Libanon: "Wenn eine Gesellschaft kollabiert, werden die Schwächsten angegriffen."

Interview

Drei Jahre sind seit der Explosion im Beiruter Hafen 2020 vergangen. Abraham Zeitoun, libanesischer Grafikdesigner, fordert, dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Im Interview berichtet er von einem kollabierenden Staat und von einer Gesellschaft, die immer wieder alternative Lösungen findet.

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Abraham Zeitoun

Hannah El-Hitami: In Ihrem Kapitel „Erinnerung an die Zukunft – Andenken an Beirut“ beschreiben Sie nur schemenhaft, wie Sie die Explosion im Hafen 2020 erlebt haben. Fühlen Sie sich unwohl darüber zu sprechen?



Abraham H. Zeitoun: Nein, ich fühle mich wohl darüber zu sprechen und finde, dass Leute das öfter tun sollten. Ich habe das Gefühl, dass niemand mehr darüber reden möchte. Die Menschen im Libanon wollen immer nur nach vorne schauen. Es gibt dauernd neue Probleme, die sie beschäftigen und die die alten Ängste verdrängen. Sie sind mit den alltäglichen Problemen beschäftigt: dass es keinen Strom über die staatlichen Netze gibt, dass der Strom privater Generatoren teuer ist, dass die Währung abstürzt, dass alles so teuer geworden ist, dass sie Arbeit suchen oder es an Nahrungsmitteln mangelt. So viele Menschen sind heute arm, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick sieht. Sie wollen einfach nur über die Runden kommen. Sehr selten spricht jemand darüber, dass die Verantwortlichen für die Explosion zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Dabei muss es Gerechtigkeit für die geben, die jemanden verloren haben oder selbst traumatisiert sind. Aber das hat es in diesem Land ja noch nie gegeben.

Wie erlebten Sie die Explosion?

Ich war im Mai 2019 von Berlin zurück nach Beirut gezogen. Ab Oktober 2019 wurde die wirtschaftliche Lage im Land schlechter. Massenproteste brachen aus, die es in diesem Ausmaß lange nicht gegeben hatte. Dann beendete die Pandemie die Proteste, aber die Lage im Land blieb unsicher. Am Tag der Explosion war es sehr heiß. Es gab nur wenige Stunden am Tag Strom, daher funktionierte die Klimaanlage nicht. Ich weiß noch, dass kurz vor 18 Uhr der Strom wiederkam, und mein Partner und ich beschlossen ein Nickerchen zu machen. Unsere Katze legte sich zu uns. Interessanterweise sprang sie schon ein paar Sekunden, bevor es passierte, vom Bett. Um 18:07 begann das Zimmer zu vibrieren. Dann explodierte einfach alles. Scherben und ganze Fensterscheiben brachen in die Wohnung. Draußen hörte man Menschen schreien und es war ein wahnsinniger Lärm, der mir noch wochenlang in den Ohren blieb. Das ganze Gebäude wankte durch das Erdbeben, das die Explosion ausgelöst hatte. Wir rannten auf die Straße und da war alles voller Menschen. Oben an der Hauptstraße sahen wir diese unglaublich riesige orange-rosane Wolke. Das waren die brennenden Chemikalien. Relativ schnell verstanden wir durch die sozialen Medien, dass es am Hafen passiert war.



Was hat sich durch diese Erfahrung für Sie verändert?

Für mich persönlich kann ich sagen – und es geht bestimmt vielen anderen so –, dass dieses Ereignis wirklich die Wahrnehmung meines Lebens in dieser Stadt, diesem Land geändert hat. Wir können uns hier überhaupt nicht sicher fühlen. Wir können anscheinend nicht einfach hier leben, ohne ständig damit zu rechnen, dass uns etwas umbringen könnte. Die Chemikalien waren seit Jahren dort gelagert, und das war vielen Leuten bekannt. Direkt nach der Explosion verließ ich Beirut und ging mit meinem Partner nach Frankreich.



2019 gingen hunderttausende Menschen im ganzen Libanon auf die Straße, um gegen die korrupte politische Elite zu protestieren. Wie fühlte sich das damals an und wie blicken Sie jetzt darauf zurück?

Es fühlte sich an, als wären plötzlich Veränderungen möglich, als wäre sie unvermeidbar und als könnten wir sie gestalten. Die Menschen eroberten den öffentlichen Raum zurück. Die Gesellschaft arbeitete zusammen. Menschen aus verschiedenen Regionen und sozialen Milieus kamen zusammen. Plötzlich wurde viel mehr Arabisch gesprochen statt Englisch oder Französisch. Für viele von uns war das sehr emotional. Und dann beendete die Pandemie auf einen Schlag alles. Jetzt im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass wir vielleicht ein bisschen naiv waren. Ich fühle mich, als wären wir hintergangen worden. Wenn überhaupt noch jemand dem Staat vertraut hat, dann ist dieses Vertrauen mit der Explosion 2020 verschwunden. Aber auch das Vertrauen in uns als Gesellschaft, dass wir etwas verändern können, ist weg. Man fühlt sich hilflos und ohnmächtig.



Viele junge Menschen aus dem Libanon sind in den vergangenen Jahren ausgewandert. Sie selbst leben heute zwischen Beirut und Paris, haben sich also weder ganz entschieden zu gehen noch zu bleiben. Welche Faktoren beeinflussen diese schwierige Entscheidung?

