Fehlender Mindestabstand | Aufzeichnung

Rückblick

Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde

Lesung und Diskussion mit Dr. Dietrich Krauß und Matthias Meisner

Lesedauer: 43 Minuten
Buchcover Fehlender Mindestabstand

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An den Anti-Corona-Protesten wurde deutlich, wie tief inzwischen die Skepsis gegenüber parlamentarischer Demokratie und wissenschaftlichen Erkenntnissen in ganz unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung verankert ist: Impfgegner, Klimawandelleugner, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Neonazis marschieren nebeneinander – ohne Abstand. Dieses Buch analysiert das Phänomen einer erschreckend breiten Allianz: von neuen und alten Feinden einer aufgeklärten Gesellschaft und des demokratischen Rechtsstaats. Dabei werden auch Entwicklungen in Frankreich, den USA oder Österreich in den Blick genommen.

Dr. Dietrich Krauß ist Autor des Beitrages „Wir können alles, außer Impfen. Warum „Querdenken“ eine Stuttgarter Vorwahl hat.“  Er ist Redakteur und Autor der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“. Für seine journalistische Arbeit wurde er mit dem Grimmepreis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

Zum Interview mit Dietrich Krauß bei Radio Dreyeckland

Matthias Meisner ist Co-Herausgeber und Co-Autor verschiedener Beiträge des Buches. Der langjährige Redakteur des Berliner „Tagesspiegel“ arbeitet heute als freier Journalist zu Themen wie Menschenrechte, Rechtsextremismus und Geflüchtete. Für seine Berichterstattung über Pegida und die Anti-Asyl-Bewegung in Sachsen erhielt er 2016 den Zweiten Preis des Wächterpreises der deutschen Tagespresse.

Moderation: Ulrike Schnellbach, Freie Journalistin


Transkript der Veranstaltung in Freiburg in der Katholischen Akademie

Ulrike Schnellbach: Matthias Meisner, wir beginnen mit der klassischen Frage: Was hat dich eigentlich dazu getrieben, zusammen mit Heike Kleffner dieses Buch zu machen? Ihr habt das ja schon 2020 entschieden, da war Corona noch neu und die Proteste waren erst recht noch neu, und da habt ihr euch schon entschieden - wir machen einen Sammelband. Warum? Warum hast du das so wichtig genommen und warum hat das Buch diese Ausrichtung bekommen?

Matthias Meisner: Fairerweise, gerade weil wir hier in Freiburg sind und der Herder Verlag seinen Sitz in Freiburg hat, muss ich zugeben: die Idee kam gar nicht von uns, sondern die kam von dem wunderbaren Lektor Patrick Oelze, mit dem wir schon 2019 das Buch „Extreme Sicherheit“ zusammen gemacht haben, wo es um die Rechtsradikalen in den Sicherheitsbehörden ging. Das Momentum, diese beiden Bücher anzustiften, war gleich - die Bedrohung der Demokratie muss alle etwas angehen. Nicht nur vermeintlich Linke, sondern die muss wirklich alle angehen, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und in bestimmter Weise stehen die beiden Bücher auch in Relation. Zur Bedrohung der Demokratie: wir hatten das Gefühl, ab dem Frühjahr 2020, dass sich da Dinge auf den Straßen und im Netz entwickeln, die in bestimmter Weise auch an Auseinandersetzungen um Geflüchtete um das Jahr 2015 erinnern, dass sich auch so eine gewisse Verrohung entwickelt und dass sich auch neue Allianzen schmieden. Wir bekommen sehr oft gesagt, es sind nur friedliche Spaziergänger. So fing das zwischen Pirna und Stuttgart möglicherweise auch an, aber sehr bald hat die extreme Rechte erkannt, dass die Pandemie für sie zu einem Konjunkturprogramm werden kann. Man kann das dann auch an Einzelbeispielen beobachten. Das sind erst mal ganz normal Männer, Frauen, Familien. Aber dann sind die stadtbekannten Neonazis auch dabei, dann sind die AfD-Funktionäre auch dabei. Und dann, beispielsweise, wurde im April 2020 im sächsischen Pirna an der Elbe, nicht weit von Dresden, ein Veranstaltungsleiter gesucht. Dann meldet sich ein Steffen, Polizeibeamter und AfD-Kommunalpolitiker, er sitzt heute für die AfD im Bundestag. Die AfD hat ihn da nominiert als Galionsfigur. Er hatte bei der Polizei ein Disziplinarverfahren bekommen und die haben ihn quasi gerettet und als Aushängeschild nach vorne gestellt. Was ich sagen will ist: in der Form hat man das nicht gekannt, diese bunte Mischung, aber auch gefährliche Mischung, auch die fehlende Sensibilität - mit Neonazis gehe ich nicht auf die Straße, da muss ich mich klar abgrenzen. Und all das war Motiv, dieses Buch zu machen. Wir haben dann in relativ kurzer Zeit dieses Buch realisiert. Das erste Gespräch dazu fand im August 2020 statt. Wir haben kreuz und quer Journalistinnen und Journalisten, andere Expertinnen und Experten gesucht, haben Themen identifiziert, haben ganz bewusst auch den Blick ins Ausland geworfen, Frankreich, USA, Österreich beispielsweise, haben auch einen Text zur Lage in Tschechien aufgenommen, das Land war ja bekanntermaßen auch zwischenzeitlich mal ein Hotspot mit den höchsten Inzidenzzahlen in ganz Europa. Es ist also eine Sammlung von verschiedenen Aufsätzen zu den Facetten dieser Bewegung entstanden. Die einen in Ostdeutschland orientieren sich an der friedlichen Revolution 1989 und behaupten, es sei eine Art „friedliche Revolution 2.0“ im Gange. Da hat es Einfallstore in die Anthroposophie, da kommen wir heute Abend noch mit Dietrich Krauß speziell dazu. Das hat auch Einfallstore bei den Kirchen, mehr noch bei der evangelischen Kirche. Und es erreicht Milieus, die als bürgerliche Mitte gelten konnten und die sich aber im Verlauf dieser Pandemie zunehmend radikalisiert haben.

Ulrike Schnellbach: Die Motivation war aber von Anfang an zu zeigen, dass sich da etwas Gefährliches zusammenbraut, so hast du es gerade beschrieben, das habt ihr offensichtlich sehr früh erkannt. In der Studie der Universität Basel zur Querdenken-Szene in Baden-Württemberg war ein Ergebnis, um es vielleicht mal auf einen Satz zu bringen: die Bewegung in Baden-Württemberg kommt von links und geht nach rechts, sie ist mindestens rechts offen. Offenbar habt ihr sehr früh gesehen, dass die Rechten dort dabei sind, sich das zunutze machen. Für wie rechts hältst du denn diese Corona-Protestbewegung insgesamt? Lässt sich das sagen? Oder wie groß ist der Anteil von gefährlichen rechten Denkern?

Matthias Meisner: Also es gab ja vor zwei Wochen eine Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung zu diesem Thema hier, die Querdenker gesprengt haben, da hat sich der Referent festgelegt auf einen Anteil im Promillebereich. Das finde ich sehr konservativ geschätzt. Ich würde jetzt nicht mit Zahlen hantieren. Ich glaube, dass Menschen, die zuvor gar nichts mit Extremen zu tun haben, dass die auf einmal über ihre Wut, manchmal über ihre Ängste, offen geworden sind für extreme Positionen, wobei manchmal die Ängste aber auch nur vorgeschoben sind, um Ressentiments zu pflegen. Der Oberbürgermeister von Leipzig, Burkhard Jung, hat im Rahmen der Diskussion über diese Entwicklung gesagt, er erlebe eine Verrohung in der Gesellschaft, wie er sie bisher nicht gekannt habe. Ich würde da mit dem Links-Rechts-Schema gar nicht so viel operieren, sondern mich gerne mit der Frage beschäftigen: Wie kommt das, dass die Wissenschaftlerin, der Arzt, vielleicht die Apothekerin nebenan, einfach die Nachbarin - Wie kommt es, dass Menschen da auch anfällig werden für verschwörungsideologisches Gedankengut, für antisemitisches Gedankengut? Denn all das sind Begleiterscheinungen der Pandemie. Ich habe im Zug auf dem Weg hierher heute noch einen Text schreiben müssen für das neue Lagebild Antisemitismus, das das Bundesamt für Verfassungsschutz herausgegeben hat. Und da stehen Sätze drin, wie „Die Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie sind ein Einfallstor für Verschwörungstheorien und extremistisches Gedankengut“ und da wird eben auch beschrieben, wie rechtsradikale Parteien sich die Pandemie zunutze gemacht haben, um verstärkt Akzeptanz zu bekommen.

