Antimafia und Migration im Zentrum des Mittelmeeres: Bildungsreise nach Palermo

Ein Bericht über unsere Bildungsreise nach Sizilien. Wir redeten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, sowie Entscheidungsträger*innen über die Rolle von Palermo als Ankerpunkt sowohl der europäischen und italienischen Flüchtlingspolitik als auch der Bekämpfung der Mafia.

Lesedauer: 19 Minuten

Von „Heissen Nächten“ in Palermo – wie im Lied von 1986 der Ersten Allgemeinen Verunsicherung – war nicht die Rede bei unserer gemeinsamen Bildungsreise mit der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg.

Wir gingen über die Stereotype hinaus und schauten, wie diese Stadt tatsächlich tickt: was können wir aus der lokalen Antimafia Bewegung lernen? Welche Praxisbeispiele können uns in Punkto Migration und Integration inspirieren?

Ein Bericht von Lysander Laier

19.05.2024 - Stadtgeschichte von Palermo

Die Bildungsreise zum Thema Migration und den Kampf gegen die Mafia fand vom 18. bis 26. Mai 2024 in Palermo, Sizilien statt. Zur Einführung in die Geschichte von Sizilien begann das Programm am Sonntagvormittag mit einer Stadtführung durch Dr. Anita Bestler.

Die Ethnosoziologin gab einen Überblick über die bis ins achte Jahrhundert vor Christus zurückreichende, bewegte Geschichte von Palermo. Die Stadt wurde durch die Phönizier gegründet und war wegen ihrer Lage im Zentrum des Mittelmeers bereits von jeher ein Ort der kulturellen Vielfalt. Die Herrschaft durch unter anderem die Griechen, die Römer, die Araber, der Normannen und die Spanier im Laufe der Jahrhunderte sind durch historische Bauwerke in verschiedensten Stilen bis heute sichtbar. Die Route führte durch das im zweiten Weltkrieg stark beschädigte und erst in den 1980er Jahre wiederaufgebaute Viertel Kalsa, in dem sich das Haus der Familie des berühmten italienischen Juristen Giovanni Falcone befindet. Der für seinen Kampf gegen die Mafia auf Sizilien bekannte Richter wurde im Jahr 1992 von der Cosa Nostra, die Mafia Organisation auf Sizilien, ermordet. Er gilt bis heute als eine Symbolfigur im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.

20.05.2024 - Anti Mafia Tour & Addiopizzo

Der zweite Tag der Reise begann mit einer Anti-Mafia-Tour durch die Reiseleiterin von Addiopizzo Linda Vetrano. Die Führung startete vor dem Opernhaus von Palermo, das nach über zwanzig Jahren Renovationsarbeit im Jahr 1997 wieder eröffnet werden konnte. Auf der Treppe des symbolträchtigen Ortes im Kampf gegen die Mafia wurde eine Szene aus dem Film „Der Pate III“ gedreht. Außerdem entstand hier im Jahr 2000 die sogenannte „Palermo-Konvention“, das UN-Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, das als völkerrechtlicher Vertrag im Jahr 2003 in Kraft trat.

Als ein wichtiger Vorkämpfer bei der Bekämpfung der Mafia gilt Libero Grassi. Der Unternehmer stellte sich bereits Anfang der neunziger Jahre öffentlich gegen die Mafia, indem er sich weigerte Schutzgeld („pizzo“) zu zahlen und infolgedessen am 29. August 1991 von der Mafia ermordet wurde.

„Libero Grassi wurde zwar von der Mafia umgebracht, aber was ihn wirklich umgebracht hat, war die Gleichgültigkeit der Unternehmer, der Politik, den Gewerkschaften und seinem Umfeld.“, erläutert Linda.

Ab 1992 kam es zu einem Bewusstseinswandel in der palermitanischen Bevölkerung, der hier als „Frühling von Palermo“ bezeichnet wird. Ausgelöst wurde diese Veränderung durch die Morde an den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino im 23. Mai bzw. 19. Juli 1992.

