als SPD Bezirksverordneter in Tempelhof-Schöneberg und kandidiert 2021 für das Abgeordnetenhaus von Berlin.

 

Vjollca Hajdari: Was hat dich dazu bewegt, politisch aktiv zu werden?

Orkan Özdemir: Ich bin in den 90ern in dem ehemaligen Gastarbeiter*innen-Ghetto in Nord-Schöneberg, im sog. Pallas, aufgewachsen. Das war für das damalige Milieu ein geschützter Raum für die Menschen, die dort lebten. Eine Parallelwelt. Wenn man sich als Jugendlicher aus dem Pallas in den Nachbarkiez verirrte, kam es auch schon mal vor, dass Zivilpolizisten einen zu Boden drückten und durchsuchten. Wir haben da einfach nicht reingehört und das wurde uns unmissverständlich deutlich gemacht.

Schule und Studium erschien für Jugendliche wie mich weit entfernt und nicht als Option damit wirklich erfolgreich zu sein. Das lag oftmals auch daran, dass wir den Sozialraum Schule nicht als zugewandten Raum empfanden. Die Lehrer*innen waren mit den Gastarbeiterkids absolut überfordert und es stand immer die Haltung im Raum „die werden ja wieder zurück gehen in ihre Heimat“.  Es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir uns nicht als Teil der Welt da draußen, außerhalb unseres Kiezes, dazugehörig fühlten. Außerhalb unseres Kiezes erfuhren wir meist Abwertung und Misstrauen.

Schon zu der Zeit hatte ich immer das Gefühl, dass es das nicht gewesen sein kann. Ich wollte mehr machen. Ich wollte, dass die Kids aus unserem Viertel sich nicht verstecken und Perspektiven kriegen.  

Stehen marginalisierte Gruppen im Fokus deines politischen Engagements?

Absolut! In meiner politischen DNA steht die Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen. Und das bezieht sich nicht nur auf Menschen, die Rassismus Erfahrungen gemacht haben.  

Ich bin genauso solidarisch - und das ist ein Grundsatz von mir - mit allen anderen von Diskriminierung betroffenen Gruppen. Ganz egal ob es Frauen, queere oder von Armut, also Klassismus, betroffene Menschen sind. Und wenn ich die Perspektiven dieser Menschen sichtbar machen möchte, dann ist das eine Herzensangelegenheit. Da bin ich dann auch emotional. Und ich finde Emotionalität in der Politik auch nicht falsch. Ich glaube eben nicht, dass Emotionen uns die Sicht vernebeln, sondern dass Emotionen uns dazu bringen, unsere politische Comfort-Zone zu verlassen und dahinzugehen, wo es richtig anstrengend und schwierig wird.  

Und daher sage ich auch immer, ich bin kein Politiker, der wahrscheinlich 40 Jahre Politik machen wird, weil ich herzlastig bei der Sache bin. Ich werde mich wahrscheinlich nach einer bestimmten Zeit umorientieren und schauen, dass ich in einem anderen Bereich meiner Vision und Mission von einem solidarischen Berlin nachgehe. Ich bin fest davon überzeugt, dass professionelle Politik Herz-Menschen nach einer bestimmten Zeit krankmacht, weil diese sich nicht intrinsisch verbiegen können. Und das würde auf mich zutreffen.

Welche Erfahrungen machst du als Politiker of Color?

Eine bittere Wahrheit in diesem Land ist, dass man als Politiker, der so aussieht wie ich es tue, Erfahrungen macht, die man in einer aufgeklärten und demokratisch geprägten Gesellschaft nicht machen sollte. Als Kommunalpolitiker ist es normal, rassistische Mails zu bekommen. Das ist nichts, was die Betroffenen überrascht. Das ist der „normale“ Alltagsrassismus, mit dem man lernt zu leben.

2014 musste ich schon einmal umziehen, weil Rechtsextreme meinen Postkasten in die Luft gesprengt hatten und Drohungen gegen mich aussprachen. Das legte sich dann über die Zeit, da ich mich nicht mehr auf den Kampf gegen rechts fokussierte. Nun erleben meine Familie und ich wieder extreme Anfeindungen und Bedrohung, weil ich es offenbar wage für das Abgeordnetenhaus zu kandidieren.

Abgesehen von diesen sehr negativen Erfahrungen, gibt es etwas, das dich empowert?

