Europäische Staats- und Regierungschefs treffen sich am 1. Juni in der Republik Moldau zu einem zweiten Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Zwar wächst die Unterstützung für die europäische Integration im Land, dennoch bleibt die Gesellschaft gespalten in ihrer Haltung gegenüber Russland. Ein Interview mit Mihail Sirkeli, politischer Analyst und Herausgeber von nokta.md.
Es scheint, die ukrainische Verteidigung der Region Odessa gegen die russischen Angriffe hat auch die Republik Moldau davor bewahrt, direkt in diesen Krieg hineingezogen zu werden. Fühlen Sie sich nun sicher in Moldau?
Mihail Sirkeli: Nun ja, aus militärischer Sicht fühlen wir uns sicher. Die Ukraine beschützt uns. Es scheint also, dass keine unmittelbare Gefahr eines Einmarsches russischer Truppen in Moldau mehr besteht - abgesehen von denen, die bereits auf dem Territorium der Republik Moldau, also im besetzten Gebiet Transnistriens, stationiert waren und sind. Solange die ukrainische Armee auf dem Schlachtfeld erfolgreich ist, wird Moldau vor einer russischen Militärinvasion sicher sein.
Und ist die moldauische Regierung in der Lage, das Land vor anderen Formen russischer Aggression wirksam zu schützen?
Nehmen wir das Beispiel der jüngsten Wahlen in der autonomen Region Gagausien in Moldau. Der Vorsitzende der Shor-Partei, die diese Wahlen gewonnen hat, Herr Ilan Shor, steht unter internationalen Sanktionen und wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Aber leider kann er immer noch in der moldauischen Politik aktiv werden. Jetzt beginnt er, Bürgermeister zu korrumpieren, operiert mit Geldern der organisierten Kriminalität und wird von Russland zur Destabilisierung der Republik Moldau eingesetzt. Diese Form der Destabilisierung macht mir am meisten Sorgen, das ist die größte Bedrohung für mich. Kaum jemand versteht die Gefahr, die von diesem Kerl ausgeht. Und die moldauische Regierung scheint nicht über die Instrumente zu verfügen, um ihn aufzuhalten. Ich meine damit nicht die Unterbindung der regionalen Wahlen – das könnte den Süden der Republik Moldau destabilisieren. Doch es gilt, Instrumente zu finden, um die illegalen Geldflüsse zu stoppen, die Shor hier zur Umsetzung seiner politischen Vorhaben nutzt.
Ein weiterer Aspekt der Destabilisierung sind Desinformationskampagnen, die von Russland ausgehen. Wie kommt es, dass diese so gut funktionieren?
Leider ist der Informationsraum Moldaus überhaupt nicht geschützt. Daher hat die Regierung einige Maßnahmen ergriffen, um den Zugang russischer Propaganda zu verhindern. Die russische Desinformation profitiert von der liberalen Gesetzgebung und von der Nutzung der Meinungsfreiheit, um die Meinungsfreiheit und die Demokratie zu untergraben. Die Regierung zog Lizenzen von sechs Fernsehsendern zurück, die russisches Fernsehen ausstrahlten. Aber dieses russische Fernsehen hat dann in der Republik Moldau andere Partner zur Ausstrahlung gefunden, ganz zu schweigen vom Internet und den sozialen Medien, die in der Republik Moldau von der russischen Propaganda dominiert werden und einen großen Einfluss nicht nur auf die russischsprachigen Zielgruppen, sondern teilweise auch auf Rumänischsprachige haben. Dies ist ein Problem für die Republik Moldau.
Sie betreiben ein russischsprachiges Internet-Informationsportal, nokta.md. Wie würden Sie also die Schwierigkeiten für unabhängige Journalistenprojekte wie Ihres charakterisieren? Warum ist es so schwierig, im Informationsbereich ein Gegengewicht herzustellen?
Politisch und rechtlich ist es kein Problem, unabhängige Medien in der Republik Moldau zu betreiben, selbst in Gagausien ist es kein Problem. Die Schwierigkeit ist, dass es an Journalist*innen und Ressourcen mangelt. Wir tun unser Bestes. Aber man kann gegen die russische Propaganda eben nicht mit nur einer einfachen Website ankommen. Es reicht nicht aus, Nachrichten und Textberichte zu schreiben. Wir benötigen einen vollständigen, qualitativ hochwertigen Inhalt und auch genügend Masse. So könnte es eine Chance geben, ein Gegengewicht zur russischen Propaganda zu schaffen. Bisher können wir dies nicht gewährleisten. Sogar lokale öffentlich-rechtliche Rundfunkprogramme werden von lokalen Partnern der Shor-Partei in Gagausien quasi gekapert, so dass sie diesen regionalen öffentlich-rechtlichen Sender als Instrument für aggressive pro-russische und pro-kriegsorientierte Propaganda nutzen. Um ein Gegengewicht zu schaffen, müssen die Regierung und der Rat für audiovisuelle Medien zunächst einmal den Missbrauch dieser öffentlichen Ressourcen stoppen. Und zweitens müssen wir einen Weg finden, lokale Medien wie unsere zu stärken, um die Möglichkeit zu haben, mehr Inhalte in verschiedenen Formaten zu produzieren, also das gesamte Spektrum an Medieninhalten, die von den lokalen Verbrauchern konsumiert werden.