Die Tour führte vorbei an der „Mauer der Legalität“, auf der einige wichtige Persönlichkeiten im Kampf gegen die Mafia gemalt sind. Viele davon haben für ihr Engagement ihr Leben gelassen. Abgebildet sind dort neben den Anti-Mafia-Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino auch Francesca Morvillo, die Frau von Falcone, ebenfalls Richterin und Peppino Impastato, Journalist und Aktivist, der 1978 von der Mafia ermordet wurde. Auch Emanuela Loi ist dort zu sehen. Sie war die erste Frau, die in der Spezialeinheit für Personenschutz arbeitete und kam bei dem Anschlag auf Falcone und Morvillo ums Leben. An der Kathedrale wurde auf die von jeher bestehenden Verbindungen der katholischen Kirche zur Mafia hingewiesen. Aber die Kirche spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Perspektivlosigkeit von jungen Menschen, die als eine der Ursachen für den Weg in die Kriminalität gilt. Padre Giuseppe Puglisi hat deshalb viele Projekte für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien initiiert, um diesen einen anderen Weg für eine Zukunft ohne Mafia aufzuzeigen. Er wurde daraufhin am 15. September 1993 von der Mafia ermordet.

Während des Mittagsessens im „Antica Focacceria & Francesco“ erschien der ehemalige Oberbürgermeister von Palermo Leoluca Orlando. Dieser hatte sich während seiner Amtszeiten von 1985 bis 2000 sowie von 2012 bis 2022 intensiv für die Bekämpfung der Mafia eingesetzt. Außerdem förderte er die Offenheit der Stadt für Migrant*innen. Er verhinderte im Jahr 2019 die Schließung von Palermos Hafen für geflüchtete Menschen, die die italienische Regierung für ganz Italien angeordnet hatte.

„Wenn mich jemand fragt, wie viele Migrant*innen es in Palermo gibt, dann sage ich keine. Weil wer in Palermo ist, ist Palermitaner.“, so der Politiker.

Anschließend fand ein Besuch im Zentrum des Vereins „Adiopizzo“ statt. Die Initiative hat sich dem Kampf gegen die Mafia, insbesondere gegen Schutzgeldzahlungen, verschrieben. Das Hauptquartier von „Adiopizzo“ liegt in einer von der Mafia konfiszierten Wohnung im Viertel Kalsa. Vor Ort berichtete Unternehmer Roberto Cottone von seiner eigenen Geschichte gegen die Mafia. Der Familienunternehmer, der zusammen mit seinen Geschwistern mehrere Pizzerien betreibt, hat sich nach jahrelanger Erpressung und Angst vor der Mafia dieser widersetzt, indem er, während er von zwei Mafiosi bedroht wurde, die Polizei rief. Durch die Anzeige von elf weiteren Mafiosi konnten diese verurteilt und dadurch sogar ein geplanter Mord verhindert werden.

„Irgendwann war das Fass einfach voll.“, begründet der Unternehmer seine damalige Entscheidung. Er betont aber auch: „Mir ging es mit der Bedrohung durch die Mafia jahrelang sehr schlecht. Und das ist ein Thema, mit dem man allein klarkommen muss. Ich konnte die Feiertage nicht mehr genießen, weil ich Angst um meine Familie hatte.“

Addiopizzo unterstützt seit 2004 Unternehmer*innen im Kampf gegen Schutzgelderpressungen der Mafia. Der Verein gründete sich auf Initiative von sieben jungen Menschen, die in einer nächtlichen Aktion die ganze Stadt mit Stickern mit der Aufschrift „Ein ganzes Volk, das Schutzgeld zahlt, ist ein Volk ohne Würde“ übersähte. Die Initiative hat auch einen Siegel für „pizzofreie“ Restaurants entwickelt, das heißt, dass in diesen Lokalen kein Schutzgeld an die Mafia gezahlt wird. Mittlerweile nehmen über ein Tausend Geschäfte und Restaurants daran teil. Addiopizzo leistet außerdem Aufklärungsarbeit in der Bürger*innenschaft über die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in der Bekämpfung der Mafia.

