Mit großem Interesse blickt die Biden-Regierung auf die neuen politischen Mehrheitsverhältnisse in Berlin. Die Unsicherheit über das, was nach der bilateralen Verlässlichkeit der Ära Merkel kommen mag, mischt sich mit der Hoffnung, dass es auf mehreren Ebenen Bewegung und mehr gemeinsame strategische Orientierung geben könnte. Denn Deutschland ist in vielen Bereichen ein zentraler Partner für Washington.
Das Ende der Merkel-Ära
Es gibt wohl keine andere deutsche Persönlichkeit, die in den USA so bekannt und anerkannt ist wie Angela Merkel. Landauf, landab ist sie den Menschen ein Begriff. Merkel und Deutschland, das ist fast synonym, ein Deutschland ohne Merkel kaum vorstellbar. Kein Wunder, denn aus amerikanischer Sicht umfasst die Merkel-Ära nicht nur 16 Jahre, sondern gleich mehrere eigene politische Epochen.
Das gilt ebenso für das politische Washington. Vier US-Präsidenten haben mit ihr zusammengearbeitet, verhandelt und gerungen. Immer wieder gab es Interessenunterschiede und strategische Differenzen. Aber trotz aller Aufs und Abs und selbst inmitten der fundamentalen transatlantischen Krise der Trump-Zeit standen aus Washingtoner Sicht zwei Dinge nie infrage. Das eine war die grundsätzliche transatlantische Verankerung der Bundesrepublik, und das andere war die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der deutschen Regierungspolitik. Überraschungen waren unter Merkel praktisch ausgeschlossen.
Viel Hoffnung, viele offene Fragen
Daher blickt Washington nun mit gemischten Gefühlen auf die Entwicklung der neuen politischen Mehrheitsverhältnisse in Berlin und auf die programmatische Ausrichtung der nächsten Regierung. Dies gilt umso mehr, als diese ihr Amt in einer Zeit antritt, in der die Zukunft der bilateralen Beziehungen keineswegs geklärt ist. Das Vertrauen Deutschlands in die USA als zuverlässiger Partner ist in der Folge der Trump-Präsidentschaft noch immer erschüttert. Es ist aus Berliner Sicht keineswegs klar, ob die Trump-Zeit eine Ausnahme war oder ein Vorbote künftiger Entwicklungen. Und unabhängig davon erscheint vielen deutschen Beobachter*innen die indo-pazifische Orientierung der USA und der stärker transaktionale Charakter der transatlantischen Beziehungen unter Joe Biden zu einem dauerhaften Trend zu werden. Welche Schlüsse daraus in Berlin gezogen werden, wird in Washington mit viel Aufmerksamkeit verfolgt. Falls die kommende Bundesregierung ein Interesse an engen Beziehungen, an einer gemeinsamen strategischen Orientierung und an ambitionierten politischen Projekten haben sollte, dann wird es zunächst wichtig sein, in den Aufbau von Vertrauen zu investieren und in den intensiven Austausch auf allen Ebenen.
Gleichzeitig gibt es innerhalb der Biden-Regierung und innerhalb der Demokraten die Hoffnung, dass eine neue deutsche Regierung Bewegung in etliche Themen bringen könnte, die für die USA von besonderer Relevanz sind, und die in der Merkel-Zeit liegen geblieben sind, nur halbherzig angepackt oder auch konterkariert wurden.
Klimaschutz, Sicherheit und Technologie
Das gilt in besonderer Weise für die Klima- und Energiepolitik. Biden hat sich zum Ziel gesetzt, eine klimapolitische Transformation zum Motor der Revitalisierung der US-Industrie und der technologischen Dominanz der USA zu machen. Und trotz der möglichen Konflikte dieses Ansatzes mit europäischen und deutschen wirtschaftspolitischen Interessen gibt es in Washington ein ernsthaftes Bemühen, dies zusammen mit gleichgesinnten Partnern anzugehen. Gleiches gilt für die Verhandlung und Umsetzung der Klimapolitik auf globaler Ebene, in der Biden den Schulterschluss mit den Europäern und mit Deutschland sucht. Eine neue Bundesregierung könnte gerade hier deutlich ambitionierter mit Washington zusammen arbeiten als dies im ersten halben Jahr der Biden-Regierung ersichtlich war.
