Mehmet Daimagüler ist Strafverteidiger und war Nebenklagevertreter im NSU-Prozess. Fast zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und vor dem Hintergrund jahrelanger Bagatellisierung und mangelnder Aufarbeitung rechter Gewalt hinterfragt er, ob wir als Gesellschaft – und als Einzelpersonen – aus dem sogenannten NSU gelernt haben.
Was haben wir aus dem NSU gelernt? Ich wurde gebeten, mit diesem Beitrag diese Frage zu beantworten. Das ist ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen. Schwierig ist nicht nur die Antwort auf diese Frage, sondern schwierig ist überdies die Frage selbst.
Die Frage ist an sich sehr optimistisch, wenn nicht suggestiv: Die Frage nach dem Was setzt ja voraus, dass etwas gelernt wurde. Ist das so? Haben wir gelernt?
Wer aber ist das wir in dieser Frage: Die Menschen in Deutschland? Die Migrant:innen? Die Justiz? Die Medien? Die Polizei? Die Politik? Die Anti-Rassist:innen? Die Geheimdienste? Die Nazis?
Je nachdem, wer gemeint ist, kann man – vorsichtig ausgedrückt – zu durchaus unterschiedlichen Antworten kommen. Eine besondere Herausforderung ist zudem, dass es eben die nicht gibt (mit Ausnahme von die Nazis vielleicht). Jede der genannten Gruppen ist heterogen und die Reaktionen von unterschiedlichen Vertreter:innen auf die Selbstenttarnung des NSU fiel vielschichtig aus: Die einen reagierten mit einem vielsagenden Schweigen, während andere von einer Katastrophe sprachen.
Und kann man wirklich „aus dem NSU lernen“? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Möglicherweise lernt man mehr aus dem polizeilich-politisch-juristischen Umgang mit dem NSU als aus dem NSU selbst.
Schließlich und endlich: Die Frage nach dem gelernt: Was bedeutet das? Bedeutet das, man hat verstanden? Und bedeutet das: Aus dem Verständnis folgt irgendeine Einsicht, die in der Konsequenz in einer Verhaltensänderung mündet?
Fragen über Fragen. Aber der Reihe nach.
Kein Spiegel der Gesellschaft
Vor bald zehn Jahren, am 04. November 2011, hat sich der Nationalsozialistische Untergrund selbst enttarnt. Anderthalb Jahre später begann am Oberlandesgericht München das Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, das im Juli 2018 mit der Verurteilung der Angeklagten endete. Im Zeitraum wurden Kommissionen eingesetzt, Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern nahmen ihre Arbeit auf und präsentierten ihre mal mehr, oft aber weniger gehaltvollen Abschlussberichte mit mehr oder weniger guten Vorschlägen, was in Zukunft anders laufen solle. Hier und da gab es sogar Gesetzesänderungen, wie zum Beispiel der Eingang des Wortes „Rassismus“ in Paragraph 46 des Strafgesetzbuches bei der Frage nach den Strafzumessungsgründen.
Gleichzeitig lief die große Beschwichtigungs- und Rechtfertigungsmaschine von Institutionen an, die mit heruntergelassener Hose erwischt worden waren: Polizeivertreter und deren parteipolitischen Lautsprecher verwahrten sich gegen Begriffe wie „institutioneller Rassismus“. Natürlich, hieß es sofort, die Polizei sei ja ein Spiegel der Gesellschaft und natürlich könne sich auch mal ein Nazi oder ein Rassist in den Polizeiapparat einschleichen, aber diese Fälle würden gnadenlos verfolgt. Ähnlich äußerte sich auch die Bundesregierung in einem Bericht an die UN-Menschenrechtskommission. Rassismus bei der deutschen Polizei? Wie bitte? Wenn, dann sind das alles bedauerliche Einzelfälle, das kommt vor, da kann man nichts machen.
