Der Freiburger Hörfunkreporter Arne Bicker (59) ist seit der Studienzeit leidenschaftlicher Poetry-Jammer und versteht dies, ebenso wie seine mehrfach ausgezeichnete Blues-Radiosendung "Bluesclubradio.de", als willkommenen Ausgleich zu seiner beruflichen Tätigkeit. In der Corona-Zeit enstanden seine Bücher "Schräglage" (ein sehr schräger Urlaubsroman) und "Nofretetes Blues" (ein Band mit Poetry-Texten). Der Text "Ist die Freiheit nur ein Glühwürmchen?" entstand in zeitlicher Verbindung der Stuttgarter Ausschreibung mit einem KI-generierten Foto des niederländischen Post-Photographen Bas Uterwijk. Dieses sehr menschliche Bild der New Yorker Lady Liberty vor Augen schrieb Arne Bicker seinen Text in Wertschätzung dessen, was diese im wahrsten Wortsinn verkörpert: Freiheit, Demokratie, Zukunftsglaube, Kunst.
Arne Bicker | Ist die Freiheit nur ein Glühwürmchen? Interview mit einer alten Dame - Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg
Direkt auf YouTube ansehenIst die Freiheit nur ein Glühwürmchen? Interview mit einer alten Dame
Wir schreiben das Jahr 2024, weltweit geraten Demokratien ins Wanken, werden von innen angefressen von zerstörerischen, rein menschlichen Kräften. Gleichzeitig kämpfen an vielen Orten der Welt andere Menschen verzweifelt um ihre Freiheitsrechte, während wieder andere, die diese längst erkämpft haben, ihrer scheinbar überdrüssig werden und in nicht wenigen Fällen Faschisten, Populisten, Lügner und Hassprediger unterstützen, die eben diese Freiheitsrechte mit Füßen treten. Warum nur? Woher rührt dieser immense Widerspruch? Genau diese Fragen haben wir der weltweit führenden Expertin für Freiheitsrechte gestellt, der in New York City ansässigen Lady Liberty.
Mrs. Liberty, zunächst einmal würden wir gerne wissen: Wie geht es Ihnen?
Naja, was soll ich sagen, die Zehen meines linken Fußes stehen im Freien, das ist einfach furchtbar kalt im Winter. Dazu habe ich einen Dauerkrampf im rechten Arm, gut 600 Mal im Jahr schlägt ein Blitz in mich ein, und mit meinen persönlichen Freiheitsrechten ist es auch nicht weither, denn ich bin hier festgeschraubt und kann nicht mal eben auf einen schnellen Café au Lait in die City.
Für Ihre 138 Jahre und 46 Meter wirken Sie aber noch ganz schön standhaft, wenn wir das so sagen dürfen …
Ja, dürfen Sie. Ich bin ja auch etwas stolz drauf, das gebe ich zu. Mein Vorteil ist: Gustave Eiffel hat mein inneres Korsett aus Stahl zusammengeflochten. Und der versteht halt was von Statik.
Aber erschaffen wurden Sie von einem Bildhauer, Frédéric-Auguste Bartholdi, aus Colmar?
Ja, das stimmt. Der hat mich 1878 in 350 Einzelteile zerlegt und in Kisten über den Atlantik geschickt. Wie Frankensteins Monster wurde ich als Geschenk aller Franzosen in New York wieder zusammengesetzt und in den ersten sechzehn Jahren als Leuchtturm für die Hafenbehörde missbraucht. „Glühwürmchen“ haben sie mich genannt, weil meine Fackel eben nicht die hellste war. Aber wie auch, so kurz nach der Sklaverei?
Na, zum Glück ist die ja jetzt vorbei…
Scherzen Sie? Schauen Sie sich doch mal um: Weltweit gibt es hunderttausende, wirtschaftliche Arbeitssklaven. Und Sie in Deutschland geben Ihren Kindern Millionen Handys und machen sie zu Algorithmus-Sklaven bösartiger Netzwerke, noch lange vor der Volljährigkeit. Von wegen keine Sklaven mehr – ich glaub‘ es hackt!
Äh, wenn Sie das so sagen… Aber was sollen wir denn tun?
Na endlich stellen Sie die richtige Frage. Mein Eindruck ist, dass viel zu viele von Euch Menschenmit der Freiheit gar nicht richtig umgehen können. Ihr vergesst viel zu schnell, wie essenziell diese Freiheit doch ist, für die ich mir hier Tag für Tag den Arsch abfriere. Ihr missbraucht Euch gegenseitig, foltert Euch, bringt Euch um, werft Euch Anführern an den Hals, die alles Mögliche wollen, nur nicht Euer Bestes.
Schon Euer deutscher Schriftsteller Heinrich Böll sagte:
„Wir geben uns zu wenig Rechenschaft darüber, wie viel Enttäuschung wir anderen bereiten.“
Was Ihr also tun sollt? Hört auf mit dem Scheiß. Stärkt die UNO, demonstriert für Frieden überall, ohne Wenn und Aber. Und gestaltet Eure gemeinsame Zukunft konstruktiv auf einem Planeten, den Ihr nicht mehr schamlos ausbeutet.