Ich werde tagtäglich von meinen Mitstreiter*innen empowert. Da, wo ich ehrenamtlich am meisten unterwegs bin - in meinem Wahlkreis in Friedenau - erlebe ich auch die größte Inspiration und Motivation. Ich bin Mitinitiator von Initiativen und Bündnissen, die in Friedenau, Tempelhof-Schöneberg und Berlin viel erreicht haben. Sei es das Tätigkeitsfeld Geflüchtetenhilfe, Obdachlosigkeit und und und. Ich lebe in einem Sozialraum, in dem Bürger*innen ihr Lebensumfeld mitgestalten wollen. Sie sind keine Zuschauer, sondern formulieren ganz klar und deutlich ihre Vorstellungen und Wünsche. Und sie sind bereit, selbst anzupacken. Das ist nicht nur inspirierend, sondern auch eine gute Schule. Ich habe erst durch mein bürgerschaftliches Engagement in über 10 Jahren in Friedenau gelernt, welche Art von Politiker ich sein möchte. Das hat sehr viel mit politischer Selbstfindung zu tun. Ich verstehe ein Mandat als ein Mandat des Wahlkreises. Der*Die Politiker*in von heute muss Resonanzraum und Übersetzer*in von Bedarfen, Ängsten und Wünschen in den politischen Prozessen sein. Politiker*innen können heutzutage den Bürger*innen nicht mehr erzählen, was sie zu wollen haben. Die Tage sind vorbei und das ist auch gut so.  

Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

In welchen Politikfeldern möchtest du dich im Abgeordnetenhaus engagieren?

Teilhabe und Antidiskriminerung sind selbstverständlich Herzensthemen von mir. Diese Themen werden jedoch gesamtgesellschaftlich und politisch als Softthemen betrachtet. Sie stehen nicht im Fokus und wenn sie im Fokus sind, dann nur mit einer Negativkonnotation.  

Durch meine berufliche Tätigkeit habe ich eine Expertise für den Bereich der Innenpolitik entwickelt. Mir ist aufgefallen, dass ganz besonders in diesem Politikfeld der diversitätsorientierte Blick fehlt und dass Gesellschaft als etwas sehr starres wahrgenommen wird. Ich erlebe Gesellschaft beruflich, politisch und persönlich als etwas sehr Dynamisches, was dazu führt, dass vor allem Sicherheitspolitik immer wieder neu und aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch hinterfragt werden muss. Gerade in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft, in der Extremismen wieder salonfähig werden, ist Innenpolitik einer der wichtigsten Politikfelder für den gesellschaftlichen Frieden. Ich erkenne in diesem Politikfeld wichtige Hebel für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und würde mich hier gerne politisch engagieren.

Für einen Sozialdemokraten sind selbstverständlich auch Politikfelder wie Bildung, Arbeit und Soziales Fokusthemen.

Welche innenpolitischen Themen sind dir wichtig?

Sehr interessiert bin ich an den Arbeitsfeldern „Kampf gegen Extremismus“ und „Policing“.

Dabei geht es mir nicht nur um die repressiven Maßnahmen im Kampf gegen Extremismus, sondern auch sehr stark um die Extremismus- und Gewaltprävention. Denn jeder Euro, den wir in die Prävention stecken, spart uns drei Euro im Nachhinein. Prävention bedeutet auch immer Perspektiven für Betroffene zu schaffen und Rattenfängern im extremistischen Bereich keinen Raum zu geben. Aktuell wird im Innenbereich viel umstrukturiert und optimiert. Diesen Prozess würde ich gerne konstruktiv und kritisch als Abgeordneter begleiten.

Wenn wir über Rechtsstaatlichkeit reden, müssen wir auch immer über unseren Sicherheitsapparat reden. Ich bin weit davon entfernt die These der rechtsextremen staatlichen Sicherheitsakteure zu unterschreiben. Ich habe einfach zu viele tolle Menschen aus dem Sicherheitsapparat kennengelernt und deren Arbeit begleitet. Die überwältigende Mehrheit der Polizei und Sicherheitsakteure im Land Berlin sind Demokrat*innen und verlässliche Bewahrer der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Gerade deshalb müssen wir unseren kritischen Blick auch in die Sicherheitsstrukturen richten um die schwarzen Schafe aus dem System zu entfernen. Denn gerade im Bereich Sicherheit darf es keine Kompromisse und/oder Zweifel geben. Und wir müssen uns zu 100% sicher sein, dass das System nicht von der Neuen Rechten unterwandert wird. Das Vertrauen in die Polizei muss bei vielen Gruppen in der Gesellschaft wiederhergestellt werden. Das möchte ich mit den verantwortlichen bei der Berliner Polizei gemeinsam angehen und die ersten Maßnahmen der Berliner Polizei in der Sache stimmen mich hoffnungsvoll.