Und da komme ich noch mit einer These, über die wir dann auch gerne diskutieren können. Ich glaube, größere Teile der Politik und damit meine ich explizit nicht nur die AfD, bei der man das erwartet, sondern auch alle anderen Parteien, haben es sich relativ leicht gemacht, indem sie teilweise Argumente von Skeptikern und Corona-Verharmlosern bedient haben. Das kann man namentlich machen, zum Beispiel Sahra Wagenknecht oder Friedrich Merz. Da passieren manchmal Dinge, bei denen man einfach nur staunt. Im Bundestagswahlkampf hatte Armin Laschet als Kanzlerkandidat der CDU eine Kundgebung in Erfurt. Da stürmte ein Querdenker auf die Bühne, er stellte sich nicht als Querdenker vor, sondern als Familienvater. Das war ein organisierter Rechtsextremist, der den Holocaust verharmlost, der sich zuvor mit dem sogenannten Volkslehrer, auch ein einschlägiger Rechtsextremist, getroffen hatte oder am Rande dieser Kundgebung getroffen hat. So weit, so gut. Man muss Armin Laschet, der ihn nicht von der Bühne werfen ließ, sondern mit ihm in einen Dialog ging, das vielleicht zunächst nicht vorwerfen, er musste den nicht kennen. Der Mann war bekannt geworden, weil er als Busfahrer Kinder aufgefordert hatte, die Masken abzunehmen und dann in Folge dieses Vorgangs seinen Job verloren hatte. Das muss man Armin Laschet zunächst nicht vorwerfen, aber was ich der CDU vorwerfe und auch kritisiert habe, ist, dass sie dann aus dieser Szene einen Wahlkampf Werbespot gemacht haben, in dem das untertitelt wurde, mit allen Reden, auch mit denen, die eine kritische Haltung haben, erst recht mit denen. Ich finde, mit Nazis spricht man nicht.

Ulrike Schnellbach: Belassen wir es erstmal dabei, du liest nachher noch ein paar Teile aus dem Buch. Aber um dich mit ins Boot zu holen, sprechen wir ein bisschen über Stuttgart und sprechen über die anthroposophische Szene. Die Studie der Uni Basel hat festgestellt, eine der Strömungen in dieser baden-württembergischen Querdenken-Szene, die anders ist als die beispielsweise in Leipzig oder überhaupt in Ostdeutschland, eine Strömung von mehreren, aus der sie sich speist, ist die anthroposophische Szene. Damit hast du dich genau beschäftigt. Berichtest du mal die wichtigsten Punkte: Warum Stuttgart? Warum die Anthroposophen oder manche Anthroposophen? Wie hängt das zusammen? Wie passt das eigentlich zusammen?

Dietrich Krauß: Ja, also erstmal: Warum Stuttgart? Also vielleicht erstmal eine Einschränkung, denn man kann natürlich wie immer diese vielfältige Bewegung nicht auf einen Flügel reduzieren. Aber wie eben diese Studie der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, die zwar keinen Anspruch erhebt, eine repräsentative Studie zu sein, gezeigt hat: wenn man sich nur die ideologischen Bestandteile anschaut, kann man feststellen, es gibt da einen Unterschied zwischen Ostdeutschland und dem Südwesten. Und in diesem Südwesten ist eben sehr viel stärker ein alternatives esoterisches Gedankengut festzustellen innerhalb dieser Bewegung, ohne dass die sich vielleicht alle Anthroposophen nennen, lassen sich doch viele auf diese Bewegung zurückführen. Und es ist jetzt natürlich kein Geheimnis, dass im Grunde Stuttgart die Hauptstadt dieser Anthroposophie Bewegung in Deutschland ist, manche haben das schon spöttisch das Rom der Anthroposophen genannt. Also hier ist man auch ganz nah dran an dem offiziellen Zentrum Dornach in der Schweiz. Aber Stuttgart ist eben auch Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschlands, da gab es die erste Waldorfschule, da gibt es die meisten Waldorfschulen und insgesamt ist der Südwesten weit überrepräsentiert in den ganzen Institutionen, die mit Anthroposophie zu tun haben, also Waldorfschulen, anthroposophische Kliniken, anthroposophisch geprägte Demeter Höfe - das alles hat einfach einen Schwerpunkt in Baden-Württemberg. Und dort gab es schon immer eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Impfen, die auch die Gesundheitsämter schon gemessen haben. Also da ist die Impfquote bei Masern deutlich niedriger. Es gibt unzählige Studien, die auch in ganz Europa immer wieder diesen Zusammenhang festgestellt haben zwischen Waldorfschulen und Masernausbrüchen. Und das spannende ist eben, sich anzuschauen, was das eigentlich für einen Hintergrund hat, ohne jetzt dem Aufsatz vorgreifen zu wollen, da muss man einfach ein bisschen einsteigen in diese Ideologie. Aber das hat eben einen esoterischen Hintergrund, diese Impfmüdigkeit. Und interessanterweise gab es diese bunte Mischung, von der du gesprochen hast, im Grunde schon mal vor 100 Jahren, als es eine Bewegung gab gegen die Pocken Impfung. Das ist auch so eine Ironie der Geschichte, dass viele auf diesen Demonstrationen mit irgendwelchen Reichsfahnen rumlaufen, aber im Kaiserreich unter Bismarck wurde die Pocken-Impfpflicht eingeführt. Und dagegen hat sich auch schon damals eine Bewegung gebildet, die sich aus unterschiedlichsten Quellen gespeist hat: da waren ganz harte Antisemiten dabei, da waren aber auch sehr stark die Lebensreformer dabei, die die Ursuppe der grünen alternativen Bewegung sind, da waren einzelne Liberale dabei, da waren einzelne Sozialdemokraten dabei. Das heißt, im Grunde konnte man in Stuttgart ein bisschen, das war mein Eindruck, wie so einen Wiedergänger dieser Bewegung aus dem letzten Jahrhundert beobachten. Und dabei war damals schon der stärkste Teil eben diese Lebensreform und ich denke allein aufgrund der Etabliertheit dieser Bewegung in Baden-Württemberg liegt es einfach ziemlich nahe, dass die Anthroposophie da eine große Rolle spielt bei der Impfskepsis, die da geäußert wurde.

Ulrike Schnellbach: Und kannst du das erklären, denn der eine Punkt ist ja, das „ich möchte mich nicht impfen lassen“ und „ich bin auf jeden Fall gegen eine Impfpflicht“. Und ein anderer Punkt ist ja „ich gehe auf die Straße mit Neonazis“, die dort ja offen auftreten. Also es ist wirklich für niemanden zu übersehen, dass die diese Demonstrationen für ihre eigenen Zwecke nutzen. Wieso grenzen sich Menschen, die der Anthroposophie anhängen, da nicht ausreichend ab?

Dietrich Krauß: Ich sage mal ganz provozierend, es gab in der Geschichte der Anthroposophie ziemlich viele Nazis. Es gab einen Demeter-Garten in Dachau, einer der größten Kriegsverbrecher der Geschichte, Ohlendorf, war ein Anthroposoph, einer der letzten Hingerichteten, Heß, war ein Freund der Anthroposophie. Das heißt, diese Bewegung, die wird zwar jetzt bei uns sehr stark wahrgenommen als ein Teil der linken alternativen Bewegung, aber die hatte auch in anderen Seiten der Geschichte einen ganz klar nationalistischen, nationalsozialistisch freundlichen Flügel. Ich würde sagen, die ist vielleicht nicht in sich rechts, aber die ist eben, wie man so schön sagt, rechts offen. Die hat keinen inneren Schutz, dagegen, von Rechten adaptiert zu werden. Die hat einen eigenen esoterischen Rassismus, den man unterscheiden muss von dem nationalsozialistischen Rassismus, aber es gibt da eben auch einen ideologischen Rassismus drin und es gibt eben keine ethischen Leitplanken, die diese Bewegung in sich davor schützen, auch in solche Fahrwasser abzudriften. Und deswegen finde ich, wenn man sich nur die Ideologie anschaut, dass es nicht besonders erstaunlich ist, dass die da erst mal keine Probleme damit haben, auch mit Rechten auf die Straße zu gehen, auch wenn diese Leute heute inhaltlich sicher sagen würden „Ich habe nichts mit Nazis zu tun“, das ist auch ein Unterschied, wie man ja in der Studie der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg feststellen konnte. Das sind eben oft Leute, die ansonsten rechten Themen nicht zugewandt sind, die würden eben nicht sagen, „wir sind ausländerfeindlich“ und so etwas, das ist eine spezifische andere Form von, sagen wir mal, Aufklärungsskepsis, die sich da äußert, die aber eben historisch durchaus auch rechts offen sein kann.