Hm, das ist leider nicht so einfach.
Aber logisch und einzig sinnvoll. Ihr müsst nur genau hinschauen und handeln. Macht kaputt, was euch kaputt macht – sagt Ihnen das was? Stattdessen erklärt Ihr die Gier zur Todsünde und macht sie zugleich zur offiziellen Haupttriebfeder Eures Handelns. Ja, was denn nun?
Eigentlich wollten wir doch hier die Fragen …
Ja, logo, immer schön blöd fragen und dann die Antworten wegignorieren. Dabei liegt doch alles glasklar auf der Hand. Ihr habt Angst vor dem Teufel, huldigt aber dem Gott eines nie enden wollenden Wohlstands- und Wirtschaftswachstums auf Kosten anderer. Nur mal so als Beispiel: In meine Krone zu klettern, kostet derzeit 24,80 $. Und aus Eurer zentraleuropäischen Sicht erlaube ich mir nochmal Böll zu zitieren:
„Die einzige Drohung, die einem Deutschen Angst einjagt, ist die des sinkenden Umsatzes.“
Ja, seid Ihr blind?
Das ist ein gutes Stichwort: Sie gucken ja schon selbst durchaus etwas streng, finden Sie nicht?
Also, mal ehrlich: Zum Glück ist meine Miene statisch, sonst könnte ich dauernd nur heulen, wenn ich Euch so zusehe. Langsam denke ich, es ist nur reiner Zufall, dass ich nicht wie andere Skulpturen auch ein Schwert in der Hand halte. Ihr stellt mich hier hin und dann vergesst Ihr mich und macht Euch gegenseitig fertig. Super.
Die klar überwiegende Mehrheit der Menschen will und tut das eigentlich nicht. Und es gibt ja auch weltweit gut und gern 200 Kopien von Ihnen, etwa in Paris, in Colmar, auch eine im baden-württembergischen Breisach, zwölf Meter hoch, in der Hafenstraße. Trifft Sie das, so viele Plagiate?
Es trifft mich, dass es so wenige sind. Eigentlich müsste am Eingang eines jeden Dorfes, einer jeden Stadt eine meiner Cousinen stehen. 200? Tssss …
Lady Liberty, Ihr offizieller Name ist „La Liberté éclairant le monde“, englisch „Liberty Enlightening the World“, deutsch „Freiheit, die Welt erhellend“. Ist das denn noch zeitgemäß?
Nö. Also, für mich persönlich würde ich mir endlich mal einen schönen Vornamen wünschen, besser gleich zwei. Als gebürtige Französin fände ich Laetitia-Florence wunderschön: Laetitia-Florence Liberté, Sinnbild für weltweite Hoffnung und Freiheit, die Köpfe aller Menschen erhellend.
Ist also für uns Menschen noch nicht jede Hoffnung verloren?
Nein, keineswegs. Nicht solange es Euch noch gibt. Allein in den 19 Artikeln Eures deutschen Grundgesetzes kommt das Wort Freiheit 20 Mal vor – das finde ich großartig! Außerdem ist echte Freiheit nicht nur grenzenlos, sondern auch grenzenlos teilbar, jedenfalls für all jene, die sie auch ernst nehmen und sich ihrer nicht nur aus egoistischen Motiven mit Gewalt gegen andere bemächtigen wollen. Wie wär’s denn, wenn Ihr da in Deutschland als nächsten Schritt einfach mal einen Buchstaben auf den Kopf stellt?
Welchen denn?
Das W in Wutbürger.
Oh, das ist ein cooler Tipp. Wir bemühen uns. Und herzlichen Dank für dieses offenherzige Gespräch!
Nichts zu danken. Dafür bin ich ja da.Begründung der Jury
Der Text „Mrs. Liberty“ überzeugt durch seine originelle Idee und Herangehensweise. In einem imaginären Interview mit der Freiheitsstatue spricht der Autor über die Herausforderungen, vor denen die Welt steht, insbesondere über den Missbrauch und die Vernachlässigung der Freiheitsrechte. Diese kreative Idee wird sorgfältig recherchiert und humorvoll umgesetzt.
Bemerkenswert ist, wie durch die fiktive Erzählung reale gesellschaftliche Themen angesprochen und verständlich gemacht werden. Der Autor kritisiert den oberflächlichen Umgang mit Freiheit und fordert zu echtem, nachhaltigem Handeln auf. Die Balance zwischen Gesellschaftskritik und Komik ist geglückt, so dass der Text zugleich anregt und unterhält.
„Mrs. Liberty“ ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie Fiktion als Spiegel der Realität genutzt werden kann und beweist, dass anspruchsvolle Themen humorvoll bearbeitet werden können.