Folge #05: Ein Spaziergang im Süden
Michael Nattke ist Fachreferent für das Kulturbüro Sachsen - ein Verein, der aktiv ist in Dresden, Leipzig, Görlitz, Chemnitz und Zwickau, und seit 2001 das Projekt „Mobile Beratungsteams“ und seit 2005 weitere Projekte im Bereich Demokratiebildung und soziokulturelle Animation umsetzt. Sein Ansatz ist, durch eine vitale und couragierte demokratische Zivilgesellschaft die soziokulturelle Verankerung rechtsextremer Diskurse und Organisationsformen nachhaltig zu bekämpfen. Dieser systemische Beratungsansatz stärkt lokale Akteur*innen und Institutionen bei ihrer Arbeit für mehr gelebte Demokratie.
Michael Nattke gab uns Einblicke in die Situation im Osten Deutschlands. Hier ist die rechte Szene in der „Querdenken“-Bewegung verbreiteter und sie hat von der politischen und sozialen Lage der letzten zwei Jahre profitiert. Wir fragten ihn, warum das so ist und was wir daraus lernen können.
Transkript
Carmen Romano: Eigentlich ist dieser Podcast aus reiner Neugier darüber entstanden, warum die Querdenken-Bewegung und der allgemeine Widerstand zu gesundheitlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie so stark im Osten und im Süden unseres Landes verbreitet ist. Dass im Osten die rechte Szene verbreiteter ist und von der politischen und sozialen Lage der letzten zwei Jahre profitiert hat, ist allen bekannt. Aber warum ist das so? Und was können wir von dem Vergleich zwischen Osten und Süden lernen? Wie in einem anderen Podcast, die Farbe der Nation, gesagt, möchten wir mit dem Sachsen-Bashing aufhören. Nur zu sagen, dass es dort einfach anders und schlimm ist, macht die Situation nicht besser. Denn genau dort, wo die rechte Szene am stärksten verankert ist, sind viele tolle Initiativen aktiv, die dagegen wirken, wie eben das Kulturbüro Sachsen, das in unsererheutigen Folge zu Gast ist.
Sabine Demsar: Du hörst eine neue Folge von „Ein Spaziergang im Süden“, ein Podcast der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg und der Petra-Kelly-Stiftung über die Querdenken-Bewegungen in Süddeutschland, ihre Entwicklungen und was dies für uns alle bedeutet.
Carmen Romano: Heute reden wir mit Michael Nattke. Er ist Fachreferent für das Kulturbüro Sachsen, ein Verein aktiv in Dresden, Leipzig, Görlitz, Chemnitz und Zwickau, der seit 2001 das Projekt der mobilen Beratungsteams und seit 2005 weitere Projekte im Bereich Demokratiebildung und soziokulturelle Animation umsetzt. Ihr Ansatz ist, die soziokulturelle Verankerung rechtsextremer Diskurse und Organisationsformen nachhaltig zu bekämpfen, durch eine vitale und couragierte demokratische Zivilgesellschaft. Ihr systemischer Beratungsansatz stärkt lokale Akteur:innen und Institutionen bei ihrer Arbeit für mehr gelebte Demokratie.
Hallo Michael, vielen Dank, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Fangen wir an, vielleicht mit einer allgemeinen Frage: Wie würdest du die Querdenken-Bewegung in Sachsen und im Osten allgemein beschreiben? Hat die Bewegung hier besondere Merkmale?
