Am Montagabend wurde in den USA überraschend der Urteilsentwurf des konservativen Richters Samuel Alito veröffentlicht, nach dem eine Mehrheit am Supreme Court die Legalisierung von Abtreibungen rückgängig machen will. Ella Müller, Leiterin des Demokratie Programms der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, ordnet diese drohende Zäsur und die dahinterstehenden politischen Entwicklungen ein.
Was bedeutet die Aufhebung von Roe v. Wade für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen und schwangeren Menschen in den USA?
Zunächst einmal ist es wichtig, die rechtliche Argumentation des Urteils im Fall Roe v. Wade zu verstehen, um seine Bedeutung zu erkennen: Das Urteil von 1973 schreibt explizit ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung fest. Erst deutlich später – zu Beginn der 1990er Jahre - wurde dieses Recht modifiziert und Schwangerschaftsabbrüche wieder restriktiver reguliert. Die Richter begründeten ihre Entscheidung in den 1970er Jahren mit einem Recht auf Privatsphäre (right to privacy) und bauten so einen rechtlichen Schutzschirm für zahlreiche Bereiche der privaten Lebensführung weiter aus, die die Einzelstaaten traditionell aufs heftigste reguliert hatten; etwa indem die Bundesländer inter-racial oder gleichgeschlechtliche Ehen unter Strafe stellten oder heterosexuellen Ehepaaren den Zugang zu Verhütungsmitteln untersagten. Erst der Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff der Einzelstaaten durch den Bund, sprach Frauen Anfang der 1970er Jahre die Möglichkeit zu, über ihre Körper selbst bestimmen zu dürfen.
Der nun veröffentlichte Entwurf von Supreme Court Richter Samuel Alito zerstört nach fünf Jahrzehnten diesen Schutzschirm und öffnet all jenen politischen Kräften die Türen, die sich massiv in die private Lebensführung von Frauen und anderen traditionell marginalisierten Menschen einmischen wollen.
Was bedeutet das konkret für Menschen, die eine Schwangerschaft beenden wollen?
In insgesamt 26 republikanisch regierten Einzelstaaten sind bereits Gesetze verabschiedet oder weitgehend vorbereitet worden, die Schwangerschaftsabbrüche selbst im Fall von Missbrauch oder Inzest kriminalisieren. In Texas werden bereits Schwangerschaftsabbrüche nach der 6. Woche strafrechtlich verfolgt und in Alabama soll medizinisches Personal, das Abtreibungen durchführt mit lebenslanger Haft bestraft werden. Diese drakonische Praxis wird durch den Urteilsspruch des Supreme Court, wie er sich nun abzeichnet, legitimiert.
In demokratisch regierten Staaten werden Schwangerschaftsabbrüche weiterhin möglich sein – doch auch hier wird der Zugang zu Kliniken seit Jahren von christlich-fundamentalistischen Gruppierungen erschwert und Menschen, die Unterstützung suchen oder Hilfsangebote bereitstellen eingeschüchtert, belästigt und verfolgt.
Menschen, die bereits jetzt oder in naher Zukunft in ihren Heimatstaaten für Abtreibungen strafrechtlich verfolgt werden, sind gezwungen, sich Hilfe in anderen Staaten zu suchen – das erfordert Ressourcen: Zeit und Geld, Zugang zu Informationen, aber auch körperliche und mentale Kraft, emotionale Unterstützung und vor allem private Autonomie (die Möglichkeit etwa, der Schule oder dem Arbeitsplatz selbstbestimmt fern zu bleiben etc.). Nichts davon ist selbstverständlich. Über den eigenen Körper bestimmen zu können, hängt damit in Zukunft in den USA von zahlreichen Privilegien ab, die ökonomisch Schwache, marginalisierte Menschen oder Frauen in patriarchalischen Familiensituationen nicht haben. Plus: Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass Menschen in ihren Heimatstaaten auch für Abbrüche strafrechtlich verfolgt werden, die außerhalb der Landesgrenzen stattgefunden haben – so sieht es etwa das Gesetz in Texas bereits vor.
Wie wird die amerikanische Zivilgesellschaft auf diese Entscheidung reagieren: Wird es Proteste geben und was können sie ausrichten?
Ich hoffe es und tatsächlich wird momentan bereits vor dem U.S. Supreme Court und vor zahlreichen Landesparlamente in den USA demonstriert. Das Entsetzen und die Wut über diesen Urteilsentwurf ist groß.
Aber die Mobilisierung des liberalen Lagers ist schwierig, wenn die eigene Partei den Präsidenten stellt und die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses hält. Gegen wen sollen sich die Proteste auf der Straße richten: Gegen den Supreme Court, auf dessen Zusammensetzung die amerikanischen Bürger*innen nur indirekt Einfluss haben? Gegen die Republikaner, die in Washington in der Opposition sind? Erfolgreicher Protest braucht aber eine Stoßrichtung und ein target. Nun deutet sich an, dass die Wut und die Enttäuschung über diesen ungebremsten Abbau von Demokratie sich zunehmend auch gegen die politische Führung der Demokraten richten.
Die letzten Massenproteste in den USA waren der Women’s March im Januar 2017 unmittelbar nach der Amtseinführung von Donald Trump und die antirassistischen Proteste in Reaktion auf die Ermordung von George Floyd im Sommer 2020, als sich erstmals auch zahlreiche Weiße der #BlackLivesMatter-Bewegung anschlossen. Das progressive Amerika war während der Trump-Zeit im Widerstand, hat protestiert und schließlich einen neuen Präsidenten gewählt.