Nein, die Polizei ist nicht „Spiegel der Gesellschaft“. Sie sollte auch kein Spiegel der Gesellschaft sein. Polizist:innen haben Hoheitsbefugnisse, tragen Waffen und Verantwortung. Dass sich Polizeiangehörige an Buchstaben und Geist unserer Verfassung halten, ist das Minimum, das man erwarten muss. Mit Verfassungsfeinden in der Gesellschaft werden wir mehr oder minder leben müssen. Mit Verfassungsfeinden in Uniform müssen wir aber nicht leben, können wir nicht leben und dürfen wir nicht leben. Im NSU-Kontext war klar zu erkennen, dass Polizeibeamt:innen in ganz Deutschland, überall dort, wo gemordet wurde, von Sekunde eins an rassistisch gedacht und rassistisch ermittelt haben. Am Ende wurden aus den Ermordeten keine Opfer, sondern Täter und aus ihren Angehörigen mutmaßliche Kompliz:innen. Da waren keine „Ermittlungspannen“ zu erkennen, sondern ein System: ein System der Niedertracht.
“Postmortales Racial Profiling”
In einer operativen Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württembergs von Januar 2007 heißt es verschwurbelt-pseudowissenschaftlich:
Vor dem Hintergrund, dass die Tötung eines Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.
Dieses Papier ging durch hunderte Hände: bei der Polizei Baden-Württemberg, im Innenministerium des Landes, bei der Polizei in Bayern, in deren Auftrag es geschrieben wurde, bei den Polizeibehörden und Innenministerien der Länder, in denen Menschen mit der Ceska-83, der Signaturwaffe, ermordet wurden. Niemand, nicht ein einziger Mensch, sagte: Moment mal, diese Feststellung spottet jeder kriminalistischen Erkenntnis und mehr noch, sie ist rassistisch, denn wenn das kein Rassismus ist, dann gibt es keinen Rassismus. Noch schlimmer: Auch nach der Selbstenttarnung des NSU hat sich kein Polizeivertreter, kein Polizeigewerkschafter, kein Innenminister hingestellt und gesagt: Wir müssen uns fragen, wieso die Ermittlungen so fatal in die falsche Richtung laufen konnten. Wir müssen über die Bilder in unseren Köpfen sprechen und das Kopfkino insgesamt, das abläuft, wenn ein Opfer nicht „Schmidt“, sondern „Turgut“ heißt. Wir müssen über Racial Profiling sprechen, denn das, was geschehen ist, war ein “postmortales Racial Profiling": Ein toter Türke, Kurde oder Grieche konnte nicht und durfte nicht ein Opfer sein, sondern lediglich ein potenzieller Krimineller. Man orientiert sich und trifft Entscheidungen auf Grundlage des Aussehens und des Namens. Natürlich hätte man, wenn man “postmortales Racial Profiling" im Kontext des NSU thematisiert, über das gegenwärtige und andauernde Racial Profiling unter den Lebenden sprechen müssen, und das ginge dann wohl doch zu weit für so manchen Geschmack.
Vom NSU gelernt? Nein, man kann nicht in aller Aufrichtigkeit die Toten beklagen und gleichzeitig Racial Profiling praktizieren. Daher wird der systematisch angewandte Rassismus bei den NSU-Ermittlungen bagatellisiert, auf Einzelfälle reduziert oder einfach in Gänze bestritten.
Am Ende geht es um Narrative. Welche Erzählung wird sich am Ende durchsetzen? Die der Opfer? Die des Staates?
Theaterstück in drei Akten
Den ersten Aufschlag für das staatliche Narrativ hatte die Generalbundesanwaltschaft vorgelegt und in ihrer Anklageschrift in Buchstaben gegossen: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben eine abgeschottete terroristische Zelle gebildet. Sie sind in den Untergrund gegangen und haben sich nahezu vollständig aus ihrem früheren persönlichen und politischen Umfeld zurückgezogen. Der Kreis ihrer Unterstützer:innen sei auf wenige Vertraute begrenzt gewesen. Ihre wahre Identität und terroristische Zielsetzung seien nur diesen wenigen Vertrauten bekannt gewesen. Für eine Beteiligung ortskundiger Dritter an den Anschlägen des NSU oder einer organisatorischen Verflechtung mit anderen Gruppierungen soll es demnach noch nicht einmal Anhaltspunkte gegeben haben.
Kurz: Der NSU sei zu keinem Zeitpunkt ein Netzwerk, sondern stets eine abgeschottete Vereinigung aus drei Personen gewesen, eben eine isolierte Zelle. Da wir nach unserem Strafrecht für die Bildung einer Terrororganisation mindestens drei Personen brauchen, hatte der Tod von Mundlos und Böhnhardt auch den erfreulichen Nebeneffekt, dass damit auch der NSU Vergangenheit ist.