Ulrike Schnellbach: Was ich beobachtet habe, durch diese Studie, in den Kreisen, die diese Studie diskutiert haben, und vielleicht auch durch solche Beiträge wie in dem Buch, entsteht so eine generelle Anthroposophie-Skepsis in der Bevölkerung, um nicht zu sagen ein Bashing, also sozusagen, Anthroposophie ist ganz schön rechts, bloß keine Berührungspunkte damit. Ist das denn gerechtfertigt?

Dietrich Krauß: Ich finde, es ist höchste Zeit, sich diese Weltanschauung mal genauer anzuschauen. Ich finde, die hat ein viel zu gutes Image, ein viel zu freundliches Image. Wenn man sich wirklich den Kern dieser Lehre anschaut, und ich will da auch nicht immer als der Spielverderber dastehen, ich kann immer nur jedem sagen, leihen Sie sich mal ein Buch aus von Steiner. Und diese Bücher werden gelesen, die müssen angehende Waldorflehrer lesen. Das ist so ein absurder, abschreckender Unsinn, das ist wirklich unglaublich. Und deswegen finde ich es höchste Zeit, dass wir anlässlich dieser Auseinandersetzung rund um die Pandemie diese gesamte Weltanschauung mal kritischer betrachten, weil ich finde, da wird viel zu sehr verharmlost und es genießt im Grunde ein viel zu hohes Ansehen, wenn man sich anschaut, was da eigentlich ideologisch drinsteckt.

Ulrike Schnellbach: Also du würdest sagen, sie ist generell gefährlich, die Anthroposophie.

Dietrich Krauß: Ja, also ich finde es auf jeden Fall falsch, was hier passiert ist in den letzten Jahren, in der Nachkriegszeit, dass sowohl in der Medizin wie auch in der Pädagogik diese Bewegung so eine große öffentliche Unterstützung genießt, dass es Lehrstühle gibt, wo Leute sitzen, die an der Universität diese Esoterik verbreiten. Es gibt Stiftungs-Lehrstühle, die von anthroposophischen Förderern gestiftet wurden. Es gibt, ich komme darauf in den Beitrag, es gibt Professoren, die da Sternenstaub verabreichen gegen Corona auf einem Stiftungs-Lehrstuhl an der Charité. Das ist einfach unglaublich. Es gibt so und so viele Waldorfschulen, die mit Steuergeldern finanziert werden, wo Lehrpläne veranstaltet werden, die mit dem herkömmlichen Unterricht nichts zu tun haben. Und ich finde, da gehört dringend mal genauer hingeschaut. Und zum Thema fehlender Mindestabstand, es sollte mal ein Mindestabstand hergestellt werden zwischen Wissenschaft, öffentlichen Geldern und Glaubensinhalten. Jeder kann hier glauben was er will, aber ob der Staat das alles unterstützen sollte und ob das alles noch unter dem Siegel der öffentlichen Bildung stattfinden sollte, das ist doch äußerst zweifelhaft, finde ich.

Ulrike Schnellbach: Wir sollten schon auch ein bisschen reinlesen. Vielleicht liest du gerade mal eine Passage aus dem Kapitel.

Dietrich Krauß: Also ich fange einfach mal vorne an: „Als im Frühjahr 2020 im Corona Hotspot Baden-Württemberg der Pandemie-Protest erblühte und sich Tausende zu Demos gegen die Corona-Politik versammelten, war die Ratlosigkeit zunächst groß. Warum kulminiert ausgerechnet in der Heimat der Kehrwoche der Protest gegen die Hygienemaßnahmen? Warum hat Querdenken eine Stuttgarter Vorwahl? Bei näherer Betrachtung erscheint der schwäbische Zungenschlag des Corona-Protests weniger verwunderlich. Schließlich fällt die Skepsis im Südwesten auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil sie hier seit langem biologisch-dynamisch gedüngt wird, von einer überaus einflussreichen anthroposophischen Bewegung. Ihr Landbau, Marke Demeter, ihre Heilkunde samt Pillen und Pflegeprodukte von Wala und Weleda, vor allem aber die Waldorfpädagogik, sind dort allgegenwärtig. Zurück gehen sie allesamt auf die Lehre des Okkultisten Rudolf Steiner. Seit vor 100 Jahren in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet wurde, gilt die Schwaben Metropole als die Hauptstadt der eurythmischen Bewegung. Die Waldis sind hier in den akademischen und grünen Milieus bestens verankert und prägen ein spezifisches Stuttgarter Klima alternativer Spießbürgerlichkeit. Dieses harmlose Image verstellt allerdings den Blick auf die eher dunklen Seiten des schwäbischen Steiner-    Universums. Zuletzt waren 30 % der Waldorfschüler im Südwesten beispielsweise nicht gegen Masern geimpft. Immer wieder grassiert an den Einrichtungen die hoch infektiöse Kinderkrankheit. „Anthroposophie und ihre Medizin verursacht Masernausbrüche“, konstatierte schon vor zehn Jahren Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinhaber für Alternativmedizin. Seit Jahren treffen sich die wichtigsten Impfkritiker regelmäßig in Stuttgart zum Impf-Symposium. Dort sprach auch schon Michaela Glöckler, die Leiterin der Medizinischen Sektion der Anthroposophie Zentrale im schweizerischen Dornach. Dabei legen die Anthroposophen großen Wert darauf, sich von ordinären Impfgegnern abzugrenzen. Es gehe ihnen einzig um die Freiheit zur individuellen Impfentscheidung. Der gesetzlichen Pflicht, Kita und Schulkinder gegen Masern zu impfen, musste man sich zwar beugen, gleichzeitig aber strengten anthroposophische Ärzte eine Verfassungsklage gegen die Masern-Impfpflicht an. Offiziell attestiert die anthroposophische Ärzteschaft der Covid-19 Impfung zwar eine hohe Wirksamkeit, empfiehlt aber lediglich die Impfung für Risikogruppen und rät bei Kindern und Jugendlichen teilweise explizit davon ab. Auch wegen noch offener Fragen zu Wirksamkeit und Sicherheit wehrt man sich hier gegen jede Form des Impfzwangs. „Wir sind freie Bürger, die frei entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht“, verkündete der anthroposophische Vordenker Christoph Hug in seiner Rede auf der Stuttgarter Querdenker-Demo. Und weiter: „Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt“. Der Waldorflehrer-Ausbilder hat wie viele aus dem Milieu keine Berührungsängste mit den Querdenkern. In über 30 Städten zeigten Menschen aus der anthroposophischen Szene Flagge bei den Corona-Protesten. Inzwischen ist Hug wie viele andere in der stark von Steiner Ideen geprägten Querdenker-Partei die Basis organisiert. Warum die Steiner-Gemeinde so verbissen um die Ansteckungsfreiheit und gegen jedweden Impfzwang kämpft, kann man nur verstehen, wenn man in die Abgründe Steiners‘ Okkultismus hinabsteigt. Den hält man der Öffentlichkeit nicht allzu offensiv unter die Nase. Schließlich hängen die Waldorfschulen und Kliniken am staatlichen Tropf. Allzu obskure Inhalte könnten die Steuerzahler verunsichern. In offiziellen Stellungnahmen wird deshalb die Steiner-Esoterik zu harmlosen Allerwelts-Weisheiten verwässert. Zum Beispiel: Wer Kinderkrankheiten wie Masern durchstehe, statt sie zu unterdrücken, heißt es, stärke sein Immunsystem und fördere die kindliche Entwicklung. Dahinter verbirgt sich jedoch eine viel abgründigere These: Nach Steiner inkarniert sich das Ich des Menschen im Laufe der Zeit in immer wieder neue Leiber. Deshalb müsse man es dem Kind in den ersten Lebensjahren ermöglichen, sich durch fieberhafte Masernerkrankung quasi in seinem Leib einzurichten und diesen zu individualisieren. Dass das auch genau so gemeint ist, erklärt im Februar 2020 in der Waldorfpädagogischen Zeitschrift Erziehungskunst die anthroposophische Ärztin Daphne von Boch. Ein Neugeborenes bestehe nämlich noch ganz aus mütterlichem Eiweiß und drohe deshalb von der Mutter überwältigt und fremdgesteuert zu werden. Erst das Masern Fieber zerstöre das Mütterliche und mache so Platz für das eigene Eiweiß, das dem individuellen geistigen Wesen entspreche.“