 

21.05.2024 - Besuch im Viertel Danisinni

Am Dienstag fand ein Besuch in einem Gemeindezentrum des Viertels Danisinni statt. Dort berichtete Pippo Morello von seiner caritativen Tätigkeit vor Ort. Er beschreibt Danisinni als ein Viertel, in dem die Menschen von der Politik vergessen wurden. Selbst Palermitaner*innen würden den Ort oft nicht kennen, viele Menschen seien arbeitslos oder arbeiteten in prekären Arbeitsverhältnissen, die Quote der Analphabet*innen sei hoch und gerade jungen Menschen fehle es an einer Perspektive. Durch seine Projekte mit den jungen Menschen möchte er jungen Menschen Hoffnung geben und Perspektiven aufzeigen. Im Rahmen seiner Arbeit wurden unter anderem durch Spenden ein Kindergarten renoviert sowie ein Bauernhof als gemeinnützige Anlage zur Versorgung der Menschen vor Ort eingerichtet. Es sei aber schwierig, finanzielle Unterstützung und Freiwillige zu finden. Trotzdem konnten die Bewohner*innen ihr Viertel mithilfe des Künstlers Igor Danajovski verschönern. Außerdem wurde eine kostenlose medizinische Versorgung vor Ort eingerichtet. Der Staat glänze meist mit Abwesenheit, was zu einer Teilnahmslosigkeit und Politikverdrossenheit innerhalb der Bevölkerung von Danisinni geführt hätte. Doch Morello gibt die Hoffnung nicht auf und konnte erreichen, dass unter anderem der Bildungsstand von jungen Menschen verbessert wurde. Aktuell gebe es ein Ausbildungsprogramm für junge Menschen in handwerklichen Berufen und eine „fliegende Küche“, ein Catering, das neben der Möglichkeit zur Ausbildung auch einige

Arbeitsplätze geschaffen hat.

Vortrag von Dr. Anita Bestler zur Geschichte der Mafia

In einem weiteren Vortrag von Dr. Anita Bestler klärte sie über ihre Untersuchungen und Erkenntnisse zur Entstehung, Entwicklung und aktuellen Funktionsweise der Mafia auf Sizilien auf. Die Autorin eines Sachbuchs definiert die Mafia als politisch geschützte Kriminalität, deren Entstehung bereits in die 1820er Jahre zurückreicht. In der Geschichte der Mafia wird laut Bestler immer wieder deutlich, dass die Mafia der Politik zur Macht verholfen hat und im Gegenzug dazu die Politik die Mafia bei ihren kriminellen Tätigkeiten wie die Bereicherung an öffentlichen Geldern und Aufträgen sowie Straflosigkeit bei sonstigen Verbrechen erhalten.