Ich bin ganz klar privilegiert, weil ich in Australien geboren bin und einen australischen Pass habe. Mein Partner hat einen französischen Pass und ich habe dort eine Aufenthaltserlaubnis. Die meisten Menschen im Libanon haben hingegen den libanesischen Pass, der zu den schlechtesten weltweit zählt. Wer verreisen oder auswandern möchte, muss einen langen Prozess durchlaufen. Man muss Geld haben, aber durch die Inflation haben viele Menschen in den letzten Jahren ihre gesamten Ersparnisse verloren oder können nicht darauf zugreifen. Wie sollen sie für die Ausreise bezahlen? Wo sollen sie hin, was sollen sie arbeiten, wie ein neues Leben anfangen? Neuerdings versuchen immer mehr Menschen aus dem Libanon über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Das gab es vorher nicht. Aber natürlich wollen auch nicht alle Menschen weg. Es hängt davon ab, ob man das Geld hat im Libanon zu leben, ob man Arbeit hat und ob man seine Kinder dort großziehen will oder nicht.



Sie sind in Australien geboren und erst mit acht Jahren in den Libanon gezogen. In ihrem Text schreiben Sie, dass Beirut damals Ihr Spielplatz war. Heute sei die Stadt hingegen feindselig, zerstört durch Korruption, Kapitalismus und konfessionelle Konflikte. Woran machen Sie das fest?

Beirut ist heute völlig entstellt. Der Immobilienmarkt hat die Stadt zerstört. Sie ist konstruiert und unecht. Die, die das Land regieren, schützen ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen. Seit 1990 haben wir keine 24 Stunden am Tag Strom, und das in einem winzigen Land und nach Milliarden Krediten, die wir zurückzahlen müssen. Das ist Korruption. Das Geld fließt woandershin. Es gibt so viele Beispiele. Der Strand gehört nach dem Gesetz der Allgemeinheit. Aber Investoren blockieren ihn mit Hotels und Ressorts und man muss viel Geld bezahlen, um reinzukommen. Etwas, das öffentlich sein sollte, wird privat, für die Reichen und deren Freunde. Vor ein paar Tagen las ich einen Spruch im Internet: Es ist nicht so, dass das System kaputt ist und repariert werden muss. Sondern das System funktioniert genauso wie es soll, doch es muss zerstört werden. Genauso sehe ich das im Libanon.



Sie sprechen sehr kritisch, fast resigniert, über die Entwicklungen im Libanon. Gibt es auch Lichtblicke?

Ich mag, dass es nie monoton ist. Es ist eine chaotische Gesellschaft, wo unterschiedlichste Menschen in einem sehr kleinen Land zusammenleben. Wir im Libanon haben uns immer mit anderen arabischen Ländern verglichen und gesagt: wir haben viel mehr Freiheit, zu sagen was wir wollen, auszusehen wie wir wollen. Selbst LGBTIQ-Rechte gibt es in einem gewissen Maße. Aber während andere Länder sich weiterentwickeln, entwickeln wir uns leider zurück.



Auch im Bereich LGBTIQ-Rechte?

Definitiv. Die Behörden gehen gegen Veranstaltungen vor, und auch medial wird gegen diese Gruppe Stimmung gemacht. Das ist typisch für autoritäre Regime. Marginalisierte Gruppen sind leicht anzugreifen, und die Mächtigen tun das sehr gerne, wenn sie von anderen Problemen ablenken wollen. Wenn eine Gesellschaft sich im Kollaps befindet, dann werden die Schwächsten angegriffen. Auch der Rassismus gegen Syrer:innen hat sich im Land massiv verstärkt.



Aber zurück zu den positiven Aspekten.

Es gibt nur kleine positive Entwicklungen, aber auch die muss man unterstützen. In den letzten Jahren sind so viele Kollektive und Initiativen entstanden, die sich um Nachhaltigkeit, Ernährungssicherheit oder soziale Unterstützung kümmern. Als es zu wenige Medikamente gab, haben Libanes:innen im Ausland Koffer mit Arzneimitteln organisiert, die sie ins Land gebracht haben. Andererseits ist es problematisch, dass der Staat diese Aufgaben nicht übernimmt. Im Libanon funktioniert nichts, daher gibt es für alles alternative Lösungen. NGOs übernehmen grundlegende Aufgaben wie die Versorgung mit Wasser, Strom, Bildung. Das ist bizarr und kann ewig so weitergehen, ohne dass es eine wirkliche Lösung gibt.



Sie schreiben, dass Sie stolz darauf sind ein Ketzer zu sein. Was meinen Sie damit?

Im Libanon flucht man sehr viel in der Öffentlichkeit. Das kann auch oft blasphemisch sein. Blasphemie gehört zur Gesellschaft dazu. Während der Proteste wurde sehr viel gegen bestimmte Personen in der Regierung geflucht. Und dann gab es plötzlich Stimmen, die sagten, das sei unangemessen und wir sollten unsere Kritik eloquent ausdrücken. Ich denke, das ist Bullshit. Ich finde nicht, dass wir gegenüber Personen, die unser Leben bedrohen, eloquent sein müssen. Wenn ich sage, dass ich ein Ketzer bin, meine ich, dass es mir egal ist, ob ich vulgär bin. Gesellschaftliche Normen sind wichtig, damit wir nicht die Rechte unserer Mitmenschen verletzen. Aber abgesehen davon sollten Leute einfach sagen, was sie denken und fühlen, anstatt sich zu verstecken.

Das Interview mit Abraham H. Zeitoun führte Hannah El-Hitami - freie Journalistin in Berlin mit dem Schwerpunkt Westasien/Nordafrika, Migration und Völkerrecht.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de