Das findet man auch hier in diesem Buch, das vielleicht viele schon mal in der Hand gehabt haben, es ist so ein Bestseller der anthroposophischen Szene, „Kindersprechstunde“ von eben dieser Michaela Glöckler, mit einer Auflage von einer halben Million. Ich habe mit Erschrecken festgestellt, dass ich vor 30 Jahren, als ich meinen Sohn bekommen habe, damals auch dieses Buch gekauft habe, weil das eben auch wie so oft nicht deutlich geframed ist als ein anthroposophisches Buch, sondern das steht da einfach ganz normal unter Kinderheilkunde. Da werden auch genau diese Thesen verbreitet.

„Hin und hergerissen zwischen Gesetzestreue und Steiner-Gehorsam zeigen sich führende anthroposophische Mediziner durchaus flexibel. Es müssten ja nicht unbedingt die Masern sein, die man dem Kind zukommen lassen müsse. Eine Lungenentzündung tue es auch. Hauptsache, das Kind fiebert. Und dabei geht es nicht nur um das Immunsystem. Krankheiten haben im ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt für die anthroposophische Medizin nämlich einen erzieherischen Sinn. Sie sind karmischer Ausgleich für Fehlverhalten im letzten Leben. Zu starkes Selbstgefühl können nach der Wiedergeburt zu Cholera führen, sinnliche Ausschweifung zu Lungenentzündung. Wer im vorherigen Leben zu selten musiziert hat, leidet jetzt unter Asthma. Wer zu wenig Interesse an den Sternen gezeigt habe, werde womöglich mit Bindegewebeschwäche gestraft. Keine Comedy, das ist Anthroposophie Original. Das Lachen vergeht einem allerdings endgültig, wenn man nachliest, mit welch okkultem Irrsinn der selbsternannte Hellseher den Ursprung von Infektionskrankheiten erklärt. Bazillen und Viren sind für Steiner geistige Dämonen und Verwesungsprodukte untergegangener minderwertiger Völker wie der Mongolen Rasse. Ihr verseuchter Astralleib infizierte bei den Völkerwanderungen die fortgeschrittene Rasse der Germanen. Dieser Irrsinn wird von Anthroposophen anlässlich der Coronakrise neu aufgelegt, als Inspiration für den Umgang mit der aktuellen Pandemie. Der Virus wird auch als spiritueller Angriff des Teufels auf die Menschheit gedeutet, der gerade seine Inkarnation vorbereite. Mit Geld, Macht, Lüge und Furcht mache er die Menschen erst empfänglich für den Virus. Gegen die teuflische Angst helfen Globuli aus Lichtsubstanzen wie Meteoreisen. Sie werden in anthroposophischen Kliniken als Corona-Therapie verabreicht.“

Zum Beispiel auf der Havelhöhe in Berlin, der Leiter dieser Klinik, Harald Matthes, sitzt auf diesem Stiftungslehrstuhl und behauptet sogar aufgrund dieser Behandlung wesentlich höhere Heilerfolge bei Corona erzielt zu haben.

„Dem Meteoritenstaub wohnt laut Steiner eine Weltenkraft inne, mit der die Götter die teuflischen Kräfte im menschlichen Blut erfolgreich bekämpfen. Zur Erinnerung: diese anthroposophische Medizin ist eine gesetzlich anerkannte Therapierichtung, zu der sich normale Mediziner weiterbilden lassen können, wenn sie ein von anthroposophischen Institutionen zertifiziertes Kursprogramm belegen. Aktuell kann man dort die sieben Chakren und die Äther-Prozesse studieren oder Organ-Einreibe-Kurse auf Elba belegen. Einen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit, wie herkömmliche Medikamente, müssen die anthroposophischen Mittel allerdings nicht erbringen. Davon wurden sie 1976 nach einer großen anthroposophischen Lobby Kampagne…“

Vorne dran standen damals Prominente wie Heinrich Böll, ironischerweise, Heinz Rühmann und Beuys.

„…wurden die anthroposophischen Medikamente vom Bundestag ausdrücklich und einstimmig befreit. Die CDU meinte, die Alternativmedizin sei eine wichtige nationale Errungenschaft. Für die FDP war es eine Frage der ärztlichen Freiheit. Und für den damaligen CDU-Fraktionschef Karl Carstens atmeten verbindliche wissenschaftliche Standards gar den Ungeist des Sozialismus. Seitdem, und das gilt bis heute, ist es so, dass sich Anthroposophen, Homöopathen und Naturheilkundler die Wirksamkeit ihrer Mittel ohne wissenschaftlichen Nachweis selbst bescheinigen. Davor wird nun extra die Kommission C, D und E am Bundesamt für Arzneimittel eingerichtet, besetzt mit Anhängern der jeweiligen medizinischen Glaubensrichtung. Sie lassen ihre Mittel nach eigenen Maßstäben quasi zu, weil eine Monopolisierung der herrschenden wissenschaftlichen Lehre als verbindlicher Stand wissenschaftlicher Erkenntnis vermieden werden müsse. Seitdem existiert unter der Beruhigungsformel Wissenschafts-Pluralismus in Deutschland im Grunde eine irrationale Medizin mit staatlichem Gütesiegel.“ Ja, soweit vielleicht erst mal.

Ulrike Schnellbach: Dann kommen wir mal zu einem anderen Unterthema des Buchs. Es ist trotzdem eine relativ kleine Gruppe, für wie stark hältst du den Einfluss der Anthroposophie insgesamt in der Politik, in der Bildungslandschaft, in der Medizin? Es ist ja wirklich ein kleiner Ausschnitt.

Dietrich Krauß: Ja, es ist schwer zu greifen. Ich habe es noch mal nachgerechnet, die aktuellen Zahlen. Man hat in Baden-Württemberg immerhin glaube ich 2,3 % der Schüler, die eine Waldorfschule besuchen. Das ist ungefähr drei, viermal so viel wie im Rest der Republik. Das heißt, es ist natürlich erst mal wenig auf den ersten Blick, aber gleichzeitig muss man sagen, sind es eben schon auch durchaus einflussreiche Kreise, wo sich so ein bisschen das Bildungsbürgertum trifft. Ich habe das selber in Stuttgart erlebt. Ganz viele nutzen das auch, um sich so ein bisschen, sage ich jetzt mal bösartig, von der multikulturellen Gesellschaft so einer Stadt zu isolieren. Also zumindest war das in meiner Generation so, da war man dann letztlich unter sich und innerhalb der eigenen Kreise in diesen Schulen. Und das sind dann schon die Architekten, die Anwälte, das sind schon, sagen wir mal, tendenziell eher die besseren Kreise, die sich da treffen und die natürlich auch einen Einfluss haben. Und es gibt eben sehr reiche Gönner. Es gibt die Mahle-Stiftung, es gibt die Software AG, es gibt die bekannten Unternehmer, der Drogeriemarkt, der DM Markt, und so weiter. Das heißt, es ist eine kleine Gruppe. Aber das Interessante ist eben, die geht auch quer über die Lager, wie auch schon diese Aufzählung mit Böll, Rühmann und Beuys gezeigt hat. Das heißt, es geht vom grünen Milieu, aber auch bis in die CDU bekanntermaßen, denn die bayerische Kultusministerin damals, Hohlmeier, glaube ich, hatte ihre Kinder auch auf der Waldorfschule. Das heißt es ist so eine eigenartige Querfront, insofern so ähnlich wie bei der Corona-Bewegung insgesamt, auch da ist es eben sehr breit aufgestellt und schon sehr einflussreich, würde ich sagen. Deswegen sind die absoluten Zahlen da vielleicht gar nicht so aussagekräftig. Und man muss sagen, ich glaube, die wenigsten sind vielleicht mit den esoterischen Inhalten so vertraut, aber profaniert, als Alltagswissen, ist davon sehr viel eingesickert in die Gesellschaft, gerade eben in Sachen Kinderkrankheiten. Es würde kaum einer auf die Anthroposophie direkt zurückführen, aber ich höre das unheimlich oft , „das ist doch eigentlich besser, so eine Krankheit durchzumachen“, das kommt letztlich aus der Anthroposophie, dieser Gedanke. Das heißt, viele dieser Elemente dieser Lehre sind auch ohne den okkulten Background einfach so ein bisschen Alltagswissen geworden.