Sie zitiert dabei Guiseppe de Felice Giuffrida, Politiker der sozialistischen Partei (bis zu seinem Austritt im Jahr 1912) und Journalist: „Die Schande ist nicht die Mafia, sondern die Schande ist die Regierung, die die Könige der Mafia ist.“ Die Mafia sei während der Zeit des Faschismus geschwächt gewesen, doch nach der Befreiung von Sizilien durch die Briten und die USA im Januar 1943 arbeiteten die Amerikaner*innen mit lokalen Mafiastrukturen zusammen, woraufhin viele Mafiosi Bürgermeister wurden. In den 1950ern und 60ern bereicherte sich die Mafia an den mit öffentlichen Geldern finanzierten Infrastrukturprojekten in Süditalien und auf Sizilien und stieg ab den 1970ern in den Drogenhandel, vor allem mit Heroin, ein. Nachdem die städtischen Mafiastrukturen immer wichtiger wurden, fand zwischen 1974 und 1984 der sogenannte „Mafiakrieg“ zwischen ländlichen Mafiaklans und den Mafiafamilien in den Städten statt. Dabei übte die Mafia extreme Gewalt gegenüber der Bevölkerung von Sizilien aus, es kam zu vielen Morden, Gewalt und Schrecken. Das durch die Morde an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino im Jahr 1992 ausgelöste Umdenken in der Zivilbevölkerung, führte zur Gründung von zahlreichen Initiativen, die sich im Kampf gegen die Mafia einsetzen, sowie viele effektive Antimafia-Gesetze woraufhin diese in den Untergrund abtauchte. Heute agiere die Mafia nicht mehr mit massiver öffentlicher Gewalt, sondern heimlicher. Die Strukturen bestehen aber weiterhin und haben massiven Einfluss in der Gesellschaft. Die heutige Mafia sieht Bestler als „Staat im Staat“, der vor allem von ärmeren Teilen der Bevölkerung als Möglichkeit wahrgenommen werden kann, bei Problemen, die vom Staat nicht hinreichend bekämpft werden, eine Anlaufstelle zu finden. Ein Baustein im Kampf gegen die willkürlichen und demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Strukturen der Mafia kann daher in der Schaffung von Perspektiven für benachteiligte Bevölkerungsgruppen - vor allem Jugendlichen - liegen.

22.05.2024 – Fahrt nach Corleone und San Cipirello, Weingut „Cento Passi”

Am vierten Tag der Reise fand eine Fahrt nach Corleone, einer kleinen Stadt im westlichen Zentrum der Insel Sizilien mit ca. 10.000 Einwohner*innen, statt. Corleone wurde durch die Inbezugnahme in dem Film „Der Pate“ berühmt. Dort lebten aber auch die in den 1960ern und 1970ern sehr einflussreichen Mafiabosse Toto Riina und Bernardo Provenzano. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Mafia in ländlichen Regionen besonders stark, expandierte dann aber in den 1960ern in Richtung der Stadt und unterlief die dortigen Mafiastrukturen, unter anderem in Palermo. Die Folge war ein brutaler und blutiger „Mafiakrieg“ zwischen verschiedenen Mafiaklans von Stadt und Land, der insgesamt mehr als ein Tausend Tote forderte. Vor Ort berichtete Marilena Bagarella, Aktivistin im Kampf gegen die Mafia von ihrer Arbeit mit Jugendlichen. Sie ist Teil des Vereins „Libera“, die größte Anti-Mafia-Vereinigung in ganz Italien mit vielen Ortsgruppen, auch im Norden des Landes. Corleone wurde bereits von den Römern begründet. Bereits in dieser Zeit gab mafiaähnliche Absprachen zur Landnutzung. Im Stadtzentrum steht eine Erinnerungsbüste an den Gewerkschafter Bernardino Verro, dem sozialistischen Bürgermeister der Stadt von 1914, der wegen seinem Kampf gegen die Mafia im Jahr 1915 von dieser ermordet wurde. Die Büste wurde von der Bürgermeisterin Lea Savona im Jahr 2015 aufgestellt, die aber später aufgrund ihrer eigenen Verbindung zur Mafia zurücktreten musste. Das zeigte, wie es einfach ist, in die sogenannte „graue Zone“ zu rutschen, wo es schwierig ist, sich absolut von mafiösen Strukturen zu distanzieren.

Im konfiszierten Elternhaus des Mafiabosses Bernardo Provenzano befindet sich heute das „Casa de la Legalità“, das Haus der Legalität, mit einer Ausstellung über die wichtigsten Kämpfer*innen gegen die Mafia ab dem 19. Jahrhundert.