Wichtig wäre mir im Zuge der Umstrukturierungen bei der Polizei auch, dass die Art und Weise des „Policing“ weiterentwickelt wird, hin zu einer Polizei, die Teil der Kieze und vertrauensvolle Ansprechpartnerin für alle Berliner*innen ist und auch so wahrgenommen wird. Da ist das Motto „Be Local - Gemeinsam solidarisch: Für lebenswerte und sichere Kieze“.  

Was würdest du jungen Politiker*innen, insbesondere Politiker*innen of Color, die sich engagieren möchten, mitgeben?

Ich habe mal bei einem Online-Gespräch für den „Made in Germany Podcast“ auf Youtube davon gesprochen, dass wir drei Kategorien haben: Politik, Aktivismus, öffentlicher Dienst/Verwaltung.

Wir brauchen kluge, junge Menschen mit der sogenannten familiären Einwanderungsgeschichte in all diesen Feldern. Im Moment konzentrieren sie sich sehr stark im Aktivismusbereich. Das ist gut! Das ist eine ganz wichtige Stütze in diesem ganzen Gebilde, weil Aktivisten legen den Finger in die Wunde, zeigen drauf, machen klar, was Sache ist, aber Aktivismus alleine reicht eben nicht.

Ich versuche junge Menschen oftmals dafür zu begeistern, in die Verwaltung zu gehen. Starken Aktivist*innen empfehle ich oft auch den Gang in die Politik. Glücklicherweise beobachten wir aktuell eine Tendenz in den Parteien, aktiver zu werden und auch für Mandate zu kandidieren. Nichtsdestotrotz sind Sozialräume wie der öffentliche Dienst und Parteien auch Räume, die großes Traumapotenzial haben und oftmals nach kurzer Zeit abschrecken. Man muss als sog. BPoC ein dickes Fell haben in diesen Sozialräumen, da man dort oftmals eben nicht gefeiert wird für die eigene Haltung und/oder Sichtweise. Während man in der Aktivist*innen-Szene anerkannt und wertgeschätzt wird, erlebt man in den anderen Sozialräumen herbe Enttäuschungen und Abwertungen. Das muss einem jungen Menschen immer klargemacht werden, da es uns auch nichts bringt junge, kluge Köpfe in Parteien zu verheizen.

Was ist aus deiner Sicht wichtig, um bei den Themen Diversity, Teilhabe und Repräsentation politisch nachhaltig voranzukommen?

Der Dreiklang dieser drei Bereiche ist entscheidend: Aktivist*innen beschäftigen sich extrem mit bestimmten Themenfeldern, arbeiten sie auf, machen sie nachvollziehbar und verständlich für Menschen wie mich, die im politischen Kontext handeln. Ich als Politiker, aber auch als Verwaltungsmitarbeiter, übernehme diesen Input und übersetze ihn in eine Sprache, die die Allgemeinheit versteht. Dann wird das als Initiative mit einem Antrag in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Nun ist die Verwaltung in der Verantwortung, weil sie das Gesetz formulieren muss. Ein Referent, der solch einen Gesetzesentwurf schreibt, kann immer auch seine eigene Sichtweise mit einbringen. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese smarten aktivistischen jungen Menschen, die mittlerweile gut ausgebildet sind, in der Verwaltung haben. Sozusagen als Verbündete.

Wenn wir mit Teilhabe und Diversität erfolgreich sein wollen, dann müssen wir den Aktivismusbereich haben, dann müssen wir Politiker*innen haben, dann müssen wir aber auch Verwaltungsmitarbeiter*innen im öffentlichen Dienst haben, die einander verstehen, diese Sprache verstehen und auch dieselbe Mission und Vision von unserer solidarischen Stadt haben.

Übrigens können Verbündete auch Menschen sein, die keine familiäre Einwanderungsgeschichte haben. Das sollte man immer mit beachten. Am Ende geht es immer um die eine Frage: In was für einer Gesellschaft willst du leben?