Ulrike Schnellbach: Okay, jetzt nur noch mal, um das einzusortieren. Wir haben gesagt, die Querdenken-Szene setzt sich aus vielen Strömungen zusammen und eine Strömung, die dort wahrnehmbar ist oder die auch die Uni Basel sehr deutlich wahrnehmen konnte, waren Anthroposophinnen und Anthroposophen. Das heißt aber nicht, alle Anthroposophen sind Querdenker oder umgekehrt. Und wir kommen jetzt mal zu einer anderen Strömung innerhalb der Querdenken-Szene, und es heißt auch nicht alle Querdenker oder die, die sich als Querdenker wahrnehmen, wären rechtsextrem, aber die Rechtsextremen haben, das hast du ja eingangs auch gesagt, die nutzen die Gunst der Stunde und da gibt es eine große Bewegung, die sich nicht abgrenzt. Sprechen wir mal über die ganz extremen Rechten in der Querdenken-Szene und lesen vielleicht dazu auch noch ein bisschen was aus dem Buch.

Matthias Meisner: Genau. Ich lese jetzt Auszüge aus einem Text, den Konrad Litschko geschrieben hat. Konrad Litschko ist Redakteur bei der taz und er hat unter der Überschrift „Nie war ein Systemwechsel so greifbar“ über Neonazis bei den Corona-Protesten für uns geschrieben. Es gibt noch einen eigenen Text zur AfD, aber jetzt geht es wirklich um die Hardcore Neonazis.

„Es ist der 25. April 2020, als Udo Voigt auf dem Rosa Luxemburg Platz in Berlin steht. Fotos zeigen den NPD-Funktionär mit Schirmmütze und blauer Jacke. Mit ihm haben sich mehrere 100 Menschen versammelt, die an diesem Samstag als selbsternannte „Hygiene-Demo“ gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren. Es ist einer der ersten Proteste dieser Ar. Bürgerliche Hippies, Impfgegner oder Verschwörungsanhänger finden sich ein, ohne Abstände. An dem NPD-Mann in ihren Reihen stören sie sich offenbar auch nicht. Udo Voigt aber ist nicht zufällig dabei. Der frühere NPD-Chef, eines der bekanntesten Gesichter des deutschen Rechtsextremismus, sucht gezielt die Massen und die öffentliche Aufmerksamkeit. Später wird er ein Demo-Selfie auf seinem Facebook-Profil veröffentlichen. „Corona-Diktatur stoppen, bevor es zu spät ist“, schreibt er dazu, „Wir sehen nicht tatenlos zu“. Udo Voigt war einer der ersten Neonazis, die sich in die damals entstehenden Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen einreiten. Und er wird in den nächsten Monaten immer wieder dabei sein in Berlin, Leipzig oder im sächsischen Aue. Doch er wird nicht der einzige Rechtsextremist bleiben. Wer sich die Corona-Demonstrationen genau anschaut und die Kommunikation der Rechtsextremisten verfolgt, erkennt: die Szene reiht sich von Beginn an in den Protest ein. Und es wird ihr leicht gemacht, denn die Aufzüge kultivieren vieles, was auch zum rechtsextremen Kanon gehört, Agitation gegen Regierung und „Lügenpresse“, die Dichotomie von böswilligen Eliten einerseits und einem unterdrückten Volk andererseits, dazu teils antisemitisch aufgeladene Verschwörungserzählungen. Und wirkliche Gegenwehr erleben die Rechtsextremen nicht, im Gegenteil. Udo Voigts NPD erkennt dieses Potenzial sehr früh. Schon Mitte März 2020 nutzt die Partei die Pandemie für ihre Nationalismus, brandmarkt diese als Folge der Globalisierung. Die Neonazis machen klar, dass es der NPD um mehr geht, als lediglich Infektionsschutzmaßnahmen zu kritisieren. Sie fordert gleich einen System-Exit und frohlockt: „Noch nie war ein Systemwechsel so greifbar wie derzeit“. Auch Udo Voigt kritisiert kurz vor seinem Berliner Protestbesuch markig die Schließung von Schulen und Gaststätten aus Infektionsschutzgründen. „Mir reicht es jetzt“, schreibt er in einer Stellungnahme. Er wolle endlich aus dem „Merkel-Knast“ BRD entkommen und wieder frei sein. Und: „ich bin bereit, künftig für meine Freiheitsrechte auf der Straße zu kämpfen“.“

Das ist übrigens ganz schön. Ich habe vorhin ja schon mal erwähnt, die Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung, die von Querdenkern massiv gestört worden ist, hier in Freiburg auf dem Telegram Kanal von „Frei sein Freiburg“ wurde dann in Antwort auf einen Bericht der Badischen Zeitung ein Video eingestellt, wo ein Musiker namens Axel H. sagt „Es ist doch nur gut, wenn auch Nazis für Freiheitsrechte demonstrieren, dann holen wir sie ja in die bürgerliche Mitte zurück“. Das fand ich ein bemerkenswertes Argument gegen die Abgrenzung zu Rechtsextremisten. Ich komme wieder zu Konrad Litschko.

„Auch die Rechte, eine Neonazi Splitterpartei mit Schwerpunkt in Nordrheinwestfalen, sät bereits im März 2020 Misstrauen gegen die Bundesregierung. Die Corona-Maßnahmen seien „ein willkommener Anlass auszutesten, was der Bundesbürger sich so alles an Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit gefallen lässt“. Fast wortgleich klagt der Dritte Weg, ebenfalls eine militante Neonazi-Kleinpartei, über die „teils absurden“ Regelungen der Bundesregierung, die Deutschen würden in der Coronakrise komplett „entmündigt“. Der Slogan auch hier: Das System ist gefährlicher als Corona. Und die Szene passt ihre alten Konzepte an. Hieß es schon zuvor: „Deutsche helfen Deutschen“, bietet die Rechte nun eine Corona-Einkaufshilfe an, als Zeichen der nationalen Solidarität. Auch der dritte Weg ruft eine Nachbarschaftshilfe aus. Udo Voigts NPD kündigt Solidaritätsaktionen an. Es ist wohl weniger tatsächliches Anpacken als Propaganda. Aber es zeigt: die Szene reagiert schnell. In Berlin folgen auf Udo Voigt weitere Aktivisten von NPD und der dritte Weg, die sich den Corona-Protesten anschließen, dazu rechte Hooligans, Identitäre, die Patriotic Opposition, so die Selbstbezeichnung. Vogt selbst wird später die Proteste als Werbefläche für seine seit dem Aufstieg der AfD in die Bedeutungslosigkeit versunkene NPD nutzen, und mit Plakaten der Parteizeitung Deutsche Stimme anrücken. Ohne Widerstände. „Ich sehe das erstmalig“, freut er sich daraufhin erstaunt in einem Interview mit der deutschen Stimme. Der Protest funktioniere parteiübergreifend, ohne sich gegenseitig zu distanzieren.“

Ich überspringe jetzt einen Absatz.