Marilena Bagarella hält die Beschlagnahmung für ein wichtiges Mittel im Kampf gegen die Mafia: „Man macht ihnen damit wortwörtlich den Boden streitig.“

Sie weist auch auf die Armut, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, in dieser Region hin, die einen Nährboden für die Mafia bildet. „In Corleone hatte man drei Möglichkeiten: erstens man stirbt an Hunger, zweitens man wird von der Mafia ermordet oder drittens man wird selbst Mafioso.“

Perspektiven aus der Armut heraus sind auch heute noch ein zentrales Mittel im Kampf gegen die Mafia. Sie selbst engagiert sich deshalb besonders mit einem sozialen Projekt namens „Intus Corleone“ für junge Menschen, das auch mit Schulen zusammenarbeitet. „Was ich den Jugendlichen versuche, klarzumachen, ist, dass sie es sich nicht ausgesucht haben, in welche Familien sie geboren werden, aber sie können sich entscheiden, was sie daraus machen.“ Sie selbst sei mit dem Mafiaklan um Riina, konkret mit seiner Ehefrau, verwandt, was ihr die nötige Empathie für die Jugendlichen und Glaubwürdigkeit schaffe.

Bagarella sieht sich durch ihre Aktivität im Verein „Libera“ selbst als Erzählerin der Geschichte. „Es gibt die Erzählung der Mafia und die der Anti-Mafia, aber es reden immer nur andere Menschen über uns. Wir wollten unsere eigene Stimme haben und unsere eigene Geschichte erzählen. Ich habe mich dafür entschieden, in Corleone zu leben und höre den Menschen vor Ort mit ihren Sorgen und Nöten zu.“

Auch heute seien die mafiösen Strukturen noch stark vorhanden. „Es gibt nicht die schwarze und die weiße Zone, sondern man bewegt sich immer in einer Grauzone und man muss vorsichtig agieren.“ Die „Grauzone“ beschreibt die sozialen Umfelder, die mafiöses Verhalten tolerieren und nicht genau hinschauen. Aktuell herrsche bezüglich der am 9. Juni 2024 anstehenden Bürgermeister*innen-Wahl ein Klima der Angst, die Menschen fühlten sich zu bestimmten Wahlentscheidungen gedrängt.

Im Anschluss fand ein Besuch des Weinguts „Cantina Centopassi“ im Alto Belice Corleonese in San Cipirello statt. Der von einer Genossenschaft geführte Betrieb gehört zu „Libera Terra“, einem Dachverband mit insgesamt neun Genossenschaften. Die Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, von der Mafia konfisziertes Land nachhaltig zu bewirtschaften. Die Genossenschaft produziert auf ca. 75 Hektar Land ihren Wein, der unter dem Namen „Centopassi“ vertrieben wird. Der Name bezieht sich auf den gleichnamigen Film von Marco Tullio Giordana, der dem Anti-Mafia-Kämpfer Peppino Impastato gewidmet ist. Impastato ist selbst in einer Mafiafamilie aufgewachsen, stellte sein Leben aber in den Dienst des Kampfes gegen die Mafia. Der Journalist gründete unter anderem einen Radiosender, bei dem er den lokalen Mafiaboss Geatano Badalamenti verspottete. Der Titel des Films bezieht sich auf die hundert Schritte, die zwischen dem Elternhaus von Peppino Impastato und dem lokalen Mafiaboss lagen.

Die Möglichkeit das von der Mafia beschlagnahmte Güter sozial wiederzuverwenden, wie es unter anderem durch „Libera Terra“ praktiziert wird, geht auf einen Gesetzesentwurf von Pio La Torre zurück. Der Politiker und Gewerkschafter kämpfte zu seinen Lebzeiten neben der sozialen Wiederverwendung von beschlagnahmten Gütern der Mafia auch für die Kriminalisierung der Mitgliedschaft in der Mafia. Daraufhin wurde er am 3. September 1982 von der Cosa Nostra ermordet. Das Gesetz trat aber erst Jahre nach La Torres Tod, am 7. März 1992 in Kraft und erweist sich bis heute als effektives Mittel in der Bekämpfung der Mafia.