Michael Nattke: Hallo und vielen Dank für die Einladung. Ich denke, wenn man auf den Osten schaut und das vergleicht, dann gibt es Unterschiede bei dieser Querdenken-Bewegung oder bei diesen Demonstrationsbewegungen, auf jeden Fall im Vergleichzum Süden, beispielsweise. Also ich würde das vor allem an den Strukturen festmachen, aber auch an den Inhalten und an den Aktionsformen. Wenn wir auf die Strukturen schauen, ist es so, dass im Osten Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schon im April 2020 stattgefunden haben, zu der Zeit ist Querdenken ja eigentlich auch erst so wirklich entstanden. Das heißt, es ist eine parallele Entwicklung. Und im Osten waren es dann vor allem die AfD, das Umfeld der AfD, oder das Umfeld von Pegida, die da zu Demonstrationen aufgerufen haben, also andere Strukturen als im Süden, die damit begonnen haben. Und das hat sich auch so ein bisschen fortgesetzt. Querdenken kam im Osten eigentlich erst dazu, nachdem schon andere zu Demonstrationen mobilisiert hatten. Also das ist diese strukturelle Ebene. Auf der inhaltlichen Ebene ist es so, dass natürlich im Osten vor allem inhaltlich immer gleich ein Bezug genommen wurde oder eine direkte Verbindung hergestellt wurde zu den Demonstrationen zum Ende der DDR. Also immer wieder hat man betont, man befindet sich jetzt in einer Diktatur oder dieser Staat wird zu einer Diktatur und dagegen müsse man sich genauso wehren, wie man sich 1989 auf der Straße gewehrt hat. Und es wurde immer wieder sozusagen die Geschichte erzählt, dass man in einer Tradition steht mit den Demonstrationen von 1989, das ist, glaube ich, auch eine Besonderheit des Ostens, die sich nicht so einfach im Süden oder in Westdeutschland kopieren lässt. Und es ging auch von Anfang an um eine Überwindung des politischen Systems und der derzeit Herrschenden. Das war ganz klar von Anfang an ein wichtiger Inhalt auf der Ebene der Aktionsformen. Vielleicht ist noch ein Unterschied, dass man in Ostdeutschland zurückgreifen konnte auf die vielen Demonstrationen, die 2015 schon als asylfeindliche Demonstrationen stattgefunden haben. Und da gibt es eine bestimmte Erfahrung in den Kleinstädten und Dörfern, wie solche Demonstrationen ablaufen, wie mit Polizei umzugehen ist, und so weiter und so fort. Auf diese Erfahrungen konnte man zurückgreifen und dadurch waren an vielen Orten sofort sehr routinierte Demonstrationen möglich. Das ist auf der Ebene der Aktionsformen wichtig. Vielleicht auch noch, dass man von Anfang an wusste, dass man durch Polizeiketten einfach durchgehen kann und man nicht nur, weil die Polizei sich auf die Straße stellt, plötzlich stehenbleiben muss. Da haben sich viele Leute dann immer gewundert, „oh, da sind irgendwie 50-jährige auf der Straße, die laufen einfach durch die Polizeiketten durch“, da waren viele überrascht. Ich war nicht so besonders überrascht, weil wir das schon von 2015/2016 kannten. Ja, das sind so die Punkte, an denen ich das festmachen oder charakterisieren würde, was die Spezifika im Osten waren bei diesen Demonstrationen, neben den vielen Gemeinsamkeiten, die es natürlich auch gibt.
Sabine Demsar: Das klingt ein bisschen so, als wenn die Bewegung da erfahrener ist und etablierter, das höre ich so ein bisschen da raus?
Michael Nattke: Ja, das kann man so sagen. Es ist etablierter und erfahrener in bestimmten Bereichen, also in den Bereichen der Mobilisierung, wie bin ich auf der Straße unterwegs. In anderen Punkten sind natürlich wiederum Eventmanager wie Michael Ballweg wichtig, die haben auf anderen Ebenen viel mehr Kompetenzen als die Pegida-Demonstranten im Osten.
Sabine Demsar: In der letzten Folge haben wir mit dem Journalisten Dietrich Krauss gesprochen, über das Esoteriker-Milieu in Baden-Württemberg. Laut ihm und auch einer Studie der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg über die Quellen des „Querdenkertums“ in Baden-Württemberg spielt das Esoteriker-Milieu eine maßgebliche Rolle in der Bewegung. Ist das in Sachsen auch so? Ich meine, du hast schon ein bisschen was zu den Akteur*innen gesagt und ich habe da raus gehört, dass es da eher andere Akteur*innen gibt.