„Einer der ersten, die selbst Kundgebungen organisieren, ist Sven Liebich, ein äußerst umtriebiger Neonazi aus Halle in Sachsen-Anhalt. Lange war der Endvierziger in seinem Netzwerk aktiv. Nun setzt er neben analogen Einschüchterungen und Bedrohungen auf digitale Formate, insbesondere seinen Video-Kanal, und filmt sich bei Provokationen oder Kundgebungen. Ende April 2020 steht Liebich auf einem Autodach auf dem städtischen Marktplatz, parodiert eine vermeintliche Corona-Diktatur – „Willkommen in der neuen Weltordnung“, ruft der Rechtsextremist. Anhänger tragen rote Fahnen, ein Banner kündigt Covid-1984. Liebich ätzt über die Errichtung eines Unterdrückungsapparat, der Gedankenverbrechen irgendwann in Umerziehungslager schicken werde.“

Über den kann man auch noch eine ganze Menge mehr erzählen, Dinge, die sich dann nach Erscheinen unseres Buches zugetragen haben. Es gibt einen florierenden Versandhandel mit gelben Sternen, Aufschrift „Ungeimpft“, von Sven Liebich. Der war in Gera präsent, als das Privathaus des Oberbürgermeisters belagert wurde und hat Filme dieser Aktion ins Netz gestellt.

„Die Gewalt wird sich fortsetzen. Als Mitte November 2020 Corona-Protestierer vor dem Bundestag in Berlin gegen die Verabschiedung des neuen Infektionsschutzgesetzes demonstrieren, reisen wieder etliche Neonazis an. Es kommt zu Angriffen auf Polizisten. Vorn mit dabei heizt Sven Liebich die Stimmung an, ruft den Beamten zu „Erschießt doch einfach die Leute!“. Die Polizei reagiert mit Wasserwerfern, Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik spricht im Anschluss von immenser Gewalt. Im Dezember schließlich stuft der Verfassungsschutz das Stuttgarter „Querdenken 711“ als Beobachtungsobjekt ein,  Argument des Stuttgarter Innenministers Thomas Strobl: die Initiative werde von Reichsbürgern und Rechtsextremisten angeführt und schüre gezielt Hass auf den Staat. Nun, langsam reagieren die Organisatoren. Sie appellieren an Teilnehmer, keine Reichsfahnen mehr zu den Protesten mitzubringen. Bei einem Querdenken-Protest in Düsseldorf bitten sie erstmals die Polizei, angereiste Hooligans und Rechtsextreme auszuschließen. Auch einige der Neonazis zweifeln. Dem Dritten Weg fehlt bei den Querdenkern eine fundierte Systemkritik. Die Partei warnt auch vor zu wilden Verschwörungstheorien, vor obskuren Sumpfblüten, die das rechte Lager als zu irrationale Erscheinungen disqualifizieren und zu Verlierern der Krise machen könnte.“

Da stellen wir jetzt wieder die Verbindung zu Stuttgart her und dem, was Dietrich Krauß gesagt hat.

„Die Demonstrationen besuchen die Neonazis dennoch vorerst weiter. Zu groß bleibt die Verlockung, die zugeneigte Masse für die eigene Propaganda und Mitstreitersuche zu nutzen. Oder wie es der Dritte Weg einmal festhält: „Wenn es nirgendwo sonst einfacher war, sich direkt an deutsche Seelen zu wenden, ohne keifenden Antifa Pöbel und Hamburger Gitter im Weg“.

Das vielleicht als Einstimmung auf diesen Aspekt der Corona-Proteste.

Ulrike Schnellbach:  Ja, ist das eigentlich ein neuer Aufguss von Pegida? Also Pegida 2014/15/16 mit dem Migrationsthema? Jetzt haben wir das Corona-Thema und die die gleiche Mischung an Leuten setzt sich auf dieses Thema oder nutzt dieses Thema, das uns alle umtreibt.

Matthias Meisner: Ich glaube tatsächlich, dass es da viele Verbindungen gibt, dass auch speziell in Sachsen Menschen, die bei Pegida auf die Straße auf der Straße waren, sich dann wieder Querdenken angeschlossen haben. Und teilweise gibt es dann sogar Übergänge in den Rechtsterrorismus. Als auf dem Höhepunkt der Pandemie im letzten Jahr Pegida Geburtstag feierte, hat die neonazistische Kleinpartei Freies Sachsen, die ein ganz wichtiger Motor von den Corona-Protesten in Sachsen sind, auch einen Stand aufgebaut, ein Transparent ausgebreitet und hinter dem posierte dann ein verurteiltes Mitglied der rechtsterroristischen Gruppe Freital. Also das ist schon erschreckend, was da möglich geworden ist. Und ja, historisch - Pegida, Anti-Asyl-Bewegung, Corona-Proteste - wie geht es weiter? Vielleicht hat die eine oder der andere im Saal es gelesen, ich habe für die Badische Zeitung einen Text geschrieben über Putin, Freunde unter den Querdenkern und auch einen zum gleichen Thema für die Kontext Wochenzeitung. Ich habe dann den Text vor ein paar Tagen meinem 15-jährigen Sohn gezeigt und er hat es mit Interesse gelesen und er sagte „Kann das sein, dass diese Leute gegen alles sind?“ Und ich konnte ihm nicht so richtig widersprechen. Das ist nicht aus dem Nichts gekommen, der Protest, der sich hier bei Corona auf die Straße fand, er hat nur eine neue Breite erfahren. Und er hat Milieus erreicht, die, als es um die Frage Geflüchtete ging, noch nicht vorne dran dazugehörten, den Widerstand gegen „die da oben“ zu proklamieren.

Ulrike Schnellbach:  Es gibt ja auch einen Beitrag im Buch, der spricht von einem Leugner-Kabinett, also einer Bewegung, die gegen jeden immer etwas sucht, gegen das sie sein kann. Einfach wichtigen, legitimen Widerstand wahrnimmt, notwendigen Widerstand. Klimawandel ist dabei das nächste große Thema. Was ist deine Prognose?

Matthias Meisner: Also wir haben im Buch auch dazu ein Thema. Es gibt auch tatsächlich sogar personelle Allianzen. Karsten Hilse, ein AfD-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen, der sich auch im Umweltausschuss regelmäßig als Leugner des menschengemachten Klimawandels positioniert, ist zugleich ganz aktiv bei der Organisation von Corona-Protesten, also das ist ein potenzielles Thema. Auf das Thema Ukraine-Krieg waren wir nicht vorbereitet, aber auch da ist es schon bemerkenswert bis erstaunlich, wenn man durch die Telegram-Kanäle schaut, auf denen die Bewegung mobilisiert, wie viel Verständnis dort verbreitet wird für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir haben heute eine friedliche Zusammenkunft hier. Ich habe das erwähnt, was bei der Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung los war. In Konstanz hat die einschlägige Querdenken-Bewegung aufgerufen, zu unserer Veranstaltung am Dienstag zu kommen und ich glaube nicht mit guten Absichten. Ich habe mir deren Kanal auf Telegram angeschaut, „Frei denken Konstanz“, der ist auch voll mit Einträgen wo russische letztlich Kreml Propaganda verbreitet wird in der aktuellen Situation.

Ulrike Schnellbach:  Das muss man ja erstmal in seinem Kopf zusammenkriegen. Das sind Leute, die gegen eine Corona-Diktatur protestieren und sagen, in diesem Land hätten wir keine echte Meinungsfreiheit mehr. Und dann ziehen sie zur russischen Botschaft und bitten Putin um Hilfe gegen die Diktatur und für die Meinungsfreiheit. Ich meine, das ist ja so offensichtlich, dass da das eine nicht zum anderen passt. Warum ist das egal?

Matthias Meisner: Ich glaube, es gibt so ein ungetrübtes Verhältnis zu Irrationalitäten in dieser Bewegung.

Ulrike Schnellbach:  Und wenn man dann diskutieren will, ist das aber auch ist schwierig.

Matthias Meisner: Ich glaube tatsächlich, das ist so eine Geschichte. Ich habe bei der Sächsischen Zeitung gearbeitet, ich habe für die dpa nach Stuttgart in Dresden gearbeitet, ich habe sehr viel über Sachsen gemacht. Es gab 2015 ja die Versuche, mit den in Anführungsstrichen besorgten Bürgern ins Gespräch zu kommen, mit Dialogformaten auf Augenhöhe und so weiter. Extrem viele von diesen Dingen sind schiefgegangen. Die Menschen, die an solchen Dingen beteiligt sind, werten es letztlich als Akzeptanz für ihre Positionen und das geht dann nach hinten los. Michael Kretschmer, der Ministerpräsident in Sachsen, hatte lange daran zu knabbern, dass er zu einem runden Tisch hinter verschlossenen Türen Stefan Homburg und Sucharit Bhakdi miteingeladen hat, um dort den Austausch zu pflegen. Die haben das nachher, obwohl Vertraulichkeit vereinbart war, das gesamte Gesprächsprotokoll ins Netz gestellt und gejubelt wie sonst was. Der hat jetzt nicht gesagt „ihr habt recht“. Aber allein der Umstand, auf diese Weise das Gespräch zu führen, ist sehr schwierig, sehr problematisch. Das bedeutet jetzt nicht, dass ich von Ihnen erwarte, dass Sie alle jubeln, applaudieren zu allem, was wir sagen. Aber wenn es um führende Aktivisten der Bewegung geht, dann halte ich ein Gespräch tatsächlich nicht nur für schwierig und aussichtslos, sondern für falsch.