Das Skript der staatlichen Drehbuchautoren gleicht einem Theaterstück in drei Akten:
Erster Akt: Pleiten, Pech und Pannen. Beruhend auf individuellen Fehlern konnte der NSU erst sehr spät enttarnt werden.
Zweiter Akt: Alles Wesentliche wurde ausermittelt.
Dritter Akt: Etwas wie der NSU kann sich nicht wiederholen.
Jeder dieser Akte ist falsch, und das ganze Stück gleicht einem Schmierentheater.
Es geht eben nicht um singuläre Pannen, sondern um ein Systemversagen, dessen Ursache institutioneller Rassismus ist und die Ignoranz gegenüber rechtsextremen Organisationen. Der NSU wurde auch nicht enttarnt – schon gar nicht von der Polizei – sondern er hat sich selbst entlarvt.
Dass sich eine rassistische Mordserie wiederholen kann, lag schon 2011 auf der Hand. Mehr noch: Bereits 2011 konnte niemand ausschließen, dass rechtsextreme Morde geschehen, ohne dass diese als solche erkannt und anerkannt werden. Pars pro toto sei hier die Ermordung von Burak Bektaş im April 2012 genannt, bei dem vieles für eine rechtsextreme und rassistische Tat spricht. Heute, nach Hanau, nach Halle, nach Walter Lübcke fällt den Ignorant:innen ihre Ignoranz natürlich schwerer, aber sie sind noch da.
Man muss bereit sein, in den Abgrund zu blicken
Man kann nicht aus dem NSU lernen, wenn man nicht bereit ist, in den Abgrund zu blicken, auch auf die Gefahr hin, dass der Abgrund zurückblickt. Man kann nicht lernen, wenn man den eigenen Lügen glaubt. Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wir leben, stellte einst der Schriftsteller Oliver Hassencamp fest.
Die Wahrheit ist: Wir leben mit einer rechtsextremen Bedrohung. Diese Bedrohung gab es zu allen Zeiten in Deutschland nach dem Krieg. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die die staatliche Ignoranz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Migrant:innen, Jüd:innen, Menschen ohne Obdach, LGBTIQ*-Menschen. Solange es Menschen traf, die die Mehrheitsgesellschaft einfach und bequem an den Rand der Gesellschaft drücken oder deren Recht auf Zugehörigkeit zur Gesellschaft insgesamt bestreiten konnte, lebte es sich gut in Deutschland. Dann und wann kam es zu unschönen Ereignissen, über die dann heftig und vor allem kurz debattiert wurde, aber dann ging man wieder zur Tagesordnung über. Hoyerswerda? Solingen? Mölln? Die zehn Toten aus dem Geflüchtetenheim in Lübeck? Lange vergessen. Passierte etwas, wo eigentlich bei aller Kraft ein Rechtsterror nicht übersehen werden konnte, sprang die staatliche Beschwichtigungsmaschinerie an: ein Bombenanschlag auf das Oktoberfest in München mit Toten und unzähligen Schwerstverletzen? Die Tat eines psychisch kranken Einzeltäters. Seine Zugehörigkeit zur Wehrsportgruppe Hoffmann? Tut nichts zur Sache, denn auch diese war ein harmloser Schmarren, erwachsene Männer, die im Wald Räuber und Gendarm spielen.
Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir ein Problem haben. Nicht „nur“ Migrant:innen, Jüd:innen oder linke Aktivist:innen, sondern wir alle. Dazu mussten aber erst Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sterben. Die Reichsbürgerbewegung wurde von Sicherheitsorganen als ein skurriler, aber harmloser Trachtenverein charakterisiert, obgleich Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen schon früh vor extremistischen, antisemitischen und rassistischen Protagonist:innen in dieser Szene warnten. Die Verharmlosung fand erst ein Ende, als schwerverletzte und ermordete Polizist:innen mit Leib und Leben für die Ignoranz Dritter bezahlen mussten.
Die tägliche Hetze mit zum Teil kaum verhohlener Ankündigung von Mord und Totschlag auf extremistischen Internetseiten wie „PI-News“ wurde achselzuckend zur Kenntnis genommen. Es ist kaum zu glauben, aber erst neuerdings werden solche Seiten von Sicherheitsorganen genauer unter die Lupe genommen – allerdings mit ungewissem Ausgang.