Michael Nattke: Also die esoterischen Gruppen sind nicht ganz wegzudenken. Vor allem im Jahr 2020, im ersten Jahr der Proteste, war es so, dass die im Osten noch überall mit dabei waren. Das war diese besondere Mischung, neue Allianzen, die geschlossen wurden, dass sich dieses Pegida-Milieu, das Umfeld von Pegida, was ja schon seit 2015 auf der Straße ist, jetzt so ein bisschen vereint hat, auf der Straße zumindest, mit Leuten aus esoterischen Gruppen. Und das hat sich aber ein bisschen geändert, umso mehr dann die rechten Akteure aus der Deckung gekommen sind und offen gezeigt haben, wer sie sind, umso weniger Menschen aus esoterischen Kreisen sind zu diesen Demonstrationen gegangen. Aber das ist nur die Beobachtung auf der Straße. Also es gibt, glaube ich, so zwei Ebenen. Einmal die Demonstrationen auf der Straße, da spielen die esoterischen Gruppen im Osten keine Rolle. Aber dann gibt es da noch diese Diskursebene: wer führt im Hintergrund, in der Alltagswelt der Menschen, die Gespräche und die Auseinandersetzungen zum Thema Corona? Und da spielt natürlich alles, was so esoterisches Milieu ist, eine sehr, sehr bedeutende Rolle, auch im Osten. Die Verbrauchergemeinschaften in Sachsen beispielsweise, also Ökolandbau-Verbrauchergemeinschaften, da gab es riesige Debatten, ob in den Läden jetzt Maskenpflicht ist oder nicht. Und da haben Menschen, die in diesen Gemeinschaften organisiert waren, den Aufstand geprobt, „wir setzen keine Masken auf, wenn wir dort einkaufen gehen“. Und andere wiederum haben gesagt „auf jeden Fall setzt ihr Masken auf“. Es waren harte Auseinandersetzungen. Es gab in Bioläden genau diese Debatten, Maskenpflicht ja oder nein. „Ja, wir haben eine Maskenpflicht, aber nur weil wir es müssen, nicht weil wir davon überzeugt sind“, so war der Tenor in vielen Bioläden. Und wenn man zu irgendeinem Osteopathen gegangen ist, 2020/2021, hat man in der Praxis keine Maske aufgesetzt. Das war auch in diesen Milieus sozusagen klar, „wir verweigern uns diesen staatlichen Maßnahmen“, und so weiter. Das heißt, auf dieser Diskursebene war es,denke ich, sehr vergleichbar mit Süddeutschland und Westdeutschland, aber auf der Straße hat man diese esoterischen Gruppen dann viel weniger gesehen, weil das Pegida-Milieu dort dominant war.
Carmen Romano: Das war dann auch für sie irgendwann mal zu krass, könnte man sagen. Das ist total spannend. Aber jetzt wir sind ja in einer Phase, beziehungsweise, es kommt drauf an, wie die Lage sein wird, wenn die Folge rauskommt, denn wir nehmen im Juli auf, aber gerade sind weniger bis keine Maßnahmen in Kraft. Mit welchen Themen beschäftigt sich dann die Bewegung im Osten gerade? Also wir werden uns auch spezialisiert in den kommenden Folgen damit beschäftigen, mit der Schulfrage undauch welche Rolle Russland und der Krieg in der Ukraine spielt. Aber vielleicht besonders im Osten, was sind da die Themen auf die Straße?
Michael Nattke: Also ich sehe drei große Themen, die in den Milieus gerade diskutiert werden, die in den letzten Jahren gegen Corona-Maßnahmen auf der Straße waren. Das eine große Thema ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine, vermischt mit Verschwörungsideologien darüber, welche Rolle die NATO dort spielt, mit einer klaren Ablehnung von allem, was die NATO-Staaten machen und mit einem ambivalenten Verhältnis zu Russland. Einige dieser Akteure bezeichnen sich selbst gerne als Russlandversteher und sagen dann, „um auch kritisch mit Dingen umzugehen, muss man es ja erstmal verstehen, deswegen sind wir natürlich Putinversteher, Russlandversteher“ und benutzen das gar nicht als Schimpfwort, sondern als eine Art Kompetenz.Und da ist es so, dass dieser Krieg in der Ukraine eine große, wichtige Rolle spielt und eigentlich die Schuld dafür vor allem dem Westen, der NATO, und so weiter, zugeschoben wird und die Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine dann auch als Propaganda des Westens heruntergespielt werden. Allerdings ist dieser Krieg in der Ukraine gerade noch kein richtiger Mobilisierungsfaktor in der Szene. Also man diskutiert darüber in den Telegram-Gruppen, aber es bringt nicht besonders viele Leute auf die Straße.