Hoffnungen, wenngleich nicht besonders hohe Erwartungen, hegen viele in Washington auch mit Blick auf eine stärkere deutsche und europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das 2 %-Ziel der NATO spielt dabei eine Rolle, steht aber im Vergleich zur Trump-Zeit nicht an erster Stelle. Es geht vielmehr um Kapazitäten der Bündnispartner und um regionale Eigenverantwortung in der europäischen Nachbarschaft. Biden hat dafür sogar erstmals deutlich gemacht, dass er eigene europäische verteidigungspolitische Initiativen explizit befürwortet und nicht mehr in erster Linie als Konkurrenz zur NATO betrachtet. Er braucht starke sicherheitspolitische Alliierte auch deswegen, weil er den schrittweisen Rückzug der USA aus globaler sicherheitspolitischer Verantwortung weiter vorantreibt.
Dasselbe gilt für die Technologiepolitik und die Handelspolitik. In diesen Tagen nimmt der von Biden und der EU initiierte „EU-US Trade and Technology Council“ seine Arbeit auf mit dem Ziel der stärkeren Koordinierung und Zusammenarbeit in handels- und technologiepolitischen Fragen. Die effektive Partnerschaft mit den Europäern auf diesen Feldern gilt vielen in Washington als spielentscheidend in der Auseinandersetzung mit der chinesischen Regierung und in der Durchsetzung einer offenen und gerechten Welthandelsordnung. Gemeinsam könnten die USA und Europa technische, ökologische und menschenrechtliche Standards setzen, strategische Lieferketten sichern, Hochtechnologie vorantreiben und faire Handelsbeziehungen befördern. Wenn sie alleine agieren oder gar gegeneinander, dürfte das deutlich schwieriger werden.
Der Macht- und Systemkonflikt mit China
Im Zentrum dessen steht die Überzeugung eines großen Teils der Washingtoner Politik, dass die Machtauseinandersetzung mit China unvermeidbar sein wird, weil sie von Peking aktiv vorangetrieben wird. Und dass sie neben der Machtfrage zur Systemfrage wird je weiter sich die chinesische Regierung von den Grundsätzen liberaler Demokratie und der Menschenrechte verabschiedet und diese auch global infrage stellt. Gerade in diesem Punkt gab es substantielle Unterschiede zwischen der Sicht der USA und der Politik Angela Merkels, für die eine Annäherung an und eine zunehmende wirtschaftliche Verflechtung mit China nie im Gegensatz zur transatlantischen Orientierung galt. Mit umso größerer Aufmerksamkeit blickt das politische Washington nun auf Berlin. Aus US-Sicht ist neben Washington Berlin eines der Epizentren der Auseinandersetzung um die Zukunft der liberalen Demokratie, sowohl was ihre interne Stabilität angeht als auch ihre externe Rolle und Orientierung. Sollte es in Berlin mehr Gewicht geben für Perspektiven, welche wachsenden Totalitarismus und Autoritarismus als existentielle Herausforderung für Deutschland und die EU begreifen und ihre Politik danach ausrichten, könnte dies zu einer deutlich wirkmächtigeren gemeinsamen strategischen Orientierung führen.
Ein bequemer Partner für die nächste Bundesregierung wird Washington auf keinen Fall sein. Das Bewusstsein der Biden-Regierung, dass die interne Verfasstheit der USA ebenso auf dem Spiel steht wie ihre globale Führungsrolle führt zu viel Ambition und Offenheit, aber auch zu viel Ungeduld und Unilateralismus. Die Beziehungen dennoch im gemeinsamen Interesse zu gemeinsamen Erfolgen zu führen, wird alles andere als einfach. Deutschland ist dabei gefordert wie selten zuvor.