Wir leben mit einer rechtsextremen Bedrohung, auch, weil wir einen Sicherheitsapparat haben, der sich leichttut, die Endung -extremistisch anzuhängen, wenn es sich um linke Aktivist:innen oder Migrant:innen handelt. Junge Menschen, die im Hambacher Forst demonstrieren? Linksextremistisch. Menschen, die gegen einen Autobahnausbau demonstrieren? Auch linksextremistisch. In der DNA vieler Sicherheitsbehörden steckt noch viel zu viel eines stramm antikommunistischen Geistes aus der Zeit des Kalten Krieges. Migrant:innen, die sich für oder gegen etwas engagieren, als extremistisch abzustempeln, fällt noch leichter. Wenn man sich so anschaut, wer bis kürzlich an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz stand und man sich anschaut, wo sich der Herr Dr. Maaßen heute tummelt und wie er sich äußert, weiß man nicht, ob man erstaunt sein soll oder nicht. Ich neige zum Letzteren.
Ein Schritt vor und zwei zurück
Erst langsam ändert sich etwas. Verfassungsschutzämter beobachten verstärkt auch rechtsradikale Organisationen. Innenministerien verbieten Nazi-Vereine. Die Bundesanwaltschaft zieht Ermittlungen an sich und klagt Organisationen wie die Old School Society oder die Gruppe Freital an und Oberlandesgerichte in München und Dresden fällen harte Urteile.
Und jedes Mal, wenn man denkt, die Dinge könnten besser werden, kommt Horst Seehofer, der fleischgewordene Tunnel am Ende des Lichts. Nachdem bekannt wurde, dass aus Kreisen der Polizei Morddrohungen gegen eine NSU-Nebenklageanwältin und ihr Kleinkind geäußert wurden, nachdem bei Aktivist:innen aller Couleur (unter anderem auch bei mir) Morddrohungen mit „NSU 2.0“ als Absender eingingen und es auch hier Hinweise gibt, dass dahinter Gesetzeshüter stehen könnten, nachdem jeden Tag ein neuer Einzelfall von rechtsextremen, menschenfeindlichen, antisemitischen Worten oder Handlungen aus Polizeikreisen bekannt wurde und – kurz gesagt – jemand wie der Bundesinnenminister gar nicht mehr wusste, wohin er gucken sollte, um unbeschadet weggucken zu können, erst dann entschloss sich Herr Seehofer zwischenzeitlich eine „Racial Profiling Studie in Polizeibehörden“ in Auftrag zu geben. Ein wichtiger Schritt, gewiss, aber eigentlich ist das „Racial Profiling“ nur ein Teil des Problems, das andere sind schlicht und einfach rassistische Beamt:innen.
Die Frage hier lautet nicht, ob es Rassist:innen in Uniform gibt, sondern lediglich, wie viele es sind. Racial Profiling zu untersuchen, war ja schon einmal ein erster Schritt. Dann aber ging es flugs zwei Schritte zurück. Herr Seehofer meinte plötzlich, diese Studie zu Racial Profiling sei überflüssig, denn, man halte sich fest: Racial Profiling sei ja verboten. Aha. Dann der große Knaller: Die Studie kommt doch, genauer gesagt, nicht die Studie, sondern eine Studie. Jetzt soll der Arbeitsalltag von Polizist:innen untersucht werden, welche Erfahrungen unsere Uniformierten mit Zivilist:innen machen, etwa mit Migrant:innen.
Was hat Herr Seehofer aus dem NSU gelernt? Nicht so viel, nach meinem Eindruck.