Es gibt zwei weitere Themen, das eine ist der Klimawandel oder die Klimakrise. In diesen Telegram-Gruppen der Verschwörungsideolog*innen, die entstanden sind in den letzten Jahren, also Telegram-Gruppen mit mehreren TausendUser*innen, da wird immer gesagt, Umweltschutz ist ganz wichtig, „wir finden Umweltschutz gut, weil wir lieben ja unsere Heimat, aber der Klimawandel, das ist eine Erfindung einer Elite, das ist eine Erfindung von irgendwelchen Menschen, die Macht haben, um am Ende uns arme, einfache Leute mit drakonischen Maßnahmen zu unterdrücken und sozusagen in eine Diktatur zu führen“. Das ist die Geschichte, die da erzählt wird und das wird eigentlich die ganze Zeit über schon gespielt auf dieser diskursiven Ebene. Ich könnte mir vorstellen, wenn wir irgendwann an dem Punkt sind in Deutschland, dass wir wirklich mal Maßnahmen flächendeckend durchsetzen, um diese Klimakrise irgendwie aufzuhalten, dass spätestens an diesem Punkt, wenn es bei den Leuten vor Ort spürbar wird, dass das dann ein Mobilisierungsfaktor wird, weil die die ganze Zeit schon mit dieser Ideologie gefüttert werden.
Und das dritte Thema, was ich sehe, ist die Energiekrise und die Energiepreise, natürlich auch in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Aber das ist so, dass da derzeit auch sehr viel Stimmung gemacht wird in den Telegram-Gruppen und in den rechten Gruppen. Und die Gefahr, die ich sehe, ist, wenn im Herbst oder im Winter die Nebenkostenabrechnungen kommen und die Leute schwarz auf weiß sehen, dass sie Geld nachbezahlen müssen für ihre Stromrechnung, für ihr Warmwasser und so weiter,dann, an diesem Punkt, haben wir ein unheimlich hohes Mobilisierungspotenzial auf der Straße. Also Bilder, die ich da vor Augen habe und ich hoffe, ich liege falsch, sind die Leute, die mit ihren Nebenkostenbescheiden vor die Rathäuser ziehen, vor die Parlamente ziehen und sich dort versammeln. Und rechte Gruppen werden diese Proteste dominieren, und die werden dort diejenigen sein, im Osten zumindest, die den Ton angeben. Das ist das, was ich fürchte, was im Herbst und Winter auf uns zukommen könnte, tatsächlich.
Das Besondere, was diese Zeit von Corona geschaffen hat, ist, dass sich unheimlich viele Menschen versammelt haben in einer, ich nenne es Parallelgesellschaft, also praktisch in einer rechten Medienwelt, weil sie die Medien wie beispielsweise die Tagesschau oder die Zeit oder andere, die als Qualitätsmedien bezeichnet werden, da könnte ich noch viele andere aufzählen, verschiedene Zeitungen und Nachrichtensender, die werden von diesen Menschen überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Sie haben ihre eigene Medienwelt, sie haben ihre eigene Informationswelt und sie haben eigene Fernsehsender, eigene Zeitungen, eigene Telegram-Gruppen, irgendwelche YouTuber, die ihnen etwas erzählen. In dieser Welt bewegen sich viele, viele Tausende und dadurch sind sie nicht mehr angewiesen auf Informationen von anders her. Sie sind in ihrer eigenen Parallelwelt und darüber natürlich auch zu bestimmten Punkten mobilisierbar.
Sabine Demsar: Ja, ich hoffe, dass das Bild, das du gerade heraufbeschworen hast, was uns im Herbst vielleicht erwartet, dass das nicht eintreffen wird. Du hast von einfachen Leuten gesprochen. Im Süden, laut der Studie, die ich vorhin erwähnt habe, sind auch sehr viele gutsituierte Akademiker*innen auf die Straße gegangen. Hast du da Einblick, wenn du sagst, die einfachen Leute sind da auf der Straße oder befürchten das? Kannst du das präzisieren?