Durch eine tagesaktuelle Meldung der Polizei Köln wurde auch der weltweite und insbesondere der deutsche Bezug zur Mafia deutlich. Zusammen mit Europol und Eurojust sowie den italienischen Polizeibehörden hatte die Behörde zwei mutmaßliche Mafiaanhänger festnehmen können, denen Handel mit Betäubungsmitteln vorgeworfen wird. In Deutschland engagiert sich der Verein „Mafianeindanke“ durch Aufklärung und politische Forderungen im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.

23.05.2024 - Vielfalt in Palermo: Stadtführung, Mediterranea Saving Humans und Moltivolti

Am Morgen konnte der Gedenkort für Paolo Borsellino, an dem er am 9. Mai 1992 auf dem Weg zu seiner Mutter von der Mafia ermordet wurde, besucht werden. Heute steht hier ein Olivenbaum, der geschmückt ist mit kleinen Dingen, die Menschen im Gedenken an Borsellino dort anbringen. Auf einem Zettel steht: „Die Mafia fürchtet Bildung mehr als die Justiz.“

Durch die darauffolgenden Stadtführung mit Silvia wurde deutlich, wie multiethnisch die Gemeinschaft von Palermo ist. Die durch den Zweiten Weltkrieg stark beschädigten Viertel der Altstadt wurden nach dem Krieg vor allem von Menschen ohne Aufenthaltstitel besiedelt. Heute leben ca. 20.000 Menschen ohne offizielle Aufenthaltserlaubnis in Palermo, viele davon im Zentrum der Stadt. Die Menschen werden zivilgesellschaftlich unterstützt, unter anderem durch Angebote von Essen, Kleidung und medizinischer Versorgung sowie Sprachkurse. Ein Symbol des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Völker ist die normannisch-arabische Kirche aus dem 13. Jahrhundert, erbaut von Roger dem Zweiten, erster Normannenkönig auf Sizilien, der sowohl die Religionsfreiheit als auch mehrere offizielle Sprachen einführte, aber auch das „Gebetshaus für alle Menschen“. Bei der Durchquerung des Viertels Albergheria, konnte der heute noch als einer der zwei traditionellen Märkte im Stil eines arabischen Suq besichtigt werden. Der „Ballarò“ wird von Menschen aus vielen Orten der Welt betrieben und spiegelt die ethnische Vielfalt, die Palermo von jeher ausmachte, wider. Bei einem Treffen mit einem Zeitzeugen, der 1997 aus Afghanistan geflüchtet ist und seit 2009 in Palermo lebt, erzählt dieser, dass er im Jahr 2014 im soziokulturellen Zentrum „Moltivolti“ einen Arbeitsplatz finden konnte. Mittlerweile hat er sich mit einem eigenen kleinen Restaurant selbstständig gemacht. Anschließend wurde das soziokulturelle Zentrum „Moltivolti“ (= viele Gesichter) besucht. Das Zentrum setzt sich für die Begegnung und den Austausch von Menschen aus verschiedenen Kulturen, sowie die Schaffung von Arbeit für geflüchtete Menschen ein.

Nachmittags findet ein Gespräch mit Giulia Baruzzo von „Mediterranea Saving Humans“ statt. Der Verein widmet sich seit 2018 der privaten Seenotrettung. Mithilfe ihres Schiffes „Mare Ionio“ konnte die Initiative mittlerweile insgesamt 19 ausschließlich durch Spenden finanzierte Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer durchführen. Der Verein leistet neben seinem humanitären Einsatz aber auch durch seine politische Stimme im Kampf gegen das Sterben im Mittelmeer wichtige Aufklärungsarbeit. Immer wieder erfährt der Verein Repressionen, unter anderem in Form von Klageverfahren und sich später als unrechtmäßig herausstellenden Strafgeldzahlungen.