Manche Bundesländer haben angekündigt, eigene Studien in Auftrag zu geben, aber das kann nur der Anfang sein. Gesetze, die Rassismus und Racial Profiling Tür und Tor öffnen, müssen geändert oder gestrichen werden. Bewerber:innen für den Staatsdienst, insbesondere für den uniformierten Staatsdienst, müssen genauer unter die Lupe genommen werden. Eine Person, die keine Vorstrafen aufweist, aber montags bei PEGIDA mitläuft, darf nicht Beamter oder Beamtin werden. Beamt:innen, die im Dienst verfassungsfeindlich auffallen, müssen schneller und leichter aus dem Dienst entlassen werden können. Unterricht in Grund- und Menschenrechten, in den Grundlagen unserer Verfassungsordnung und Unterricht über die Grundzüge der Kriminologie müssen nicht nur zu Beginn der Polizeikarriere vermittelt werden, sondern müssen die Beamt:innen obligatorisch über die gesamte Laufbahn hinweg begleiten. Auch muss die psycho-soziale Betreuung der Polizist:innen sichergestellt sein, damit sie besser mit ihren oft schwierigen Alltagserfahrungen umgehen und ihren Berufsalltag in einen Kontext einordnen können.
Was haben wir aus dem NSU gelernt? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich kann sagen, was ich gelernt habe in den bald zehn Jahren, in denen ich mich beruflich wie privat mit dem Thema NSU beschäftige.
Was habe ich aus dem NSU gelernt?
Ich habe gelernt, dass ich, ich persönlich, ein Teil des gesellschaftlichen Versagens war. Ich hatte mit türkischen Freundinnen und Freunden und mit meinen Geschwistern über die Morde gesprochen, wenn wieder einmal etwas dazu in der Zeitung stand. Für uns, für mich, stand ganz klar fest, dass die Mörder Rassist:innen und/oder Nazis sind. Da mussten wir gar nicht groß diskutieren. Etwas unternommen habe ich trotzdem nicht, obwohl ich damals im Bundesvorstand einer Partei saß, die mit zahlreichen Abgeordneten in den Parlamenten vertreten war. Im Bundesvorstand saß auch ein Innenminister aus Nordrhein-Westfalen. Ich habe ihn nicht angesprochen, ich habe niemanden angesprochen und gebeten, auch in Richtung Rassismus zu ermitteln. Ich tat es nicht, ein wenig aus Furcht – nachher stellt sich heraus, dass doch eine türkische Mafia existiert und hinter den Morden steckt. Vor allem schwieg ich aber aus Opportunismus. Ich wollte noch etwas in der Politik werden und über Rassismus zu sprechen, vor allem auch noch als Migrant, hätte mich bei den nächsten Vorstandswahlen Stimmen gekostet. Die Mischung aus ein bisschen Furcht und ganz viel Opportunismus resultierten in meinem ganz persönlichen Versagen. Nicht einmal zu den Demonstrationen in Kassel und Dortmund ging ich, während tausende von Menschen genau dies taten und dabei jene Solidarität zeigten, zu der ich mich nicht aufraffen konnte.
Ich habe gelernt, dass Untätigkeit und unsolidarisches Verhalten irgendwann in einer Mittäterschaft durch Unterlassung münden.
Ich habe gelernt, dass auch ich als migrantischer Mann mit Rassismuserfahrungen zu den Privilegierten gehöre: Ich beherrsche die Sprache, ich kenne das Gesetz, ich habe Verdienst und Sozialprestige. Ich bin ein Mann. Aus dieser Erkenntnis muss aber zwingend resultieren, so viel ist mir klar geworden, dass ich immer wieder aufs Neue mein eigenes Verhalten hinterfrage: Bist du Teil des Problems oder Teil der Lösung, im Kleinen wie im Großen?
Rückblickend kann ich feststellen, dass ich oft genug meinen eigenen Ansprüchen nicht genügt habe, etwa im Umgang mit Frauen oder im Umgang mit Menschen, die vielleicht nicht die gleichen Bildungschancen hatten wie ich. Man lebt nach vorne und versteht nach hinten. So blicke ich zurück mit Scham. Und ich blicke nach vorne mit dem Willen, es in Zukunft anders zu machen und mit der leisen Hoffnung, dass mir das vielleicht gelingt.
Ich weiß nicht, was wir gelernt haben. Ich weiß, was ich gelernt habe. Aber vielleicht muss es so sein. Jede Änderung im Leben beginnt mit dem Blick in den Spiegel, auch dann – vielleicht besonders dann – wenn das Bild, das man sieht, nicht schön ist, oder wenn es mit dem gut gepflegten Eigenbild im Kopf radikal kollidiert. Ich habe gelernt, dass ich in den Spiegel blicken muss. Ich will nicht als Arsch sterben, auch wenn ich mich im Leben oft wie einer benommen habe.