Michael Nattke: Also mit einfachen Leuten meine ich eigentlich Menschen, die keine besonderen Merkmale haben, sieunterscheiden sich nicht vom Durchschnitt der Gesellschaft. Also es ist tatsächlich so, dass es ganz normale Leute, in Anführungsstrichen, sind, die dort auf der Straße sind, also darunter sind auch Menschen, die studiert haben, natürlich genauso wie Leute, die irgendwelchen anderen Jobs nachgehen. Das ist jetzt kein sozial abgehängtes Milieu, das sind nicht Leute, die irgendwie Hartz IV beziehen oder ähnliches. Nein, das ganz und gar nicht, sondern wirklich Menschen, die einem Beruf nachgehen oder einer Ausbildung und die sich mobilisieren lassen und in diesem Milieu befinden. Also es sind auch Leute, die seit Jahren Kulturangebote wahrgenommen haben und noch in Theater gegangen sind, die praktisch nicht von vornherein schon seit Jahren abgehängt waren. Es ist wirklich, im Osten zumindest, ein Querschnitt der Gesellschaft. Aber das ist ja etwas, was wir auch beobachten können, wenn wir uns anschauen, wer ist bei Pegida mitgelaufen oder wer wählt die AfD im Osten. Auch da ist es ja so, dass das nicht die sozial Abgehängten sind, nicht im überdurchschnittlichen Maße, sondern einfach Menschen, die den sogenannten Durchschnitt der Gesellschaft abbilden. Vielleicht auf der Straße, zumindest ist es da so, dass wenn man auf dasGeschlecht schaut, Männer dominieren, also das fällt schon auf, es sind mehr als zwei Drittel Männer, die dort demonstrieren. Im Osten, bei diesen Demonstrationen in den letzten zwei Jahren war es auch so, wenn Frauen eine Rolle gespielt haben, dann waren es einzelne, die dann praktisch herumgereicht wurden, von Demonstrationsort zu Demonstrationsort. Aber eine gleichberechtigte Ebene auf der Straße von Männern und Frauen habe ich so nicht beobachtet, sondern es waren eher männerdominierte Demonstrationen, auch in der ganzen Organisation waren die Männer zumindest die, die sichtbar waren.
Carmen Romano: Ja, das war total spannend zu hören, dass es den Querschnitt der Gesellschaft abbildet. Mich würde interessieren, warum ist das so, könntest du das präzisieren? Liegt das beispielsweise an einem ausgeprägten Misstrauen in Institutionen, die im Osten vielleicht stärker ist? Oder woran liegt das deiner Meinung nach?
Michael Nattke: Also es hat keine ökonomischen Gründe, meiner Meinung nach, weil die Menschen, zumindest in Sachsen, wenn ich es mir anschaue, die wohnen in guten Häusern, in guten Wohnungen, haben Autos, wenn sie wollen, und fahren in Urlaub. Also es ist ein sehr gutes Leben, was sie führen. Allerdings, was im Osten eine Besonderheit ist, ist die Nichtanerkennung von Lebensleistungen von Menschen, tatsächlich, die in den 1990er Jahren vor allem stattgefunden hat und natürlich noch nachwirkt. Es war ja so, dass in den 1970er und 1980er Jahren, in den letzten 20 Jahre der DDR, die Menschen unter ziemlich harten Bedingungen gelebt und gearbeitet haben und manchmal ihre eigenen Betriebe und das, was sie dort geleistet haben, unter wirklich persönlichen Kraftanstrengungen am Leben gehalten haben, dass der Betrieb noch funktioniert, dass die Produktion noch funktioniert. Und da wurden dann in der ersten Hälfte der 1990er über die Treuhand und andere Gesellschaften ganze Betriebe für 1DM verkauft, verscherbelt, an irgendwelche Investoren, die dann kamen, das wertvolle noch rausgeräumt haben und gesagt haben „hier stilllegen, das bringt sowieso nichts mehr“. Das ist so ein bisschen zugespitzt zu einem Beispiel, das natürlich viele Leute durchgemacht haben, wo sie praktisch für 20 Jahre geleistete Arbeit zu hören bekommen haben „naja, das ist nichts wert. Und übrigens, im Osten ist die Arbeitsmentalität sowieso nicht so besonders, im Westen sind die Leute viel leistungsfähiger“, also lauter so Dinge, die da passiert sind. Das hat einen psychologischen Effekt. Und auch wenn diejenigen, die jetzt auf der Straße sind, das vielleicht nicht selbst erlebt haben, dann haben sie gesehen, dass ihre Eltern das erlebt haben und haben gesehen, was ihre Eltern in den 1990er Jahren dort praktisch an Aberkennung von Lebensleistung erlebt haben. Und es war ja keine gleichberechtigte Zusammenführung von zwei Staaten, sondern Westdeutschland hat das politische System, das es gab, sozusagen auf den Osten übertragen und auch das ökonomische System, und das hat, glaube ich, Spuren hinterlassen. Aber es ist nur eine der Facetten, wenn wir uns darüber unterhalten würden, was sind die Gründe und warum, dann, glaube ich, ist es eine eigene Sendung.