Neben Gagausien gilt auch das separatistische Gebilde Transnistrien als Instrument der russischen Destabilisierung.
Überraschenderweise bleibt Transnistrien mehr als ein Jahr nach Beginn der umfassenden Invasion ruhig. Eigentlich hatten wir erwartet, dass von Transnistrien die größte Bedrohung für die Sicherheit Moldaus ausgehen würde. Den meisten Lärm erzeugt Gagausien. Es scheint, die Russen wollen zeigen, dass die moldauische Regierung nicht das gesamte Gebiet kontrolliert, auch nicht das rechte Ufer des Flusses Dnistr. Moldauische staatliche Institutionen wie die Staatsanwaltschaft sind in der Region schwach und die Kompetenzverteilung ist unklar. Viele Journalisten, die nach Moldau kommen, wollen zunächst nach Transnistrien, dem „traditionellen“ Unruheherd. Sie berücksichtigen jedoch nicht, dass Gagausien für die Republik zum ernsteren Problem geworden ist.
Wenden wir uns mehr der sozioökonomischen Situation im Land zu. Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas. Das Land leidet unter hoher Inflation und der Energiepreiskrise. Wie hat Moldau diesen Schock bisher überstanden?
Die Regierung bewältigt die Krise recht gut. Tatsächlich befand sich Moldau in den letzten zwei Jahren, seit die proeuropäische Regierung an die Macht kam, in einer ständigen Krise – die Pandemie, Sicherheit, Energie und mehr. Mit der Unterstützung der Europäischen Union und der internationalen Partner konnte die Regierung den Menschen ausreichend Hilfestellungen leisten, so dass sie ihre Rechnungen für Heizung, Gas und Strom decken konnten. Aber gleichzeitig müssen wir verstehen, dass diese Desinformation aus Russland tatsächlich das Vertrauen in die Bemühungen der Regierung zur Bewältigung dieser Krisen untergraben hat. Noch immer glauben viele Menschen, beeinflusst von der russischen Propaganda, dass die eigene Regierung nur Russland bzw. Putin kontaktieren müsste, um sich auf einen niedrigeren Preis für das Gas zu einigen.
Und wie sieht es mit der Perspektive für die EU-Mitgliedschaft aus? Gibt es etwas, das Vertrauen in eine erfolgreichere Entwicklung gibt?
Den Umfragen zufolge wächst die Unterstützung für die EU-Integration und viele zuvor eher pro-russisch orientierte Menschen unterstützen nun die EU-Integrationsperspektive. Allerdings hatten wir die größte Unterstützung für die EU-Integration, als die Kommunistische Partei im Jahr 2005 an der Macht war. Aber damals war es keine wirklich bewusste Entscheidung, viele Menschen folgten einfach den Slogans der Kommunistischen Partei. Als sich die Kommunistische Partei sich dann aber wieder auf Russland orientierte, sank die Unterstützung für die EU in der Republik Moldau schnell auf nur noch 30 bis 40 Prozent. Jetzt, nach der umfassenden Invasion, verstehen viele Menschen, dass Russland auf internationaler Ebene tatsächlich kein guter Partner ist, sondern eine große Bedrohung für die Region darstellt. Und sie treffen diese Entscheidung zugunsten der EU-Integration bewusster. Dennoch müssen wir verstehen, dass die Republik Moldau immer noch sehr gespalten ist und es vor allem diese eine Trennlinie gibt, nämlich die Haltung gegenüber Russland: Ein Teil der Gesellschaft betrachtet Russland und Putin als Eindringling, der andere glaubt, Putin wäre ein Befreier. Und diese Spaltung ist derzeit das größte Problem und die größte Bedrohung für die Republik Moldau.
Der bevorstehende Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft wird von einigen als kostspieliges Unterfangen für Präsidentin Sandu kritisiert, das die Regierung eher von der Lösung der wirklichen Probleme ablenkt. Sehen Sie einen Mehrwert für Moldau und für die moldauische Regierung durch die Ausrichtung des Gipfels? Wie wird es wahrgenommen?
Für die Wählerschaft von Maia Sandu, die Menschen, die tatsächlich eine EU-Integration wollen, ist der Gipfel ein großes, wichtiges Signal, dass die Republik Moldau nicht allein ist und auf ihrem Weg in die EU Unterstützung von internationalen Partnern erhält. Jeder erwartet, dass Moldau eines Tages EU-Mitglied wird, und aus dieser Sicht ist es ein starkes Signal der Unterstützung nicht nur für das Land, sondern auch für die Präsidentin Sandu selbst und für die Regierung.
Das Interview mit Mihail Sirkeli, politischer Analyst und Herausgeber von nokta führte Robert Sperfeld, Heinrich-Böll-Stiftung.
Redigierte maschinelle Übersetzung aus dem Englischen.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de