Die politische Situation ist heute eine andere: Die Kraft, die es braucht, um Grundrechte aller Amerikaner*innen zu verteidigen, kann in diesem Moment nicht wieder allein von der Straße ausgehen – die Verantwortung liegt bei der demokratischen Führung. Aber es ist ein Problem, dass zu viele einflussreiche Demokraten weiterhin an dem Glauben festhalten, die Bedrohung der amerikanischen Demokratie ginge allein von Trump aus und nicht von der konservativen Bewegung als Ganzes. Die letzten 1,5 Jahre haben gezeigt, dass eine leichte nominelle parteipolitische Mehrheit allein nicht reicht, um die amerikanische Demokratie zu sichern: Es braucht größere Mehrheiten und vor allem auch den unbedingten politischen Willen, strukturelle Reformen durchzusetzen.
Es gibt - zum Glück - eine Reihe an Strategien und konkreten Maßnahmen, mit denen fundamentale Bürgerrechte wie auch das Wahlrecht nun geschützt werden können und müssen: Eine Reform des Supreme Court und die Modifizierung des Filibuster – um nur zwei Schritte zu nennen, die seit langem diskutiert werden und die nur umsetzbar sind, so lange die Demokraten noch die Mehrheit im Kongress halten.
Das Urteil in dem Prozess Roe v. Wade ist 1973 gefallen, vor knapp 50 Jahren. Wie konnte es passieren, dass ein Verfassungsrecht auf einmal wieder entzogen werden kann?
Es gibt langfristige politische Verschiebungen und ungeplante Ereignisse, die im Zusammenspiel zu dieser Entscheidung hingeführt haben. Die wichtigste historische Entwicklung ist die Politisierung und Entliberalisierung der Christian Right ab den 1970er Jahren. Noch in den 1950er Jahren hielten die meisten Evangelikalen den Kampf gegen Verhütungsmittel und Abtreibungen für eine Spinnerei der Katholiken. Ronald Reagan war es, der den Kampf gegen Roe v. Wade schließlich Mitte der 1980er Jahre in das Programm der Republikanischen Partei aufnahm und sich damit die Stimmen der radikalisierten Christian Right sicherte. Seitdem machen die GOP und konservative Organisationen wie die Federalist Society keinen Hehl aus ihrem Anliegen, die Liberalisierungen der 60er und 70er Jahre rückgängig zu machen. Unter Trump hat die konservative Bewegung ihren Einfluss auf das Justizsystem auf allen Ebenen massiv ausgebaut und den Kampf gegen Selbstbestimmungsrechte von Frauen zum wichtigen Einstellungskriterium erhoben.
Und es gibt politische Fehler und Zufälle, die eine Entscheidung, wie sie Alito formuliert, erst möglich machen: Die Unfähigkeit der Obama-Administration 2016, den Supreme Court Platz des verstorbenen Scalia neu zu besetzen; der Tod von Ruth Bader Ginsburg und die Berufung von Amy Coney Barrett im Herbst 2021. Trump hat drei Plätze am Supreme Court mit radikalen christkonservativen Richter*innen neu besetzt und die Machtverhältnisse im Supreme Court so auf Jahrzehnte nach rechts verschoben – nur grundlegende Reformen können den Abbau von Bürgerrechten und Demokratie jetzt noch stoppen.
Supreme Court Richter Samuel Alito schreibt in seinem Urteil, dass „das Recht auf Abtreibung nicht in der Geschichte der amerikanischen Nation und ihrer Tradition verankert sei“. Auch die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen wurde durch den Supreme Court entschieden und folgte in dem Fall Obergefell v. Hodges einer ähnlichen rechtlichen Logik wie Roe v. Wade. Alito behauptet nun, dass die Aufhebung von Roe keine Konsequenzen für andere Grundrechte habe. Sollten wir trotzdem damit rechnen, dass konservative Richter*innen auch andere Rechte, wie etwa die Ehe für Alle, wieder zurücknehmen?
Hier sollte man zwei Dinge unterscheiden: Zunächst stimmt es, dass Alito tatsächlich die Rücknahme des right to privacy mit dem Schutz des „ungeborenen Lebens“ legitimiert und in seinem Dementi darauf verweist, dass dies in anderen Bereichen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe entsprechend nicht gelte.
Aber das Argument, dass etwas nicht tief in der amerikanischen Geschichte und Kultur verankert und deshalb illegitim sei, wird von Alito in seiner Urteilsbegründung explizit auf progressive Errungenschaften wie die gleichgeschlechtliche Ehe bezogen. Diese Argumentation, die eine Mehrheit der Richter*innen am Supreme Court teilt, ist politisch reaktionär, argumentativ willkürlich, vor allem aber in ihrem Anspruch fundamentalistisch.
Hier ist er sich mit den Meinungsführern der Republikanischen Partei einig, die diese Position gerade erst wieder bei den Anhörungen von Ketanji Brown Jackson unterstrichen haben: Das politische Ziel ist die Wiederherstellung der traditionellen politischen und kulturellen Machtverhältnisse aus der Zeit vor der Civil Rights Ära. „If Roe falls, it’s hard to see what else will still stand”, schrieb die Jura Professorin Kimberly Wehle 2021 im Atlantic – und ich denke, sie hat recht. Man darf den Fundamentalismus der konservativen Bewegung in den USA nicht unterschätzen.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de