Ulrike Schnellbach:  Einen Punkt noch, bevor wir in die Publikumsdiskussion gehen. Einen Punkt möchte ich noch mit euch beiden besprechen. „Der fehlende Mindestabstand“, das ist der Titel des Buches. Es ist ein Vorwurf, so verstehe ich es, oder fordert ihr einen Mindestabstand einzuhalten gegen diese Bewegung? Wo seht ihr ihn nicht gewahrt? Und wohin deutet der Vorwurf?

Matthias Meisner: Also nochmal, das Buch ist vom Herder Verlag erfunden, auch der Titel. Ich finde ihn aber genial, weil er natürlich so schön doppeldeutig ist. Es geht um den fehlenden Mindestabstand, wenn Leute quasi in einer Demonstration auf die Pelle rücken, obwohl der Schutz vor Ansteckung gebietet, Abstand zu wahren. Es geht nicht nur darum, dass jetzt alle generell von der Querdenken-Bewegung Mindestabstand halten sollen, sondern dass in der Querdenker-Bewegung viele den Abstand zu Rechtsextremisten nicht einhalten. In dem Buch ist ein Interview mit Dunja Hayali drin und ein Kernsatz aus dem Interview steht auf dem Klappentext: „Wer mit Rechtsradikalen, mit Neonazis, Faschisten, Antisemiten mitläuft, der hat keine Ausrede mehr. Und dass die Bewegung gekapert wurde, war und ist kein Geheimnis.“ Das unterstreiche ich.

Dietrich Krauß: Um zu meinem Spezialgebiet zu kommen, da stellt es sich vielleicht noch ein bisschen anders dar, ich habe es ja vorhin schon versucht anzudeuten. Ich glaube, der fehlende Mindestabstand richtet sich nicht nur gegen rechts, sondern das richtet sich auch ein bisschen an die Öffentlichkeit oder an den Staat oder auch an die wissenschaftliche Medizin, die da, sei es aus Erwerbsinteresse oder um sich ein fortschrittliches Image zu geben, im Grunde wissenschaftliche Standards ganz offiziell unterlaufen lässt. Da kriegen Mittel quasi den Status einer Medizin, die den einfach nicht verdient haben. Und da müsste eben auch ein Mindestabstand wiederhergestellt werden, dass es nicht sein kann, dass wir einfach eine okkulte Medizin mit staatlichem Gütesiegel haben, das darf einfach nicht sein. Jeder soll glauben, was er will, jeder darf auch nehmen, was er will. Aber es kann nicht sein, dass so etwas in der Apotheke verkauft wird als Medizin. Ein Beispiel dazu vielleicht noch aus der Praxis, wie schwierig das oft ist, diese okkulte Medizin zu identifizieren: es gab, zu der Diskussion um die Kinder-Impfpflicht, ein Interview im „heute-journal“ mit dem Pressesprecher des Bundes- oder Landesverbandes der Kinderärzte, und der hat davon abgeraten, generell Kinder zu impfen. Ich habe da natürlich jetzt einen Radar, da google ich dann immer erstmal, ob es ein Anthroposoph ist und natürlich, es war ein Anthroposoph. Das wird aber eben nicht dazugesagt, sondern der ist einfach erstmal ein ganz normaler Kinderarzt. Und dann googelt man weiter, was er so geschrieben hat und dann findet man tatsächlich einen wissenschaftlichen Aufsatz, wo es um den Inkarnationswiderstand und Vitamin D Mangel geht. Das heißt, es ist ein esoterisches Thema, Reinkarnation und Vitamin D, das ist aber in irgendeiner sogenannten wissenschaftlichen Zeitung veröffentlicht worden, irgendwo funktionieren die Barrieren da nicht mehr.

Die Leute wissen, wenn sie diesen Leuten zuhören, im Grunde nicht, argumentiert der jetzt aus einer wissenschaftlichen-medizinischen Sicht oder als Esoteriker und das kann nicht sein, finde ich, da müsste auch innerhalb der Ärzteschaft eine viel offensivere Auseinandersetzung mit diesem Okkultismus stattfinden. Mehr Klarheit, mehr Transparenz und mehr Abgrenzung und nicht auf Augenhöhe und diese Unterschiede nicht einfach so verwischen, die es da einfach gibt.

Matthias Meisner: Wir haben uns vorhin, als wir hier zusammensaßen, gefragt, ob die Menschen im Saal heute über Querdenken und Co sprechen, wissen wollen, wie die Wahl in Frankreich ausgegangen ist. Wir haben in dem Buch auch einen Text über Frankreich, es ist ganz interessant, die Corona-Leugner-Szene speist sich dort stark aus der Gelbwesten-Bewegung und in Frankreich ist es zu vielen Verschiebung gekommen. Aber um die Pointe jetzt nicht zu lange hinauszuzögern, Macron hat gewonnen, mit knapp 60 % und Le Pen ist mit gut 40 % abgeschlagen. Aber ich freue mich nicht darüber, dass wir erleichtert sind, dass eine Rechtsextremistin 40 % der Stimmen in einem demokratischen Land bekommen hat. So, das nur kurz als Einschub, sozusagen der Nachrichten-Blog.

Ulrike Schnellbach Ja, aber ein bisschen erleichtert sind wir doch, weil wir haben uns überlegt - wie diskutieren wir weiter, wenn zwischendrin klar wird, Le Pen gewinnt die Wahl und dann hätten wir auch ein verwandtes, riesengroßes Problem nebenan gehabt, was wir auch noch hätten diskutieren wollen. Das müssen wir jetzt nicht, einmal tief durchatmen, bevor Sie dann Ihre Fragen loswerden. Ganz kurz nochmal der konzentrierte Blick auf die Szene in Freiburg. In Freiburg war ja die Querdenken-Szene, würde ich sagen, relativ groß. Hier gab es sehr große Demonstrationen, auch große Gegendemonstrationen, aber tatsächlich die Corona-Schutzmaßnahmen-Protestdemonstrationen waren groß.

Sebastian Müller, der die Szene immer beobachtet und der ganz nah dran ist, hat sich bereit erklärt uns alle ganz kurz auf den gleichen Stand zu bringen. Was war hier und wie ist es im Moment?