Carmen Romano: Das sprengt vielleicht den Rahmen.
Michael Nattke: Deshalb würde ich jetzt einfach nur diese eine Facette aufmachen. Und es gibt noch viele, viele andere Gründe, die alle ihre Berechtigung haben.
Carmen Romano: Klar. Das ist natürlich dann historisch bedingt und ganz spezifisch für die Lage im Osten. Was könnte man von dem Vergleich zwischen den Bewegungen im Osten und Süden lernen? Sind die beispielsweise miteinander vernetzt? Also gegen Ende der Sendung möchten wir lernen, warum wir uns mit dem Vergleich auseinandersetzen.
Michael Nattke: Ja, was können wir davon lernen? Die Frage finde ich sehr schwierig. Ich bin da selbst noch nicht fertig mit dem Denken. Was im Osten viel deutlicher ist, ist die Vernetzung von diesen Querdenker-Demonstrationen und der rechten Szene. Das stößt im Osten, in der allgemeinen Bevölkerung, auf nicht so großes Unverständnis oder auf nicht so große Ablehnung, wie es vielleicht im Süden und in Westdeutschland passieren würde. Ich glaube, dass man mit Neonazis oder Rechtsextremen zusammen auf der Straße ist, das ist in Teilen von Süddeutschland, Westdeutschland, noch ein No-go. Da sagen viele „nein, das ist für mich eine Grenze, da mache ich nicht mehr mit“. Diese Grenze existiert im Osten leider nicht überall und bei allen in der Form. Insofern können wir lernen, dass es einiges Erhaltenswertes gibt im Süden, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dass das auch so bleibt, dass Leuten klar ist: mit Rechtsextremen gehe ich nicht auf die Straße, da ist für mich eine rote Linie. Und für uns im Osten heißt das, wir müssen weiter daran arbeiten, dass Menschen verstehen, dass man nicht mit Antidemokraten gemeinsame Sache macht. Auch wenn man Kritik am Staat hat, auch wenn man Kritik an Regierenden hat, das ist alles berechtigt und es ist sinnvoll, die auch zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht mit jedem gemeinsam, sondern mit denen, die ein paar Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens als Selbstverständlichkeit ansehen.
Carmen Romano: Klar.
Sabine Demsar: Ja, wir sind gespannt, wie sich das entwickelt. Du hast ja erzählt, dass ihr schon viel Erfahrung habt, auch mit Pegida und anderen Demonstrationen. Wie sehr hat denn diese Bewegung, die Querdenken-Bewegung, eure Arbeit beeinflusst? Gibt es neue Bildungsangebote, die ihr speziell dafür entwickelt habt? Und kannst du etwas darüber sagen, von wem das wahrgenommen wurde?