Initiative „Cotti in fragranza“

Abends findet ein Besuch im Restaurant „Bistro al fresco“, einem von der Initiative „Cotti in fragranza“ betriebenen Restaurant, statt. Ziel der Arbeit des Vereins ist es, straffällig gewordene Jugendliche beruflich zu reintegrieren. Zu diesem Zweck ermöglicht die Initiative den teilnehmenden Jugendlichen, bereits im Gefängnis eine Ausbildung zu beginnen. Daran anschließend bietet das von dem Verein betriebene Restaurant die Möglichkeit eines unbefristeten Arbeitsplatzes für die Jugendlichen. Aktuell ist eine Erweiterung des Projekts um ein BnB geplant, bei dem straffällig gewordene erwachsene Frauen arbeiten können sollen.

Die Leiterin des Projektes findet: „Wenn wir nur einen hier raus gerettet haben, dann haben wir schon gewonnen.“

25.05.2024 - Migration und Soziale Umstände, die Initiativen CISS und Handala

Am letzten Tag der Reise findet ein Besuch bei der „Cooperatione Internationale Sud Sud“ (CISS), statt. Ein zentrales Aufgabenfeld der „Internationalen Süd Süd Zusammenarbeit“ ist der Kampf gegen die Ausbeutung von nicht registrierten eingewanderten Menschen durch organisierte Kriminalität. Bis 2018 werden ca. 200.000 migrantische Frauen in Palermo zur Sexarbeit gezwungen. Dabei spielt die Zusammenarbeit von ausländischen Mafiagruppen, unter anderem der nigerianischen organisierten Kriminalität, mit den Mafiagruppen auf Sizilien eine zentrale Rolle. Auch in der Landwirtschaft werden viele nicht registrierte Arbeitende ausgebeutet. Dabei sind Bezahlungen in Höhe von fünf bis zehn Euro pro Tag bei gesundheitsschädlichen Arbeitsverhältnissen üblich, worauf der Verein mit einem kürzlich erschienenen Dokumentarfilm aufmerksam machte. Die Initiative ist eine Anlaufstelle für Menschen aus dem Viertel am Rand der Stadt, die oft in prekären Verhältnissen leben. Es wird unter anderem Kunsttherapie für Kinder, eine medizinische Sprechstunde sowie psychosoziale Beratung für Kinder und Frauen angeboten. Das Zentrum des Vereins liegt seit 2011 in einem von der Mafia bereits im Jahr 1993 beschlagnahmten Gebäude. An diesem Ort wurde einst die Bombe, die für den Anschlag auf Paolo Borsellino genutzt wurde, gelagert. CISS leistet außerdem durch ambulante Dienste konkrete Hilfe vor Ort, indem Fahren von den abgelegenen Betrieben in die Städte organisiert werden, um den Menschen Zugang zu unter anderem medizinischer Versorgung und öffentlicher Infrastruktur zu ermöglichen. Darüber hinaus leistet die Kooperation auch politische Bildungsarbeit, unter anderem zur Sensibilisierung der palermitanischen Bevölkerung zum Thema Migration. Außerdem versucht der Verein durch Kontakt zu den lokalen Institutionen aber auch anderen Ländern diese in die Pflicht zu nehmen. Zentraler Bestandteil der Arbeit ist das Empowerment der Menschen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Der Verein fordert die Beschleunigung der Verfahren zur Aufenthaltserlaubnis und die Ermöglichung von legalen Wegen der Migration nach Europa.