Sebastian Müller: Die erste Anti-Corona-Maßnahmen-Demo in Freiburg wurde tatsächlich veranstaltet von Dubravko Mandic, der eingeladen hatte, also ein Ex-AfD Mitglied, der aus der AfD rausgeworfen wurde oder ausgetreten ist, weil er zu rechts ist, das muss man auch erst mal schaffen. Und von da wurden quasi vor Beginn der eigentlichen Demos Grabsteine mitgetragen, da stand Gastronomie drauf oder Hotellerie und so weiter. Infolgedessen gab es dann unabhängig davon in Freiburg zwei Gruppierungen: die eine traf sich am Münsterplatz, das war so eine rechtere herbere im Auftreten, die sich sehr stark gegen die Maßnahmen wandte und eine, ich würde sagen, mit öko-esoterischem Publikum auf dem Platz der alten Synagoge. Das lief dann fast ein halbes Jahr lang, bis sich dann diese beiden Bewegungen und Demonstrationen vereinigten. Also wir haben auch mal eine Umfrage gemacht und da kann man relativ gut sehen, dass es da bei beiden ein sehr unterschiedliches Publikum gab, auch vom Auftreten her ganz unterschiedlich. Zu Beginn waren es sehr viele Menschen mit persönlichen wirtschaftlichen Problemen, das änderte sich dann aber im Laufe der Zeit. So in Richtung Herbst 2020 war dann einfach eine ideologische Verfestigung zu sehen, da gab es dann auch eine Zeit lang weniger Demonstrationen und man hat sich auf die Aktionsform Autokorso beschränkt, was ein bisschen einfacher ist, weil dabei eine Gegenaktion erst einmal schwierig ist. Im Laufe der Zeit hat sich dann die Szene, die Gegenaktionen machte und gegen die Corona-Leugner auftrat, entwickelt, das war lange Zeit eigentlich kein breites zivilgesellschaftliches Bündnis, sondern sehr weit linksstehende, schwarz gekleidete Menschen, Antifa oder so wird man denken, die so ein bisschen diese Autokorsos gestört haben. Und um noch zu sagen, wo diese Bewegungen in Freiburg herkommen, ein Bekannter von mir hat es recht gut beschrieben mit Vauban-Elend. Vauban ist so der alternative Stadtteil in Freiburg, und da gibt es ganz stark diese Szene, auch aus dem Umfeld von Freiburger Waldorfschulen oder von der Waldorfschule in Mülheim, das ist so das eine Zentrum, und das andere ist ganz klar eine logistische, organisatorische Unterstützung aus der weit rechtsstehenden Szene in Freiburg. Die haben Dubravko Mandic als Rechtsanwalt, die haben diverse AfD-Mitglieder, die die Autokorsos mit organisieren, die da auch, wir vermuten, finanziell dahinterstehen, weil doch auch recht große Bühnen dabei waren. Vielleicht noch so als kleine Zusammenfassung: Als harten Kern der Szene, also Leute, die auch um 7:30 Uhr morgens auf eine Demo gehen, vor der Schule, in der Kinder geimpft werden sollen, würden wir jetzt bis zu 300 Leute einschätzen. Das ist auch so das, was relativ kurzfristig und beständig mobilisierbar ist. Und je nach gefühlter Bedrohungslage, also wenn öffentlich diskutiert wird, über Impfpflicht, über Maskenpflicht, über Einschränkungen, dann kann man in Freiburg leider bis zu 6000 Menschen auf die Bühne kriegen, wobei das dann schon überregionales Publikum ist. Das merkt man dann auch, das sind dann Leute, die diskutieren, wenn sie weglaufen, dass das in Freiburg ja mit den Fahrradfahrern so schlimm ist und man hier so schlecht parken kann und so, also die kommen nicht alle aus Freiburg. Und als Aktionsformen vielleicht auch noch Demonstrationen, Autokorso und dann eher in kleineren Gemeinden im Umland die Form des Montags-Spaziergangs, der dann eher von Leuten tatsächlich auch aus der Region oder aus dem Dorf gemacht wird.

 

Ulrike Schnellbach:  Ja, und dann bleibt die 100 Millionen Dollar Frage: Wie resozialisieren wir oder wie kommen wir wieder zusammen? Was gibt es für eine Alternative dazu, mit den Menschen zu reden? Also wie überbrücken wir den Graben, der da entstanden ist, zu einer Gruppe von Menschen, die vielleicht auch gar nicht so ein großes Interesse am Diskurs, am Gespräch haben? Was können wir tun?

Matthias Meisner: Also ich bin jetzt nicht der Freiburg-Experte, deswegen war ich so dankbar, dass Sebastian Müller bereit war, ein paar Dinge zu sagen, aber ich glaube, man muss auch da sehr differenzieren. Ich möchte, wie ich gesagt habe, mit dem Anführer von Querdenken Freiburg, der Veranstaltungen stört, der zulässt, dass Reichsbürger mit dabei sind bei Protesten, möchte ich nicht sprechen. Ich bin interessiert daran, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sagen „Ich bekenne mich zur Demokratie. Ich bin aber trotzdem vielleicht Impfskeptikerin.“ Eine Frau, Ute, hat uns vor der Veranstaltung geschrieben, sich empört, wie das sein könnte, Kirche steht doch für Versöhnung und dann macht sie so eine Veranstaltung wie heute. Ich habe die eingeladen, sie sagt, sie hat was anderes vor, ich kann es dann an der Stelle nicht ändern. Natürlich möchte ich gerne Menschen, die sozusagen in der Mitte sind, die irgendwie schwanken, eine Resozialisierung ermöglichen. Aber Resozialisierung ist ein komplizierter Prozess und der funktioniert nicht so, wie es Xavier Naidoo gerade versucht, mit einem dreiminütigen Video und dann sind quasi Untaten von Jahren wettgemacht, so halt nicht. Wenn jemand tatsächlich merkt, er ist irgendwie abgedriftet in eigenartige Sphären und interessiert sich da wieder rauszukommen, dann selbstverständlich, der ist willkommen, wäre heute Abend willkommen gewesen und ist bei unseren weiteren Veranstaltung Willkommen, egal ob jetzt in Konstanz, Stuttgart, Bautzen, Freiberg usw., wo wir unser Buch vorstellen. Und natürlich, wenn jemand unter diesen Vorzeichen sagt „Ich bin neugierig, interessiert an einem Austausch“, dann wird er den mit allen Beteiligten haben können, denke ich, da kann ich auch für die Katholische Akademie sprechen und für die Heinrich Böll Stiftung und für uns beide als Mitautoren des Buches.

Ulrike Schnellbach:  Mit Blick auf die Uhr, wir machen gleich Schluss: Einen Tipp noch für diejenigen von Ihnen, von euch, die im eigenen Umfeld mit Menschen zu tun haben, die an Verschwörungserzählungen glauben, die da irgendwie abdriften - wenn sie sich da Sorgen machen oder Rat suchen wollen: es gibt in Freiburg die zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Zebra, die sind hoch kompetent zum Thema - wie können wir selber umgehen mit Menschen in unserem Umfeld, die jetzt nicht rechtsextrem sind, aber die da irgendwie affin sind, anfällig sind? Das ist eine tolle Beratungsstelle, die ist vom Land, vom Kultusministerium finanziert. Kostenlose Beratung und sehr individuell, kann ich sehr empfehlen.

Matthias Meisner: Ich kann ergänzend noch einen Werbeblock machen für ein Buch, das ich nicht geschrieben habe. Ingrid Brodnig ist eine österreichische Autorin, die unter dem Titel „Einspruch!“ ein Buch geschrieben hat, wie Verschwörungsideologien gekontert werden können. Es ist nicht die Lösung, man kann Nazis nicht verbieten, aber man kann gucken, wo sind die Anknüpfungspunkte, um Menschen wieder auf einen demokratischen Diskurs zurückzuführen. Meine Skepsis gilt nur weiterhin denen, die sich so verrannt haben,  die will ich nicht gerne auf Augenhöhe haben. Und ich habe ja auch geschildert, dass vergleichbare Versuche in Sachsen nach dem Erstarken von Pegida schiefgegangen sind.

Ulrike Schnellbach:  Es ist ja auch schiefgegangen bei der Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung, bei der dann die die Menschen, die die Veranstaltung gestört haben, gesagt haben, in diesem Land sei die Diskussionskultur kaputt. Das war dann sehr unfreiwillig komisch. Damit lassen wir es bewenden. Ich danke euch beiden für eure Expertise, für die Einblicke in das Buch. Das Buch gibt es im Vorraum zu kaufen. Wer jetzt Interesse gewonnen hat, wer sagt „Ich möchte mir die anderen Kapitel noch anschauen“, wir haben ja nur in zwei Kapitel reingelesen und es ist wirklich sehr, sehr vielfältig beleuchtet, viele Facetten des Phänomens. Ich danke Ihnen allen für Ihre Zeit, Ihr Interesse am Sonntagabend, sich mit so einem doch einigermaßen düsteren und anstrengenden Thema zu beschäftigen. Und danke der Heinrich Böll Stiftung, die sich weiterhin mit dem Thema beschäftigt, nicht nur mit diesem Buch, sondern auch mit anderen Veranstaltungen zu dieser Studie oder zu dieser ganzen Gemengelage. Ich glaube, es ist auch gut, dass die Grünen-nahe Stiftung sich damit beschäftigt, weil eben ein Teil, da gibt es auch Schnittmengen, ein Teil aus dem grünen Milieu kommt und das ist gut, wenn man sich damit auseinandersetzt. In diesem Sinne, es gibt noch viele Veranstaltungen zu der Thematik im Laufe des ganzen Jahres, die kann man auf der Webseite der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg finden. Vielen Dank Ihnen, dann sage ich in diesem Sinne auf Wiedersehen und wünsche Ihnen noch einen schönen und entspannten Sonntagabend.