Michael Nattke: Also das Ziel unserer Arbeit als Kulturbüro Sachsen ist es, in unserem Bundesland, in dem wir tätig sind, die demokratische Gesellschaft zu stärken. Wir arbeiten daher in allererster Linie mit denjenigen Menschen zusammen, die demokratischen Werten offen gegenüberstehen. Und das ist so, dass wir in diesen letzten Jahren, in dieser Coronakrise, wenn wir es so nennen, verschiedenste Formate durchgeführt haben. Wir haben beispielsweise Methoden zur Entscheidungsfindung angewendet, einfach in Workshops, die dann hießen „Entscheidungen in den Zeiten von der Coronakrise“ und haben dann praktisch gemeinsam mit Menschen darüber diskutiert, wie man Entscheidungen eigentlich trifft und wie schwierig es auch ist, eine demokratische Entscheidung unter Druck zu treffen und dass man dabei auch Fehler machen kann. Also das ist so ein Workshop gewesen, den wir sehr oft und sehr viel durchgeführt haben, online und auch in Real Life. Außerdem haben wir natürlich viel Monitoring gemacht, um eine Bewertung vorzunehmen, wer auf der Straße ist. Und dieses Monitoring haben wir dann auch in verschiedenen Analysen veröffentlicht. Und was ganz wichtig ist, was, wenn wir über die negativen Seiten reden, nicht so richtig auffällt: es gibt ja in jedem kleinen Dorf, in jeder Kleinstadt, auch in Sachsen, Leute, die nicht damit einverstanden sind, dass Rechtsextreme in ihren Orten auf der Straße sind. Und die gibt es überall, mit denen haben wir natürlich explizit zusammengearbeitet. Da sind eine ganze Menge von kleinen Initiativen entstanden, von Leuten aus Kirchengemeinden, von Leuten, die vorher noch gar nicht politisch aktiv waren, die dann offene Briefe auf den Weg gebracht haben, bei denen Leute unterzeichnen konnten und gesagt haben „wir sind nicht damit einverstanden, dass hier jeden Montag Leute gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie demonstrieren, wir sind nicht damit einverstanden, dass Rechtsextreme in unserem Ort auf der Straße sind“, und so weiter. Das sind ganz viele offene Briefe gewesen, denn das war so eine Form, sich in der Pandemie zu äußern, ohne Demonstrationen durchzuführen, bei denen man sich selbst auch wieder einem Infektionsrisiko aussetzt. Da waren diese offenen Briefe eine Zeit lang ein guter Weg. Inzwischen gibt es eine zweite Vernetzung von diesen kleinen Initiativen, die wir begleiten, und die sind inzwischen auch dabei, ihre eigenen Themen zu finden. Also weg von dieser Abarbeitung an den Corona-Demos und hin zu, was sind Themen, die wir im Ort mit der Bevölkerung diskutieren möchten? Und insofern ist da auch viel Gutes entstanden, was wir auch weiter begleiten mit unserer Beratungsarbeit.
Carmen Romano: Ja, das finde ich ganz gute Schlussworte für unsere Folge. Vor allem die erste, etwas positivere Antwort, die wir seit dem Beginn unseres Gesprächs gehört haben. Das gibt mir natürlich Hoffnung, denn wir haben heute, abseits davon, über Stereotypen über den Osten zu reden, einen Einblick in die Situation vor Ort gekriegt und vor allem eben dieses Bild von dem Aktivismus vor Ort bekommen. Wir haben gelernt, dass, je höher der Druck ist, die eigenen demokratischen Institutionen zu verteidigen, desto größer und verbreiteter auch ein positiver Aktivismus vor Ort verankert ist.
Vielen lieben Dank, Michael Nattke, für diese spannenden Einblicke aus Sachsen. Vielen lieben Dank auch für deine Arbeit und eure Arbeit, das ist total wichtig. Wir können das wirklich auch als Inspiration nutzen, würde ich sagen. Alle diese Informationen, die du erwähnt hast, werden in den kommenden Folgen auch weiter bearbeitet, vor allem zu den neuen Themen, der Neuausrichtung der Bewegung, da werden wir etwas mehr in die Tiefe gehen. Und ich finde vor allem spannend, was für einenstarken Einfluss die Geschichte auf die heutigen Bewegungen hat, das finde ich sehr wichtig, das nochmal zu betonen. Denn es sind ja nicht alle Rechtsextreme, die mitlaufen, es sind inzwischen auch, in Anführungszeichen, normale Menschen und das ist wichtig, auch deren Motivationen zu hören, damit wir dagegen wirken können. Genau. Ich glaube, das war's für diese Folge, oder?
Sabine Demsar: Ja, das war es für diese Folge. Und wir treffen uns vielleicht nochmal für die anderen Facetten wieder, die du erwähnt hast.
Michael Nattke: Vielen, vielen Dank für die Einladung.
Sabine Demsar: Ja, vielen Dank, Michael. In der nächsten Folge sprechen wir über die Unterschiede der Bewegung zwischen Stadt und Land. Abonniere unseren Podcast unter Petra-Kelly-Stiftung in der Podcast-App deiner Wahl, um immer die neuesten Folgen zu hören. Wir sind Sabine Demsar…
Carmen Romano: und Carmen Romano…
Sabine Demsar: und sagen Tschüss und bis zum nächsten Mal.
Carmen Romano: Ciao.