Das letzte Treffen der Reise findet mit dem Verein „Handala“ statt, der Teil des Dachverbands „SOS Ballarò“ ist. Die Initiative ist in den drei in der Altstadt von Palermo liegenden Vierteln Ballarò, Kalsa und Zen mit dem Ziel aktiv, Perspektiven für die Menschen vor Ort zu schaffen. Vor Ort herrscht viel Armut. Die Sozialarbeitenden beschreiben eine Art „Ghettoisierung“, denn die Menschen, die in den Vierteln leben, würden wenig in Kontakt mit Menschen aus anderen Bereichen von Palermo kommen. Um Begegnungsmöglichkeiten von Menschen aus den Vierteln und anderen Vierteln zu fördern, organisiert der Verein jedes Jahr unter anderem einen Sportwettbewerb (das „Mediterraneo Antirazzista“), bei dem Kinder aus verschiedenen Vierteln in Teams zusammenspielen. Außerdem findet jedes Jahr ein Staßenkünstler*innenfestival (Ballarò Buskers Festival) statt, bei dem nicht nur Menschen aus anderen Vierteln von Palermo, sondern auch Tourist*innen in die Viertel kommen. Neben der Begegnung wollen die Mitarbeitenden von „Handala“ die jungen Menschen vor Ort dazu ermutigen und sie dabei unterstützen, ihr Leben selbst zu gestalten. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit vor Ort liegt im Empowerment, vor allem auch von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen. „Wenn wir es schaffen, dass die Jugendlichen nach der Schule arbeiten gehen und nicht direkt in die Kriminalität, dann haben wir schon viel gewonnen.“, so eine der Sozialarbeitenden.

Die Berichte der engagierten Menschen über ihren konkreten Einsatz vor Ort, verdeutlichten den Teilnehmenden die vielen Facetten des Kampfes gegen die Mafia und die Bedeutung von Migration auf Sizilien. Beide Themen seien mit sozialen Aspekten eng verbunden: denn der perfekten Nährboden für mafiösen Strukturen sind Armut und die Abwesenheit des Staates.

 

Vertiefungsmaterial:

  1. Tonaufnahme der Veranstaltung „die Mafia spricht Bayrisch“ (2019): https://www.petrakellystiftung.de/de/media/audio/rueckblick-die-mafia-spricht-bayrisch
  2. Aufnahme der Veranstaltung mit Leoluca Orlando (2020): https://www.petrakellystiftung.de/de/2020/01/25/der-weg-ueber-die-kommunen
  3. Aufnahme Veranstaltung über Geldwäsche in Deutschland (2020 und noch immer aktuell): https://www.boell-bw.de/de/2020/11/17/mafia-bei-uns-deutschland-oase-fuer-geldwaesche
  1. DANISINNI: https://www.deine-korrespondentin.de/zwischen-armut-und-aufbruch/
  2. INTERVIEW MIT ANITA BESTLER "Der bewaffnete Arm der Politik", deutsche Soziologin und Mafia-Expertin vor Ort und ein wirklich wandelndes Lexikon zu dem Thema: https://www.deine-korrespondentin.de/der-bewaffnete-arm-der-politik/
  3. NIGERIANISCHE MAFIA & PROSTITUTION "Vom Flüchtling zur Sexsklavin" https://www.deine-korrespondentin.de/vom-fluechtling-zur-sexsklavin/
  4. MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE: „Die große Mutter von Palermo“ auch eine sehr spannende Frau und ehemalige Kommunalpolitikerin unter Orlando, sehr eng mit ihm verbunden: https://www.deine-korrespondentin.de/die-grosse-mutter-von-palermo/
  5. CORONA-PANDEMIE & SOZIALE ARMUT - ein interessanter Rückblick auf die Zeit der Pandemie, um gewisse soziale Gefilde hier besser zu verstehen und im Kontrast zu Deutschland einordnen zu können: https://www.deine-korrespondentin.de/jagd-auf-masken-und-mahlzeit/
  6. CAPOLARATO – zwar nicht auf Sizilien sondern in Apulien: https://www.deine-korrespondentin.de/schluss-mit-moderner-sklaverei/

Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.petrakellystiftung.de